Leitsatz (redaktionell)

Ein Rechtssatz des Inhalts, daß der Versicherungsschutz entfällt, wenn der Versicherte sich erhöhter Gefahr aussetzt und dadurch zu Schaden kommt, wird nicht anerkannt; vielmehr kommt es in Fällen bewußter Gefahrenerhöhung entscheidend darauf an, ob der selbstgeschaffene Gefahrenbereich noch wesentlich der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist. Dies ist bei einem besondere Gefahren heraufbeschwörenden Verhalten auf Wegen nach oder von der Arbeitsstätte grundsätzlich der Fall, wenn ein solches grobfahrlässiges Verhalten allein dem Bestreben entspringt, das Ziel des Weges rascher zu erreichen (vergleiche BSG 1957-12-10 2 RU 270/55 = BSGE 6, 164, 169; BSG 1961-02-28 2 RU 226/57 = BSGE 14, 64, 67; BSG 1962-03-30 2 RU 32/61 = SozR Nr 53 zu § 542 RVO aF).

 

Normenkette

RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1943-03-09

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 30. Oktober 1963 wird aufgehoben.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt vom 12. Oktober 1962 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Fuhrmann Gottfried V (V.), Ehemann der Klägerin, war bei einer Frankfurter Speditionsfirma beschäftigt. Sein Weg nach und von der Arbeitsstätte führte über den Fußgängersteig auf der Main-Neckar-Brücke, die dem Bundesbahnverkehr der Strecke Frankfurt - Darmstadt dient. Am 22. Dezember 1961 brachte V. nach Arbeitsschluß das Fuhrwerk im Stall seiner Firma in der G.-straße … unter; von hier aus hätte er den Brückensteig durch die Eisenbahnunterführung Gutleutstraße erreichen können. Zur Abkürzung überquerte er jedoch den Bahnkörper; dabei wurde er gegen 17.40 Uhr von einem nach Frankfurt Hbf. einfahrenden Eilzug erfaßt und tödlich verletzt. Im Polizeibericht hieß es, ein Unglücksfall sei zu verneinen, da nicht angenommen werden könne, daß V. die am Geschehensort liegenden zahlreichen Gleise überschritten habe; denn in unmittelbarer Nähe befinde sich die Bahnunterführung Gutleutstraße. Der polizeiliche Verdacht auf Selbstmord wurde jedoch durch Ermittlungen im Betrieb nicht bestätigt. Die Beklagte lehnte den Entschädigungsanspruch der Witwe durch Bescheid vom 17. Mai 1962 mit der Begründung ab, der Weg des V. über die Bundesbahngleise habe insofern eigenwirtschaftlichen Zwecken gedient, als damit eine Verkürzung des Heimwegs und Zeiteinsparung bezweckt worden seien. Der Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit sei durch das vernunftwidrige Verhalten, wobei sich V. in eine selbstgeschaffene Gefahr begeben habe, gelöst worden.

Auf die Klage der Witwe hat das Sozialgericht (SG) Frankfurt am 12. Oktober 1962 die Beklagte verurteilt, den Unfall vom 22. Dezember 1961 zu entschädigen; Zwar sei das Betreten des Schienenkörpers vernunfts- und verbotswidrig gewesen, auch sei V. einer selbstgeschaffenen Gefahr erlegen. Dies allein reiche aber zur Verneinung des Entschädigungsanspruchs nicht aus. Vielmehr müsse ein betriebsfremdes eigenwirtschaftliches Vorhaben hinzutreten, welches erkennen lasse, daß der Versicherte andere Zwecke als nur die Zurücklegung des Heimwegs verfolge, wie z. B. Veranstaltung von Wettfahrten und dgl. Etwas Derartiges sei aber hier nicht ersichtlich. Bloße Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung, insbesondere - wie im vorliegenden Fall - Abkürzungen des Heimwegs zur schnelleren Erreichung der Wohnung bewirkten keine Lösung vom Betrieb. Das Überqueren einer verkehrsreichen Straße in Frankfurt bei rotem Ampellicht und fließendem Verkehr sei wesentlich gefährlicher als das Überschreiten von Bahnkörpern. Die Versuche der Rechtsprechung, die sehr weitgehende Vorschrift des § 542 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF nach willkürlichen Maßstäben einzuengen, seien unbefriedigend und führten zu Rechtsunsicherheit. Bis zu einer Änderung dieser Vorschrift könnten nur solche Unfälle von der Entschädigung ausgeschlossen werden, die bei eindeutig eigenwirtschaftlicher Betätigung während des Heimwegs - wie z. B. Spielerei, Neckerei, Wettfahrten - entstanden seien. All dies sei hier nicht gegeben.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 30. Oktober 1963 die Entscheidung des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen: V. habe offensichtlich, da keine Anhaltspunkte für einen geplanten Freitod vorlägen, den Heimweg abkürzen wollen, indem er den Bahnkörper überschritt, um auf der anderen Seite der Gleise dann den Heimweg fortzusetzen. Durch sein Verhalten habe er den inneren Zusammenhang des Heimwegs mit der versicherten Tätigkeit unterbrochen. Das denkbar leichtsinnige und in jeder Beziehung vernunftwidrige Überschreiten der Gleise habe eine selbstgeschaffene Gefahr bedeutet. Entscheidend hierfür sei, daß die Bahnstrecke an der Unfallstelle viergleisig verlaufe und bekanntlich, besonders in den späten Nachmittagsstunden, sehr erheblichen Zugverkehr auf sämtlichen Gleisen aufweise. Weiter sei zu berücksichtigen, daß es im Unfallzeitpunkt bereits dunkel gewesen sei; bei Dunkelheit sei aber erfahrungsgemäß kaum oder nie zu erkennen, wie weit ein herannahender Zug noch entfernt sei und vor allem, mit welcher Geschwindigkeit er sich nähere. Zwar beseitige verbotswidriges Verhalten nicht ohne weiteres den Versicherungsschutz. Abgesehen vom Verbot des Überschreitens von Eisenbahngleisen an nicht hierfür vorgesehenen Stellen sei die Situation im vorliegenden Fall aber doch wesentlich anders, als wenn ein Fußgänger eine Straße überquere, obwohl durch die Signalregelung ein Überschreiten zeitweilig verboten sei; denn dabei handele es sich doch immer noch um die Benutzung eines Verkehrsweges, der dem Fußgängerverkehr grundsätzlich zum Überschreiten zur Verfügung stehe. Insofern unterscheide sich der hier zu entscheidende Sachverhalt vom Tatbestand des BSG-Urteils vom 17. Juli 1958 (SozR RVO § 543 aF Nr. 10); denn in jenem Fall sei ein Weg vorhanden gewesen, der zwar verbotswidrig, aber doch immerhin benutzt werden konnte. Im vorliegenden Sachverhalt habe dagegen ein vorsätzliches vernunftwidriges Verhalten des Verunglückten vorgelegen, für das kein Versicherungsschutz bestehe. - Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 21. Dezember 1963 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 16. Januar 1964 Revision eingelegt. Am 12. Februar 1964 hat sie die Revision wie folgt begründet: Zwar möge V. sich beim Überschreiten der Gleise grob vernunftwidrig und damit schuldhaft verhalten haben; darin könne jedoch eine Lösung vom Betriebe deshalb nicht erblickt werden, weil keine anderen Motive als die Zurücklegung des Heimwegs dargetan seien. Es komme nicht darauf an, ob es sich um die Benutzung eines allgemein dem Fußgängerverkehr gewidmeten Verkehrsweges oder um eine sonst gegebene Möglichkeit der Fortbewegung handele; der vom LSG angenommene Unterschied zum Tatbestand des BSG-Urteils vom 17. Juli 1958 bestehe nicht. Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Frankfurt zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und betont besonders den ihrer Meinung nach hier anwendbaren Gesichtspunkt der selbstgeschaffenen Gefahr.

II

Die Revision ist statthaft und zulässig. Sie hatte auch Erfolg, da die vom LSG angeführten Gesichtspunkte des grobvernunftwidrigen Verhaltens und der selbstgeschaffenen Gefahrerhöhung nicht ausreichen, um für V. im Unfallzeitpunkt den Versicherungsschutz nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF auszuschalten.

Das LSG hat aus dem festgestellten Ermittlungsergebnis gefolgert, Anhaltspunkte für einen geplanten Freitod des V. lägen nicht vor, vielmehr habe er lediglich zur Abkürzung seines Heimweges den Bahnkörper überschritten, um auf der anderen Seite der Gleise seinen Weg von der Arbeitsstätte nach Hause fortzusetzen. Dieser Sachverhalt, an den das Revisionsgericht gebunden ist (§ 163 SGG), erlaubt nicht die vom LSG hieran geknüpfte rechtliche Beurteilung. Zwar ist dem LSG darin beizupflichten, daß das Verhalten des V., der statt der gefahrlosen Eisenbahnunterführung den Weg über den stark befahrenen Schienenstrang wählte, von einem Leichtsinn zeugt, wie er bei einem Mann dieses Lebensalters eigentlich schon unverständlich ist. Dieser Umstand für sich führt indessen noch nicht zur Lösung des in § 543 RVO aF vorausgesetzten ursächlichen Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit. Da nach dem festgestellten Sachverhalt V. den Bahnkörper nicht betreten hat, um dort bewußt den Tod zu suchen, und da ferner irgendwelche betriebsfremden Anlässe für sein grobfahrlässiges Verhalten - z. B. eine Wette, Mutprobe oder dergl. - nicht erkennbar sind, bleibt als alleinige Erklärung für sein den Unfall herbeiführendes Tun nur sein Bestreben übrig, den Heimweg abzukürzen. In einem solchen Fall wird der Versicherungsschutz nicht beseitigt (vgl. SozR RVO § 543 aF Nr. 10). Auch auf den Umstand, daß der Bahnübergang an dieser Stelle nicht für Fußgängerverkehr vorgesehen war, also keinen allgemeinen Verkehrsweg darstellte, kommt es - entgegen der Auffassung des LSG - nicht entscheidend an, da "Weg" i. S. des § 543 RVO aF nicht als eine dem Verkehr gewidmete Straße, sondern als "Fortbewegung" auf ein bestimmtes Ziel hin zu verstehen ist (vgl. SozR aaO, Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 3 zu § 550 RVO nF). In diesem Sinne kann nicht bezweifelt werden, daß V. sich beim Überschreiten der Gleise in Richtung seiner Wohnung fortbewegt, also im Unfallzeitpunkt einen Weg von der Arbeitsstätte zurückgelegt hat. Auch der - vom erkennenden Senat stets nur mit größter Vorsicht gehandhabte - Begriff der selbstgeschaffenen Gefahrerhöhung ist nicht geeignet, den Versicherungsschutz für V. zu versagen, da es auch hierbei des Hinzutretens betriebsfremder Motive bedarf. Ein Rechtssatz des Inhalts, daß der Versicherungsschutz entfällt, wenn der Versicherte sich erhöhter Gefahr aussetzt und dadurch zu Schaden kommt, wird nicht anerkannt; vielmehr kommt es in Fällen bewußter Gefahrerhöhung entscheidend darauf an, ob der selbstgeschaffene Gefahrenbereich noch wesentlich der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist. Dies ist aber bei einem besondere Gefahren heraufbeschwörenden Verhalten auf Wegen nach oder von der Arbeitsstätte grundsätzlich der Fall, wenn ein solches grobfahrlässiges Verhalten allein dem Bestreben entspringt, das Ziel des Weges rascher zu erreichen (vgl. BSG 6, 164, 169; 14, 64, 67; SozR RVO § 542 aF Nr. 53).

Auf die begründete Revision der Klägerin war somit das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das im Ergebnis zutreffende Urteil des SG zurückzuweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380214

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