Leitsatz (amtlich)
Erfüllt derselbe Tatbestand sowohl die Voraussetzungen der RVO Nr 1 als auch der Nr 5 Buchst a des § 537 aF, so geht jene Vorschrift dieser vor.
Normenkette
RVO § 537 Nr. 1 Fassung: 1942-03-09, Nr. 5 Buchst. a Fassung: 1942-08-20
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. November 1963 wird unter Aufhebung der Kostenentscheidung des Berufungsgerichts zurückgewiesen.
Die Klägerin hat den Beigeladenen die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Gründe
Der Schiffszimmermann H W (W.) war bei der Ewerführerei B in H als Liegervice beschäftigt. Er wohnte mit seiner Familie im H Kohlenhafen auf einem Lieger dieser Firma und hatte die um das Wohnschiff vertäuten Schuten zu bewachen und zu warten; ferner hatte er - meist nach besonderer Anweisung des Arbeitgebers - ihren Einsatz zum Löschen von Schiffsladungen zu bestimmen.
Als W. am 29. März 1954 nachmittags damit beschäftigt war, eine der Schuten zu lenzen, bemerkte er, daß sein 3 1/2-jähriger Sohn ins Wasser gefallen war. Er sprang nach, um sein Kind zu retten. Beide ertranken.
Die Binnenschiffahrts-BG, die nunmehrige Klägerin, gewährt bzw. gewährte den Hinterbliebenen - Beigeladenen zu 1) - 3) - im Wege vorläufiger Fürsorge Unfallentschädigung nach § 1735 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Sie ist der Meinung, daß die Freie und Hansestadt H, Arbeits- und Sozialbehörde (Eigenunfallversicherung), jetzige Beklagte, zur Gewährung von Unfallentschädigung zuständig ist, weil W. nicht im Zusammenhang mit dem bei ihr versicherten Beschäftigungsverhältnis, sondern als Lebensretter ertrunken sei, Versicherungsschutz somit nach § 537 Nr. 5 a RVO (idF vor dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes - UVNG - RVO aF) gegeben sei. Die Beklagte hält dagegen die Klägerin für zuständig, weil W. im Interesse des Schiffahrtsunternehmens mit seiner Familie auf der Wohnschute gelebt und der Schiffahrtsbetrieb eine besondere Gefahrenquelle für die Familie des Verunglückten gebildet habe.
Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat, nachdem es die Hinterbliebenen beigeladen hatte, durch Urteil vom 14. Juli 1961 festgestellt, daß die Beklagte für die Entschädigung zuständig ist. W. sei nicht einem Arbeitsunfall erlegen, sondern bei dem Versuch verunglückt, sein Kind zu retten; hierzu habe für W. keine besondere rechtliche Verpflichtung bestanden, so daß § 537 Nr. 5 a RVO aF anzuwenden und die Zuständigkeit der Beklagten gegeben sei.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 26. November 1963 die Entscheidung des SG geändert und festgestellt, daß die Klägerin zur Entschädigung zuständig ist. Es hat die Klägerin verurteilt, der Beklagten die außergerichtlichen Kosten des ersten und zweiten Rechtszuges zu erstatten.
Zur Begründung hat das Berufungsgericht ausgeführt:
Da die von W. betreuten Schuten zu jeder Tages- und Nachtzeit einsatzbereit sein mußten, sei es notwendig gewesen, daß W. mit seiner Familie in deren Nähe wohnte; im Arbeitsvertrag sei vorgesehen gewesen, daß er mit seiner Familie an Bord des Liegers Wohnung nahm. Damit seien auch die Familienangehörigen in den besonderen Gefahrenbereich des Arbeitsplatzes mit einbezogen gewesen und hätten somit im Betriebsbann des Wohnschiffes gelebt. Als W. ins Wasser gesprungen sei, um sein Kind zu retten, habe er eine Handlung vorgenommen, die der Beseitigung der Folge einer betriebseigentümlichen Gefahr gedient habe, auch wenn er arbeitsvertraglich zu dieser Handlung nicht verpflichtet gewesen sei, da sie lebensgefährlich gewesen sei. Die von W. unternommene Lebensrettung habe dem Unternehmen, in dem W. beschäftigt gewesen sei, gedient, weil sie die Erhaltung der Familie, ohne deren Verbleib an Bord des Liegers die Erfüllung vertraglicher Verpflichtungen Ws. in Frage gestellt gewesen wäre, zum Ziel gehabt habe. Der Lebensrettungsversuch habe, da er sich im Bereich des Betriebsbanns der Binnenschiffahrt bewegt habe, weder zu einer Unterbrechung noch zu einer Lösung des Zusammenhangs mit der betrieblichen Tätigkeit geführt.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es durch ihren Prozeßbevollmächtigten im wesentlichen wie folgt begründet:
Die Rettung eines Menschen gehöre auch in der Binnenschiffahrt - jedenfalls nach dem hier maßgeblichen Recht vor der Geltung des UVNG - nicht zum Aufgabenbereich eines Liegervicen . Mit dem Sprung ins Wasser habe W. sich von seiner betrieblichen Tätigkeit gelöst. Der von der Rechtsprechung entwickelte zu einer Erweiterung des Versicherungsschutzes führende Begriff des Betriebsbanns der Binnenschiffahrt beziehe sich in erster Linie auf Wege des Binnenschiffers vom und zum Schiff, auch wenn sie privaten Zwecken dienten. Überdies sei diese Rechtsprechung nicht allgemein anerkannt. Das Urteil des Berufungsgerichts könne schon deshalb keinen Bestand haben, weil es von unzutreffenden Voraussetzungen ausgegangen sei. W. hätte seinen vertraglichen Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis weiter nachkommen können, wenn nur sein Kind ertrunken wäre, denn seine Ehefrau hätte fernerhin an Bord bleiben können. Zu Unrecht habe das Berufungsgericht außerdem angenommen, daß vorliegendenfalls der Begriff des Betriebsbanns anzuwenden sei. Diese Grundsätze könnten nur für Binnenschiffer, nicht aber für eine Arbeitstätigkeit wie die eines Liegervicen Geltung beanspruchen. Der Binnenschiffer müsse auf dem Schiff wohnen, weil dieses seinen Standort dauernd ändere. Der Liegervice habe seinen ständigen Lagerplatz am Ufer. Sein Arbeitsplatz sei vom Land aus leicht zu erreichen. Er arbeite meistens in Schichten. Daß er mit seiner Familie auf einer Schute wohne, sei weder betrieblich geboten noch immer üblich. Daran ändere auch die Tatsache nichts, daß vertraglich vereinbart gewesen sei, W. solle auf dem Lieger wohnen. Das LSG habe unzutreffenderweise angenommen, daß W. mit seiner Familie auf dem Schiff habe wohnen müssen. Aus der vertraglichen Abmachung Ws. mit seinem Arbeitgeber, der ihm gestattet habe, sich zwei Räume auf dem Lieger einzurichten, hätte das Berufungsgericht zu jener tatsächlichen Feststellung nicht gelangen dürfen; ihrem - der Beklagten - Schriftsatz vom 16. Oktober 1962 hätte es vielmehr entnehmen müssen, daß es aufgrund der Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses für einen Liegervicen nicht notwendig sei, an Bord des Schiffes zu wohnen. Das LSG habe somit nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens gewürdigt und deshalb § 128 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verletzt. Ein Arbeitsunfall bei einer nach § 537 Nr. 1 RVO aF versicherten Tätigkeit liege daher nicht vor. Vielmehr seien die Voraussetzungen des § 537 Nr. 5 a RVO aF und damit die Zuständigkeit der Beklagten gegeben.
Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und festzustellen, daß die Beklagte der für die Entschädigung des Unfalls vom 29. März 1954 zuständige Versicherungsträger ist,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladen haben sich zur Sache nicht geäußert und keine Anträge gestellt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden; die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 SGG liegen vor.
Die Revision ist nicht begründet.
Die Beteiligten streiten darüber, wer zuständig ist, das Feststellungsverfahren wegen der Entschädigung der Hinterbliebenen des Liegervicen W. durchzuführen, der am 29. März 1954 bei dem Versuch, sein ins Wasser gefallenes Kind vor dem Ertrinkungstod zu retten, ums Leben gekommen ist. Der Streit geht in erster Linie darum, ob der Rettungsversuch des Verstorbenen seiner betrieblichen Tätigkeit zuzurechnen, Versicherungsschutz somit nach § 537 Nr. 1 RVO aF gegeben ist, das Berufungsgericht hat dies im Ergebnis zutreffend bejaht.
Zwar hat W. die von ihm gerade verrichtete Tätigkeit eine der seiner Beaufsichtigung unterliegenden Schuten zu lenzen, unterbrochen, als er ins Wasser sprang. Trotzdem ist der Versicherungsschutz nach § 537 Nr. 1 RVO aF erhalten geblieben. Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (BSG 14, 197, 200 ff; Urteil vom 31. Juli 1964, 2 RU 8/61), von der abzuweichen im Hinblick auf § 552 RVO nF keine Veranlassung besteht (zur Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift s. Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 1 zu § 552 RVO), ist angesichts der Eigenart des Binnenschifferberufs der Versicherungsschutz nicht allein auf die unmittelbare Ausübung betrieblicher Tätigkeiten beschränkt, er erstreckt sich ua auch auf Verhaltensweisen, welche durch die im betrieblichen Interesse gegebene besondere Gestaltung der Wohnverhältnisse dieses Berufs veranlaßt sind. Beschäftigungsverhältnissen in der Binnenschiffahrt ist es eigentümlich, daß der Binnenschiffer in der Regel auf dem Schiff wohnt, somit nicht nur er, sondern auch seine Familie den Gefahren des Wassers ausgesetzt ist. Ein innerer Zusammenhang mit dem Schiffahrtsbetrieb ist auch noch gegeben, wenn ein Binnenschiffer den Versuch unternimmt, einen über Bord gefallenen Familienangehörigen vor den Gefahren des Wassers zu bewahren, Ungeachtet dessen, daß die Rettung seines Kindes wohl kaum im Interesse des Unternehmens, in dem er beschäftigt war, gelegen hat, hat W. eine ohne die eigentümlichen Verhältnisse des Schiffahrtsbetriebes nicht denkbare, aber auch durch sie geprägte, gegenüber einem sonstigen Lebensrettungsversuch den Lebensretter allgemein weitaus mehr gefährdende Tat unternommen. Im Hafengebiet vor allem sind Lebensretter zusätzlich durch unter der Wasseroberfläche befindliche unbekannte Hindernisse, wie Schiffstaue, sowie dadurch besonders gefährdet, daß es häufig schwierig ist, wieder aus dem Wasser herauszukommen, weil es von hohen Kaimauern umgeben ist und die Bordkante der vor Anker liegenden Schiffe meist in einer dem Lebensretter nicht erreichbaren Höhe über der Wasserlinie ist. § 552 Nr. 4 RVO nF hat diesen der Binnenschifffahrt eigenen besonderen Gefahrenbereich berücksichtigt, indem er ausdrücklich Versicherungsschutz auch gewährt, wenn ein Binnenschiffer beim Retten von Menschen einen Unfall erleidet. Ob und unter welchen Voraussetzungen der Versicherungsschutz nach dieser Vorschrift begrenzt ist (s. Lauterbach, aaO, Anm. 9 a zu § 552 RVO), braucht aus Anlaß der vorliegenden Streitsache nicht entschieden zu werden, Aufgrund der bei W. gegebenen im Binnenschifferberuf üblichen Verhältnisse haben bei dem von W. unternommenen Versuch, sein Kind vor dem Ertrinkungstod zu retten, noch derart starke Beziehungen zum Schiffahrtsunternehmen bestanden, daß diese als rechtlich wesentlich anzusehen sind, der nach §§ 542, 537 Nr. 1 RVO aF erforderliche innere Zusammenhang mit der betrieblicher Tätigkeit somit gegeben ist.
Entgegen der Meinung der Revision ist nicht entscheidend, ob W. - was die Revision bestreitet - auf dem Lieger hat wohnen müssen. Wie die Beklagte in ihrem im Verfahren erster Instanz eingereichten Schriftsatz vom 7. Januar 1960 - ihr in der Revisionsbegründung erwähnter Schriftsatz vom 16. Oktober 1962 setzt sich damit nicht auseinander - ausführlich dargetan hat, hat die in der Binnenschiffahrt nichts Außergewöhnliches bedeutende Übung, dem Liegervicen an der Liegerstelle der Schuten eine Wohnung zu verschaffen, ihren guten Grund, weil der Liegervice für die Bewachung sowie den Einsatz der Schuten verantwortlich ist und er an diesen kleine Reparaturen selbst durchzuführen hat; um über den Einsatzort der Schuten jeweils unterrichtet zu sein, ist das Wohnschiff des Liegervicen sogar mit Telefon ausgestattet. Die Beklagte hat in ihrer Revisionsbegründung eingeräumt, zwischen W. und seinem Arbeitgeber sei vertraglich vereinbart gewesen, daß jener auf dem Wohnschiff Wohnung nehmen sollte. Daß dies auch den eigenen Interessen Ws. entsprochen haben mag, ändert nichts daran, daß sein Aufenthalt auf dem Lieger in erster Linie den Belangen des Schiffahrtsunternehmens förderlich und somit beruflich bedingt war.
Da somit Versicherungsschutz nach § 537 Nr. 1 RVO aF gegeben ist, ist die Klägerin für die Feststellung der Unfallentschädigung zuständig.
Dem steht nicht entgegen, daß möglicherweise auch die Voraussetzungen des § 537 Nr. 5 a RVO aF erfüllt sind. Ob für Eltern eine besondere rechtliche Verpflichtung zur Rettung ihrer in Lebensgefahr geratenen Kinder besteht (verneinend LSG Nordrhein-Westfalen, Kartei Lauterbach Nr. 2785 zu § 537 Nr. 5 aF; s. auch BSG 5, 262), was vorliegendenfalls den Versicherungsschutz nach dieser Vorschrift ausschließen würde, kann unentschieden bleiben. § 537 Nr. 5 a RVO aF findet schon deshalb keine Anwendung, weil Versicherungsschutz nach § 537 Nr. 1 RVO aF gegeben ist. Es kann dahinstehen, ob mit jener Vorschrift "ein nach §§ 74, 75 der Einleitung zum Preußischen Allgemeinen Landrecht analoger Aufopferungsanspruch mit den Rechtsformen und Leistungsarten der Unfallversicherung aufgefangen" wird (Jantz in Festschrift für Lauterbach, Berlin 1961, S. 18). Indessen kann nicht übersehen werden, daß die Einbeziehung von Hilfeleistungen nach § 537 Nr. 5 a RVO aF in das 3. Buch der RVO dem Wesen der gesetzlichen Unfallversicherung nicht ohne weiteres entspricht (Ebeling, ArbVers 1935, 227, 228; SozSich 1952, 338; Schraeder/Strich, Die deutsche Unfallversicherung, Band 2, Anm. 2 zu § 553 a RVO; Schulze zu Wiesch, BG 1951, 258 reSp.; Vollmar, SozVers 1961, 20). Dies zeigt sich auch darin, daß die Zuständigkeit zur Entschädigung und die Aufbringung der finanziellen Mittel besondere gesetzliche Vorschriften erforderlich gemacht hat (§ 627 RVO aF; §§ 655, 656 Abs. 4, 771 RVO nF). Dieser Ausnahmecharakter des § 537 Nr. 5 a RVO aF rechtfertigt es aber auch, ihn im Verhältnis zu der grundlegenden Norm des § 537 Nr. 1 RVO aF, die den Unfallversicherungsschutz der in einem Arbeits- oder ähnlichen Verhältnis stehenden Beschäftigten zum Inhalt hat, als subsidiär anzusehen. In Rechtsprechung und Schrifttum wird diese Meinung allgemein geteilt (vgl. Lauterbach, aaO, Anm. 59 e zu § 539 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 15.5.1967, Band II S. 476 - jeweils mit Nachweisungen aus Rechtsprechung und Schrifttum).
Die Revision der Klägerin ist deshalb in der Sache nicht begründet. Sie hat nur insofern Erfolg, als die Kostenentscheidung des LSG nicht aufrechterhalten werden kann, weil diese mit § 193 Abs. 4 SGG nicht vereinbar ist. Die Kostenentscheidung des Berufungsgerichts war daher aufzuheben. Die Klägerin hat der Beklagten keine Kosten zu erstatten. Die im Verhältnis der Klägerin zu den Beigeladenen erlassene Kostenentscheidung des Senats rechtfertigt sich hingegen aus § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen