Entscheidungsstichwort (Thema)
Berechnung des Altersruhegeldes aus der Angestelltenversicherung. Berücksichtigung von Zeiten politischer Verfolgung
Orientierungssatz
1. Bei Renten, die nach den Vorschriften des AVG in der Fassung des AnVNG vom 23.2.1957 zu berechnen sind, sind für Zeiten nationalsozialistischer Verfolgung, die nach § 28 Abs 1 Nr 4 AVG als Ersatzzeiten anrechenbar sind, keine Steigerungsbeträge zu gewähren; an deren Stelle tritt vielmehr bei Versicherungsfällen in der Zeit von 1957 bis 1965 allein die Anrechnung der Ersatzzeit bei der Ermittlung der Anzahl der anrechenbaren Versicherungsjahre (§ 35 AVG).
2. Bei sinngemäßer Anwendung der Vorschriften des § 4 Abs 4 und 5 NVG sind die Verfolgungszeiten höher zu bewerten, wenn der Verfolgte glaubhaft macht, daß er während der Ersatzzeiten einen höheren Arbeitsverdienst als den sonst anzurechnenden gehabt hätte oder daß er als Verfolgter ein Arbeitsverhältnis habe eingehen müssen, durch das seine Rente geringer geworden ist, als sie beim Weiterbestehen seines letzten Arbeitsverhältnisses vor dem Wechsel gewesen wäre.
Normenkette
AVG § 35 Fassung: 1957-02-23, § 28 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23; NVG § 4 Abs. 4-5; RVO § 1258 Fassung: 1957-02-23, § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 18.11.1965) |
SG Darmstadt (Entscheidung vom 23.07.1964) |
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. November 1965 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Beteiligten streiten im Revisionsverfahren noch darüber, wie die Zeiten der politischen Verfolgung des Klägers bei der Berechnung seines Altersruhegeldes zu berücksichtigen sind.
Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) wurde für den Kläger die Zeit vom 1. September 1933 bis 31. August 1945 als Verfolgungszeit anerkannt und im Pensionsbescheid der Versorgungskasse für Beamte der Gemeinden und Gemeindeverbände in Darmstadt berücksichtigt. Die Beklagte bewilligte dem Kläger das Altersruhegeld aus der Rentenversicherung der Angestellten vom 1. Dezember 1962 an, rechnete aber ursprünglich die Zeit der politischen Verfolgung nicht an (Bescheid vom 16. Januar 1963). Sie hielt unter Hinweis auf § 4 Abs. 7 des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung (NVG) vom 22. August 1949 (WiGBl S. 263) eine gleichzeitige Versorgung beamtenrechtlicher und sozialversicherungsrechtlicher Art (Doppelversorgung) nicht für gerechtfertigt und die beamtenrechtliche Versorgung insoweit für vorrangig. Der Kläger hingegen war der Meinung, § 4 Abs. 7 NVG sei auf Grund der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze (Art. 3 § 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - AnVNG - in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -) nicht mehr anwendbar. Er begehrte deshalb die rentensteigernde Anrechnung der Verfolgungszeit auf das Altersruhegeld.
Das Sozialgericht (SG) Darmstadt verurteilte die Beklagte, die Zeit vom 1. April 1933 bis 8. Mai 1945 zusätzlich entweder als Ersatzzeit anzurechnen (soweit nicht bereits Pflichtbeiträge angerechnet worden sind) oder - falls dies für den Kläger günstiger sei - unter Ausfüllung der Pflichtbeitragslücken mit Beiträgen der Klasse D zur Angestelltenversicherung (AnV) und Aufstockung der vorhandenen Pflichtbeiträge auf die Klasse D zur AnV einen neuen Bescheid zu erteilen (Urteil vom 23. Juli 1964). Das Hessische LSG wies - unter Zulassung der Revision - die Berufung der Beklagten zurück. Die Beklagte habe bei der Rentenberechnung die Zeit der politischen Verfolgung des Klägers zu berücksichtigen. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in der Entscheidung vom 16. September 1960 - 1 RA 74/59 - (BSG 13, 65) einem politisch Verfolgten wegen dessen besonderer Rechtsstellung Steigerungsbeträge aus zwei Rechtsgründen, nämlich aus Verfolgung und Kriegsdienst, für denselben Zeitraum zuerkannt, obwohl tatsächlich nur der Kriegsdienst abgeleistet worden sei. Ähnlich müsse auch der Beamte behandelt werden, der - wie hier der Kläger - aus seinem Beamtenverhältnis entlassen und mit unterbewerteter sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung seinen Lebensunterhalt bestreiten mußte. Ein Grundsatz, daß eine Doppelentschädigung immer ausgeschlossen sei, bestehe nicht, wie auch das Urteil des BSG vom 9. September 1965 - 4 RJ 325/64 - (BSG SozR Nr. 4 zu § 16 des Fremdrentengesetzes - FRG -) zeige (Urteil vom 18. November 1965).
Die Beklagte legte Revision ein mit dem Antrag,
die Urteile des LSG und des SG insoweit aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 16. Januar 1963 abzuweisen, als die Beklagte verurteilt wurde, falls dies günstiger sei, unter Ausfüllung der Pflichtbeitragslücken mit Beiträgen der Klasse D zur AnV und Aufstockung der Pflichtbeiträge auf Klasse D zur AnV einen neuen Bescheid zu erteilen.
Das angefochtene Urteil beruhe auf der unzutreffenden Anwendung von § 4 Abs. 3 NVG. Die Revision sei auch geboten, weil sich bei der vergleichenden Berechnung herausgestellt habe, daß die Rente, bei der die Verfolgungszeit mit Werteinheiten angerechnet worden ist, höher liegt als diejenige, bei der die Verfolgtenzeit lediglich als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG angerechnet wird.
Der Kläger beantragte
die Zurückweisung der Revision.
Nach seiner Meinung liegt ein Tatbestand nach § 4 Abs. 4 und 5 NVG vor. Die Minderbewertung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung müsse auch dann berücksichtigt werden, wenn die Entlassung aus dem öffentlichen Dienst beamtenrechtlich berücksichtigt werde.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Entgegen der Auffassung des SG und des LSG kann der Kläger nach den bisher getroffenen Feststellungen nicht verlangen, daß bei der Berechnung seines Altersruhegeldes die Beklagte die als Verfolgungszeiten anerkannten Zeiten vom 1. April 1933 bis 8. Mai 1945 - falls dies für ihn günstiger ist als die Anrechnung dieser Zeiten nach §§ 28 Abs. 1 Nr. 4 und 35 AVG - in der Weise berücksichtigt, daß die Pflichtbeitragslücken mit Beiträgen der Klasse D ausgefüllt und die vorhandenen Pflichtbeiträge auf die Klasse D aufgestockt werden. Dieser - alternativ erfolgten - Verurteilung der Beklagten haben das SG und das LSG ersichtlich die Vorschrift in § 4 Abs. 3 NVG zugrunde gelegt. Hier ist, was nach dem früher geltenden Recht die Höhe der Steigerungsbeträge für die anrechenbaren Verfolgungszeiten anbelangt, bestimmt, daß sie sich nach dem letzten vorher bescheinigten Arbeitsverdienst, mindestens jedoch nach der Gehaltsklasse D richten. Diese Vorschrift kann aber im Falle des Klägers, bei dem der Versicherungsfall im Dezember 1962 eingetreten ist, nicht angewandt werden. Wie das BSG wiederholt und mit eingehender Begründung entschieden hat, sind die Vorschriften in den §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 bis 3 und Abs. 7 NVG nicht mehr anzuwenden, soweit die Rente - wie dies beim Kläger geschehen ist - nach den Vorschriften des AVG idF des AnVNG vom 23. Februar 1957 zu berechnen ist (Urteile vom 9. Mai 1967 - 1 RA 295/65 -; vom 31. Mai 1967 - 12 RJ 80/66 -; vom 29. Juni 1967 - 4 RJ 633/64 - und vom 6. Juli 1967 - 5 RKn 72/64 - = SozR Nr. 8, 9, 11 und 12 zu VerfolgtenG Allg. vom 22. August 1949; ferner Urteil vom 29. November 1967 - 4 RJ 12/64 -; vgl. auch Rauschenbach in "Die Angestelltenversicherung" 1967 S. 277). Bei solchen Renten sind für Zeiten nationalsozialistischer Verfolgung, die nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG als Ersatzzeiten anrechenbar sind, keine Steigerungsbeträge zu gewähren; an deren Stelle tritt vielmehr bei Versicherungsfällen in der Zeit von 1957 bis 1965 allein die Anrechnung der Ersatzzeit bei der Ermittlung der Anzahl der anrechenbaren Versicherungsjahre (§ 35 AVG). Soweit das LSG von der gegenteiligen Rechtsauffassung ausgegangen ist, muß das angefochtene Urteil aufgehoben werden, nachdem sich herausgestellt hat, daß die Rente, bei der die Verfolgungszeit mit Werteinheiten der Gehaltsklasse D angerechnet werden soll, höher ist als die Rente, bei der die Ersatzzeiten nur für die Anzahl der anrechenbaren Versicherungsjahre berücksichtigt sind.
Indessen hat sich in der Rechtssprechung des BSG - insbesondere im Hinblick auf die von der Bundesrepublik Deutschland im Vierten Teil des Vertrags zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandenen Fragen vom 26. Mai 1952 - Überleitungsvertrag idF der Bekanntmachung vom 30. März 1955 (BGBl 1955 II 301, 405, 431) übernommene und durch Zustimmungsgesetz vom 24. März 1955 (BGBl II 213) bestätigte Verpflichtung zur angemessenen Entschädigung der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung - die Auffassung durchgesetzt, daß unabhängig von dem Außerkrafttreten des § 4 Abs. 3 NVG die Vorschriften in den Absätzen 4 und 5 des § 4 NVG sinngemäß weiterhin anzuwenden seien (vgl. die o.g. Urteile des 4. und 5. Senats sowie Rauschenbach aaO und Jantz-Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, Anm. 4 zu § 1251 RVO, teilw. a.M. Krasney, RzW 1967, 481 ff). Nach diesen Vorschriften sind die Verfolgungszeiten höher zu bewerten, wenn der Verfolgte glaubhaft macht, daß er während der Ersatzzeiten einen höheren Arbeitsverdienst als den sonst anzurechnenden gehabt hätte oder daß er als Verfolgter ein Arbeitsverhältnis habe eingehen müssen, durch das seine Rente geringer geworden ist, als sie beim Weiterbestehen seines letzten Arbeitsverhältnisses vor dem Wechsel gewesen wäre. Ein solcher Fall - Sachverhalt nach § 4 Abs. 4 oder 5 NVG - liegt beim Kläger möglicherweise vor, denn das LSG sagt in den Gründen des angefochtenen Urteils ausdrücklich, der Kläger habe während der Verfolgungszeit unterbewertete Arbeit leisten müssen. Jedoch hat das LSG hierzu keine näheren Feststellungen getroffen (was es von seinem Rechtsstandpunkt aus auch nicht zu tun brauchte); es hat weder ermittelt, welche Beiträge für den Kläger - wenn sein früheres Arbeitsverhältnis in der Zeit nach März 1933 als versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis weiterbestanden hätte - abgeführt worden wären, noch ausdrücklich festgestellt, inwieweit seine Rente wegen des in der Verfolgungszeit eingegangenen Arbeitsverhältnisses geringer geworden ist. In Ermangelung dieser auf tatsächlichem Gebiet liegenden Feststellungen kann der Senat den Streitfall aber nicht selbst entscheiden; der Rechtsstreit muß vielmehr zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Verfahrens - an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Fundstellen