Entscheidungsstichwort (Thema)
Geisteskrankheit und Tuberkulose
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Kontinuität der medizinisch-anstaltsmäßigen Betreuung erfordert die Kontinuität der finanziellen Lastenverteilung. Der geringe Eigenbetrag des Versicherten beeinflußt nicht die Anwendbarkeit der sich aus RVO § 1244a Abs 7 Kostentragungspflicht des Unterbringungsträgers.
2. Eine Unterbringung Tuberkulosekranker in Anstaltspflege wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Epilepsie oder Suchtkrankheit erfolgt auch dann auf "öffentliche" Kosten - so daß der Anspruch gegenüber dem Rentenversicherungsträger nach RVO § 1244a Abs 7 S 3 (AVG § 21a Abs 7 S 3) iVm BSHG § 130 ausgeschlossen ist -, wenn der Versicherte einen Teil der Unterbringungskosten selbst trägt; war die Anstaltsunterbringung bisher zu Lasten des Sozialhilfeträgers durchgeführt worden, so bleibt mithin dessen Zuständigkeit auch nach dem Hinzutreten der Tuberkulose-Erkrankung bestehen.
Normenkette
RVO § 1244a Abs. 7 S. 3 Fassung: 1959-07-23; BSHG § 130 Abs. 1; AVG § 21a Abs. 7 S. 3 Fassung: 1959-07-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 17. September 1975 aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 29. April 1974 wird in der Sache zurückgewiesen.
Kosten für alle drei Rechtszüge haben die Beteiligten nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Kosten der stationären Tbc-Behandlung einer Geisteskranken.
Die 1946 geborene und später wegen Geisteskrankheit entmündigte O. war seit 1964 in der psychiatrischen Abteilung des Frauenheims H. untergebracht. Die Mutter der O., gleichzeitig deren Vormund, war bei der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) und der beigeladenen Landesversicherungsanstalt (LVA) pflichtversichert.
Am 27. Juni 1969 fand O. wegen einer aktiven Lungen-Tbc Aufnahme in der psychiatrischen Tbc-Abteilung des Niedersächsischen Landeskrankenhauses L. Dort verblieb sie bis zum 1. September 1970 in stationärer Behandlung. Der klagende Sozialhilfeträger trug die Kosten der Tbc-Behandlung in Höhe von 7.215,30 DM, nachdem er zuvor im November 1969 die beklagte AOK und im Januar 1970 die beigeladene LVA vergeblich zur Übernahme der Behandlungskosten aufgefordert hatte. Während der stationären Behandlung wurde das der Mutter der O. für das Kind zustehende Kindergeld von monatlich 34,- DM an den Kläger abgeführt. Nachdem die Bemühungen des Klägers um Kostenübernahme erfolglos geblieben waren, hat er Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 29. April 1974). Es hat die Auffassung vertreten, daß der Kläger seinen Ersatzanspruch nicht binnen sechs Monaten nach Ablauf der Unterstützung geltend gemacht habe und der Anspruch deshalb nicht bestehe.
Die Berufung des Klägers hatte Erfolg. Das Landessozialgericht - LSG - (Urteil vom 17. September 1975) hat ausgeführt, die Beklagte sei zur Gewährung der Tbc-Behandlung verpflichtet gewesen. Der Erstattungsanspruch des Klägers sei nicht ausgeschlossen, weil § 1539 der Reichsversicherungsordnung (RVO) keine Anwendung finde. Die Mutter der O. habe nach §§ 205 Abs. 1, 184 RVO einen Anspruch auf Gewährung von Krankenhauspflege für ihre Tochter gegen die beklagte Krankenkasse. Dieser sei auch vorrangig gegenüber der Sozialhilfe. Der Anspruch auf Gewährung der stationären Behandlung gegen die Beigeladene sei gemäß § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO entfallen, denn die O. sei wegen Geisteskrankheit in Anstaltspflege auf öffentliche Kosten untergebracht gewesen. Das Kindergeld von 34,- DM monatlich sei im Verhältnis zu einem täglichen Pflegesatz von 17,- DM im Jahr 1969 oder 19,40 DM im Jahr 1970 zu gering, um eine Unterbringung auf eigene Kosten annehmen zu können.
Die Beklagte rügt mit der zugelassenen Revision eine Verletzung der §§ 130 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), 1244 a RVO. Der Sozialhilfeträger habe bei Anstaltspflege i. S. des § 130 BSHG die notwendige Tbc-Behandlung zu gewähren; das gelte auch gegenüber der Krankenkasse. Hilfsweise sei die Beigeladene zur Erstattung verpflichtet. Die Vorschrift des § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO i. V. m. § 130 BSHG stehe dem nicht entgegen, da O. nicht auf öffentliche Kosten untergebracht gewesen sei. Selbst bei einer geringen Beteiligung des Untergebrachten an den Kosten, wie im vorliegenden Fall, liege keine Unterbringung auf öffentliche Kosten vor.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen vom 17. September 1975 - L 4 Kr 26/74 - aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit die Beklagte verurteilt worden ist, dem Kläger die für die stationäre Behandlung von Hildegard O. im Niedersächsischen Landeskrankenhaus L. in der Zeit vom 27. Juni 1969 bis 1. September 1970 aufgewendeten Kosten zu erstatten und den Kläger, hilfsweise die Beigeladene für leistungspflichtig zu erklären.
Der Kläger und die Beigeladene beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Der klagende Sozialhilfeträger ist verpflichtet, die Kosten der Tbc-Behandlung der Geisteskranken O. zu tragen.
Nach den nicht angefochtenen Feststellungen des LSG war die Mutter der O. sowohl bei der beklagten AOK wie auch bei der beigeladenen LVA pflichtversichert. Auf Grund ihres Krankenversicherungsverhältnisses standen ihr für das Kind O. Ansprüche auf Krankenhilfe nach § 205 RVO zu, weil sie ihrem wegen Geisteskrankheit entmündigten Kind unterhaltspflichtig war. Zu diesen Ansprüchen gehört auch die Gewährung von Krankenhauspflege, soweit sie medizinisch erforderlich ist (§ 184 RVO); daß beim Auftreten aktiver Lungen-Tbc die Notwendigkeit von Krankenhauspflege bestand, steht zwischen den Beteiligten außer Streit. Auf Grund ihrer Zugehörigkeit zur Rentenversicherung hatte die Mutter der O. außerdem Ansprüche auf Heilbehandlung des Kindes nach § 1244 a Abs. 1 und 2 RVO gegen die Beigeladene. Die Vorschrift des § 1244 a RVO, die im Zuge der Neuordnung der Tbc-Bekämpfung 1959 in die RVO eingefügt worden ist (§ 31 Nr. 1 Buchst. a des Gesetzes über Tbc-Hilfe - THG - vom 23. Juli 1959 (BGBl I 513)), enthält in ihrem dritten Absatz eine Zuständigkeitsregelung i. S. einer Arbeits-, aber auch der Kostenaufteilung zwischen den Trägern der Renten- und der Krankenversicherung dergestalt, daß - falls der Tbc-Kranke sowohl kranken- als auch rentenversichert ist - der Träger der sozialen Krankenversicherung die ambulante, der Rentenversicherungsträger dagegen die stationäre Tbc-Heilbehandlung zu gewähren hat (BSGE 29, 87, 89 = SozR Nr. 11 zu § 1244 a RVO; BSGE 31, 122, 124; BSG, Urteil vom 29. September 1976 - 3 RK 76/74). Ein nach dieser Zuständigkeitsregelung gegen den Rentenversicherungsträger gegebener Anspruch auf Gewährung der stationären Heilbehandlung entfällt jedoch nach § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO i. V. m. § 130 BSHG, wenn der Tbc-Kranke wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Epilepsie oder wegen einer Suchtkrankheit auf öffentliche Kosten in Anstaltspflege untergebracht ist (BSGE 27, 280 = SozR Nr. 8 zu § 1244 a RVO; BSG SozR Nrn. 14, 34, 36 zu § 1244 a RVO). Diese Ausnahmeregelung ändert jedoch die grundlegende Zuständigkeitsregelung nicht zu Lasten der Krankenversicherung (BSG, Urteil vom 29. September 1976 - 3 RK 25/75). Der Rentenversicherungsträger wird vielmehr von seiner Verpflichtung zur Tbc-Bekämpfung lediglich zu Lasten des für die Anstaltsunterbringung zuständigen öffentlichen Kostenträgers befreit. Diese Folge rechtfertigt sich einmal daraus, daß im Rahmen der Tbc-Bekämpfung die Betreuung des Kranken stets in einer Hand liegen soll, weshalb zur Vermeidung von Kostenstreitigkeiten auch nur ein Kostenträger für sie in Betracht kommen kann (vgl. Begründung zu § 24 des Regierungsentwurfs eines THG, BT-Drucks. III 349, S. 19). Zum anderen handelt es sich bei den für die Tbc-Bekämpfung insgesamt aufzuwendenden Kosten letztlich immer um Gelder, deren Aufbringung an sich nicht zu den eigentlichen Aufgaben der sozialen Rentenversicherung gehört, die vielmehr im Rahmen der Volksseuchenbekämpfung von der öffentlichen Hand zu tragen sind.
Diese Regelung für die Fälle der Unterbringung der Tbc-Kranker in Anstaltspflege gilt nicht nur, wenn der Kranke ausschließlich auf öffentliche Kosten untergebracht ist. Wendet der Versicherte Eigenmittel auf, erfordert die Unterbringung jedoch (zusätzlich) den Einsatz öffentlicher Mittel, so müssen die gleichen Grundsätze gelten. Es kann dahinstehen, ob die Aufgaben- und Kostenverteilung nach § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO dann keine Anwendung zu finden hat, wenn der Untergebrachte die Kosten der Anstaltspflege in vollem Umfang selbst trägt (vgl. BSG SozR Nr. 8 zu § 1244 a RVO), weil ein solcher Fall hier nicht vorliegt; der Eigenanteil der Versicherten - monatlich 34,- DM - an den Unterbringungskosten - der tägliche Pflegesatz betrug 17,- DM bzw. 19,40 DM - war so gering, daß die Mutter der O. weder als volle Selbstzahlerin angesehen noch einer solchen gleichgestellt werden kann. Der - geringe - Eigenbeitrag der Versicherten vermag nichts an der Anwendbarkeit der Regelung, die § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO vorschreibt, zu ändern. Bereits die Anstaltsunterbringung - vor der Tbc-Behandlung - hatte im Verantwortungsbereich des Sozialhilfeträgers gelegen und war von ihm wegen der unerheblichen Eigenmittel der Versicherten im wesentlichen auf öffentliche Kosten durchgeführt worden. Auch nach dem Hinzutreten der Tbc-Erkrankung hatte die weitere Betreuung dem Sozialhilfeträger obgelegen. Für diese - kombinierte - Unterbringung und Tbc-Behandlung, die zutreffend in der psychiatrischen Tbc-Abteilung des Landeskrankenhauses erfolgt war, müssen schon nach den Grundsätzen, wie sie der 4. Senat des Bundessozialgerichts in dem Urteil vom 30. Juli 1975 in BSGE 40, 115, 116 entwickelt hat, die gleichen Finanzierungsgrundsätze gelten wie zuvor für die Unterbringung. Der 4. Senat hat darauf hingewiesen, daß der Wegfall des Heilbehandlungsanspruchs eines Tbc-Kranken gegen den Rentenversicherungsträger in den Fällen des § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO dadurch begründet ist, daß der Rentenversicherungsträger bei Unterbringung in Anstaltspflege sein Recht und seine Pflicht nach Abs. 5 des § 1244 a RVO, über Art und Maß seiner Leistungen nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, nicht ausüben kann. Da jeder Träger regelmäßig für die Kosten der von ihm eingeleiteten und durchgeführten Maßnahmen einzustehen haben soll, besteht keine Veranlassung, die Finanzierung einer kombinierten Unterbringung und Behandlung nach anderen Grundsätzen - etwa wie bei "Selbstzahlern" - zu gestalten. Nach Auffassung des erkennenden Senats bestünde in einem solchen Fall kein rechtlicher Grund dafür, daß der Rentenversicherungsträger die nicht differenzierten und auch nicht differenzierbaren Kosten der Kombinationsbehandlung übernähme, obwohl er auf die Betreuung des an Tbc leidenden Geisteskranken weiterhin keinen Einfluß hätte. Der Sozialhilfeträger würde in einem solchen Fall zwar weiterhin verantwortlich für die gesamte Betreuung (auch die medizinische) des Geisteskranken bleiben, wäre andererseits aber von der Kostenpflicht freigestellt; die Versicherte ihrerseits, die zu den Kosten der Unterbringung bisher den Kinderzuschuß beigesteuert hatte, würde diesen Betrag ausgezahlt erhalten, obwohl die Unterbringung weiter andauerte. Eine solche völlige Veränderung der wirtschaftlichen Position aller Beteiligten entspräche weder den vom 4. Senat aaO entwickelten Grundsätzen, denen auch der erkennende Senat nach eigener Prüfung folgt - der Hinweis vom 27. Januar 1972 (vgl. SozR Nr. 25 zu § 1244 a RVO) verliert demgegenüber seine Bedeutung zumal der 4. Senat in einem gleichliegenden Fall im gleichen Sinn wie der erkennende Senat entschieden hat (vgl. SozR Nr. 12 zu § 1244 a RVO) -, noch ließe sie sich aus den sachlichen Gegebenheiten begründen. Vielmehr erfordert die Kontinuität der medizinisch-anstaltsmäßigen Betreuung gleicherweise die Kontinuität der finanziellen Lastenverteilung. Demgemäß beeinflußt der geringe Eigenbetrag der Versicherten nicht die Anwendbarkeit der sich aus § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO ergebenden Regelung; er verändert nicht die grundsätzliche Kostentragungspflicht des Unterbringungsträgers, hier also des Klägers. Dieser kann demgemäß weder von der AOK noch von der LVA Ersatz fordern. Unter diesen Umständen war das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung in der Sache zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen