Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorverfahren als Klagevoraussetzung bei Ermessensentscheidung des Unfallversicherungsträgers

 

Orientierungssatz

1. War der Versicherungsträger durch das Gesetz gezwungen, die Leistung so zu gewähren, wie er sie gewährt hat, betrifft der Verwaltungsakt eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Ist es zwar nicht seinem Ermessen überlassen, ob er die Leistung überhaupt gewähren will, kann er aber gleichwohl durch eigene Willensentschließung bestimmen, in welcher Höhe er sie gewährt, handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, die eine sofortige Klage ausschließt und zunächst die Durchführung des Vorverfahrens erfordert. Nach SGG § 78 Abs 2 S 1 ist die Anfechtungsklage wahlweise ohne Vorverfahren somit nur dann zulässig, wenn der Verwaltungsakt, dessen Aufhebung oder Abänderung begehrt wird, keine vom Ermessen des Versicherungsträgers beeinflußte Leistung betrifft.

2. Bei der Gewährung einer Verletztenrente besteht ein Rechtsanspruch nur insofern, als der Verletzte wegen der Folgen des Unfalls, die seine Erwerbsfähigkeit mindern, nach den RVO §§ 547, 581 Abs 1 Nr 2 Anspruch auf Verletztenrente hat; dies ist nicht dem Ermessen des Unfallversicherungsträgers überlassen. Den Unfallversicherungsträger trifft hinsichtlich der Höhe der Rente, die zu den nach dem JAV zu berechnenden Geldleistungen gehört (RVO § 570), eine Ermessensentscheidung, wenn er Zeiten ohne Arbeitseinkommen nicht mit einem fiktiven Einkommen nach RVO § 571 Abs 1 S 2 ausfüllt, sondern einen unter Anwendung des RVO § 577 ermittelten Betrag zugrunde legt.

 

Normenkette

SGG § 78 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1974-07-30; RVO § 570 Fassung: 1963-04-30, § 571 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1963-04-30, § 577 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 16.12.1976; Aktenzeichen L 7 U 785/76)

SG Stuttgart (Entscheidung vom 05.03.1976; Aktenzeichen S 3 U 810/74)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. Dezember 1976 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der Kläger, der italienischer Staatsbürger ist und in der Bundesrepublik Deutschland arbeitete, erlitt am 17. Juli 1973 einen Arbeitsunfall. Die Beklagte gewährte ihm durch Bescheid vom 14. Februar 1974 eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 90 vH. Der Rente legte sie einen Jahresarbeitsverdienst (JAV) von 14.966,17 DM zugrunde, der dem tatsächlich erzielten Arbeitseinkommen des Klägers im Jahre vor dem Unfall entspricht. Der Kläger hatte vom 1. bis zum 31. Januar 1973 unbezahlten Urlaub genommen und sich während dieser Zeit in seiner Heimat aufgehalten. Die Beklagte führte zunächst aufgrund ihrer Verfügung Nr 11/72, betreffend "Festsetzung des Jahresarbeitsverdienstes für Gastarbeitnehmer, die zum Zeitpunkt des Unfalls bereits ein Jahr oder noch länger in Deutschland beschäftigt waren", eine Vergleichsberechnung durch. Gemäß Ziffer 4 der Verfügung stellte sie fest, daß der Kläger bei tariflicher - durchgehender - Arbeitszeit und bei dem vom Arbeitgeber wirklich gezahlten Stundenlohn 14.068,96 DM verdient hätte. Da dieser "über § 577 der Reichsversicherungsordnung - RVO - ermittelte Verdienst" (so Verfügung Nr 11/72, Ziff 4) unter dem tatsächlichen Arbeitseinkommen lag, setzte sie den höheren tatsächlichen Verdienst als JAV fest.

Der Kläger hat Klage erhoben und beantragt, der Rente einen JAV von 16.184,25 DM zugrunde zu legen. Für die 23 ausgefallenen Arbeitstage in der Zeit vom 1. bis 31. Januar 1973 sei dem von der Beklagten errechneten JAV noch ein Teilbetrag von 1.218,08 DM (184 Arbeitsstunden à 6,62 DM) hinzuzurechnen.

Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 5. März 1976 die Klage abgewiesen. Nach seiner Auffassung wäre die vom Kläger begehrte Berechnung des JAV nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO in hohem Maße unbillig (§ 577 RVO), weil es hier nicht um den Ausgleich eines Minderverdienstes gehe. Der Kläger habe vielmehr seinen gesamten Lebenszuschnitt so gestaltet, daß er in den Arbeitszeiten erhebliche Überstunden geleistet habe, um dann ungeschmälert in seinen Ansprüchen unbezahlten Urlaub nehmen zu können.

Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 16. Dezember 1976 auf die Berufung des Klägers antragsgemäß das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Berechnung der Rente einen JAV von 16.184,25 DM zugrunde zu legen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Beklagte sei nicht berechtigt gewesen, den JAV nach billigem Ermessen festzustellen. Die Voraussetzungen des § 577 RVO lägen nicht vor. Die Berechnung des JAV nach dem hier anzuwendenden § 571 Abs 1 Satz 2 RVO führe nicht zu einem Ergebnis, das in erheblichem Maße unbillig sei. Die von der Beklagten vorgenommene Berechnung des JAV lasse sich aus § 571 Abs 1 RVO nicht rechtfertigen. In § 571 Abs 1 Satz 2 RVO sei eine generelle Regelung getroffen worden, die grundsätzlich alle Zeiten eines Einkommensausfalles umfasse, auch solche freiwilliger Art, die uU durch wichtige Gründe bedingt sein könnten. Von dieser generellen Regelung könne nur abgewichen werden, wenn im Einzelfall die Voraussetzungen des § 577 RVO gegeben seien, wenn also der nach § 571 Abs 1 RVO errechnete JAV in erheblichem Maß unbillig sei. Bei dem Kläger handele es sich zwar im Jahre vor dem Unfall nicht nur um eine vorübergehende Minderung seines Arbeitseinkommens. Er habe seit der Arbeitsaufnahme in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1963 regelmäßig unbezahlten Urlaub gehabt. Auch im Jahre vor dem Unfall habe er daher sein normales - nicht ein vorübergehend gemindertes - Einkommen erzielt. Unter Anwendung des § 571 Abs 1 Satz 2 RVO ergebe sich ein JAV, den der Kläger in der Vergangenheit nie erreicht habe und den er mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in der Zukunft nicht erreicht haben würde. Dieses Ergebnis sei zwar unbillig. Der Kläger werde ohne sachlichen Grund bessergestellt als andere Versicherte, die regelmäßig das ganze Jahr über gearbeitet hätten und nur ausnahmsweise im Jahre vor dem Unfall zeitweise ohne Arbeit gewesen seien. Der nach § 571 Abs 1 RVO berechnete JAV sei jedoch nicht in erheblichem Maß unbillig. Die in der Berechnungsweise liegende Unbilligkeit für sich allein reiche nicht aus, um festzustellen, daß es sich um eine erhebliche Unbilligkeit iS des § 577 RVO handele. Denn der Gesetzgeber habe diese Berechnungsart ausdrücklich vorgesehen. Es komme daher nur darauf an, ob im konkreten Einzelfall diese Art der Berechnung des JAV zu einem in erheblichem Maße unbilligen Ergebnis führe. Dabei seien die Dauer des unbezahlten Urlaubs und die Einkommensdifferenz von entscheidender Bedeutung, weil sie für den Umfang der Besserstellung gegenüber normal arbeitenden Versicherten maßgebend seien. Der Kläger habe im Jahre vor dem Unfall und in den vorangegangenen Jahren jeweils nur etwa einen Monat nicht gearbeitet. Er habe seinen Lebensstandard im Durchschnitt auf das Einkommen eingerichtet, das er in elf Monaten in der Bundesrepublik Deutschland erzielen konnte. Die Differenz zwischen seinem tatsächlich erzielten und dem fiktiven Arbeitseinkommen betrage im Jahre vor dem Unfall 1.218,08 DM, das seien ca. 8,2 vH des tatsächlich erzielten Arbeitsverdienstes von 14.966,17 DM. Eine erhebliche Unbilligkeit liege nicht vor, wenn bei einem Gastarbeiter, der mehrere Jahre lang unbezahlten Urlaub gehabt habe, die Ausfallzeit im Jahre vor dem Unfall nur etwa einen Monat betragen habe und auch in den Jahren zuvor nicht erheblich länger gewesen sei, und wenn das tatsächlich erzielte Arbeitseinkommen um weniger als 10 vH erhöht werden müsse, um das fiktive Arbeitseinkommen zu erreichen.

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und wie folgt begründet: § 571 Abs 1 Satz 2 RVO bezwecke den Ausgleich zufälliger und vorübergehender Verdienstausfälle, um zu verhindern, daß der niedrigere Lebensstandard zum Maßstab für die Gesamtlaufzeit der Rente gemacht werde. Ein Einkommensausfall im eigentlichen Sinne liege jedoch nicht vor, wenn ein Arbeitnehmer von vornherein regelmäßig einen unbezahlten Urlaub einkalkuliere. Selbst wenn jedoch § 571 auf Fälle der vorliegenden Art anzuwenden sei, müsse es als in höchstem Maße unbillig angesehen werden, den Verletzten so zu behandeln, als ob er das ganze Jahr über gearbeitet hätte, und damit der Rentenberechnung einen Lebensstandard zugrunde zu legen, den der Verletzte selbst nie zu erreichen angestrebt habe. Das Ausfüllen der unbezahlten Urlaubszeit mit einem fiktiven Einkommen gemäß § 571 Abs 1 Satz 2 RVO sei schon deswegen im erheblichen Maße unbillig, weil diese Berechnungsweise in erheblichem Maße unbillig sei, da der Kläger keinen Einkommensausfall gehabt habe und daher ein Minderverdienst auch nicht auszugleichen gewesen sei. Darüber hinaus sei aber auch entgegen der Auffassung des LSG der JAV von 16.184,25 DM im Verhältnis zu dem wirklichen Arbeitseinkommen von 14.966,17 DM in erheblichem Maße unbillig. Die Beklagte ist weiter der Auffassung, sie habe bei der Feststellung des JAV das ihr zustehende Ermessen sachgerecht ausgeübt. Sie habe geprüft, welches Arbeitseinkommen der Kläger hätte erzielen können, wenn er während des Jahres vor dem Unfall ohne Überstunden gearbeitet hätte. Da das wirkliche Arbeitseinkommen höher gelegen habe, sei dieses als JAV festgesetzt worden. Diese Festsetzung sei ermessensfehlerfrei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 SGG).

Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war.

Das LSG durfte nicht in der Sache selbst entscheiden, da es an der Prozeßvoraussetzung des durchgeführten Vorverfahrens mangelt.

Ohne Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Vorverfahrens darf ein Sachurteil nicht ergehen. Das Fehlen des gesetzlich vorgeschriebenen Vorverfahrens stellt einen von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensmangel dar. Die Beteiligten können auf die Durchführung des Vorverfahrens auch nicht verzichten (BSGE 3, 293, 297; 8, 3, 9; 16, 21, 23; 17, 153, 156; 19, 164, 167). Ein Vorverfahren war sowohl nach den bei Erlaß des Bescheides vom 14. Februar 1974 geltenden Vorschriften als auch nach den seither in Kraft getretenen Vorschriften durchzuführen. Nach § 79 Nr 1 SGG in der bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom 30. Juli 1974 (BGBl I 1625) am 1. Januar 1975 geltenden Fassung fand ein Vorverfahren statt, wenn mit der Klage die Aufhebung eines Verwaltungsaktes begehrt wurde, der nicht eine Leistung betraf, auf die ein Rechtsanspruch bestand. Danach waren nicht nur solche Verwaltungsakte vorverfahrenspflichtig, die eine Ermessensleistung zum Gegenstand hatten, sondern alle Verwaltungsakte, die eine Ermessensentscheidung betrafen; es genügte, daß der Versicherungsträger in einer irgendwie gearteten Form sein Ermessen ausgeübt hatte (BSGE 3, 209, 215; 7, 292, 293; 37, 267, 268; SozR Nrn 14 und 16 zu § 79 SGG). An diese Rechtslage knüpft der seit dem 1. Januar 1975 geltende § 78 SGG an, der in Fällen der hier vorliegenden Art vor Erhebung der Klage ebenfalls die Durchführung eines Vorverfahrens verlangt. Nach § 78 Abs 1 Satz 1 SGG sind vor Erhebung der Anfechtungsklage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Eine der in § 78 Abs 1 Satz 2 SGG bezeichneten Ausnahmen, bei deren Vorliegen es eines Vorverfahrens nicht bedarf, ist hier nicht gegeben. Nach § 78 Abs 2 Satz 1 SGG ist in Angelegenheiten der Unfallversicherung die Anfechtungsklage wahlweise auch ohne Vorverfahren zulässig, wenn die Aufhebung oder Abänderung eines Verwaltungsaktes begehrt wird, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Auch nach dieser Vorschrift ist ebenso wie nach § 79 Nr 1 SGG aF die unmittelbare Klageerhebung ausgeschlossen, sofern der Versicherungsträger in dem angefochtenen Verwaltungsakt sein Ermessen ausgeübt hat (vgl Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 78 Anm 5 c; Miesbach/Ankenbrank/Hennig/Danckwerts, SGG, § 78 Anm 7; Peters, Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil, § 39 Anm 5; Wannagat, Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil, § 39 Anm 3).

Ob ein Beteiligter, statt das Vorverfahren durchzuführen, nach seiner Wahl unmittelbar gegen einen Verwaltungsakt Klage erheben darf, hängt hiernach davon ab, welchen Inhalt der dem Beteiligten erteilte Verwaltungsakt (Bescheid) hat. War der Versicherungsträger durch das Gesetz gezwungen, die Leistung so zu gewähren, wie er sie gewährt hat, betrifft der Verwaltungsakt eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Ist es zwar nicht seinem Ermessen überlassen, ob er die Leistung überhaupt gewähren will, kann er aber gleichwohl durch eigene Willensentschließung bestimmen, in welcher Höhe er sie gewährt, handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, die eine sofortige Klage ausschließt und zunächst die Durchführung des Vorverfahrens erfordert. Nach § 78 Abs 2 Satz 1 SGG ist die Anfechtungsklage wahlweise ohne Vorverfahren somit nur dann zulässig, wenn der Verwaltungsakt, dessen Aufhebung oder Abänderung begehrt wird, keine vom Ermessen des Versicherungsträgers beeinflußte Leistung betrifft. Der Bescheid der Beklagten vom 14. Februar 1974, mit dem sie dem Kläger eine Verletztenrente gewährte, betraf keine Leistung, auf die iS des § 78 Abs 2 Satz 1 SGG ein Rechtsanspruch bestand. Ein Rechtsanspruch bestand nur insofern, als der Kläger wegen der Folgen des Unfalls, die seine Erwerbsfähigkeit mindern, nach den §§ 547, 581 Abs 1 Nr 2 RVO Anspruch auf Verletztenrente hat; dies war nicht dem Ermessen der Beklagten überlassen. Die Beklagte hat jedoch hinsichtlich der Höhe der bei einer unfallbedingten MdE um 90 vH zu gewährenden Rente, die zu den nach dem JAV zu berechnenden Geldleistungen gehört (§ 570 RVO), eine Ermessensentscheidung getroffen. Für Zeiten, in denen der Kläger im Jahr vor dem Unfall kein Arbeitseinkommen bezog, weil er zeitweise nicht erwerbstätig war (unbezahlter Urlaub), hat die Beklagte nicht gemäß § 571 Abs 1 Satz 2 RVO idF bis zum Inkrafttreten des Sozialgesetzbuches - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung -vom 23. Dezember 1976 (BGBl I 3845) das Arbeitseinkommen zugrunde gelegt, das durch eine Tätigkeit erzielt wird, die der letzten Tätigkeit des Klägers vor diesen Zeiten entsprach. Sie vertrat und vertritt vielmehr die Auffassung, daß Zeiten, in denen der Versicherte von vornherein - alljährlich - aus freien Stücken nicht arbeite und daher kein Arbeitseinkommen erziele, nicht mit einem fiktiven Einkommen nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO auszufüllen seien. Die Beklagte ermittelte unter Anwendung des § 577 RVO einen Betrag von 14.068,96 DM, der sich nach Ziffer 4 ihrer Verfügung Nr 11/72 ergeben würde, legte jedoch als JAV das - höhere - tatsächliche Arbeitseinkommen von 14.966,17 DM zugrunde, das der Kläger in nur 11 Monaten erzielte. Danach betraf der vom Kläger angefochtene Bescheid vom 14. Februar 1974 eine Leistung, deren Feststellung der Höhe nach auf einem Ermessen beruhte.

Das aus diesem Grunde gemäß § 78 Abs 1 Satz 1 SGG erforderliche Vorverfahren ist nicht entbehrlich, weil die Beklagte im Prozeß an ihrer angefochtenen Entscheidung festgehalten hat; dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn - wie in Angelegenheiten der Sozialversicherung (§ 85 Abs 2 Nr 2 SGG) - Widerspruchsbehörde und Versicherungsträger nicht identisch sind (BSGE 8, 3, 10; 20, 199, 200). Weder aus der Wahlmöglichkeit zwischen Widerspruch und Klage nach § 78 Abs 2 Satz 1 SGG noch aus der Befugnis der Widerspruchsstelle, mit vorheriger schriftlicher Zustimmung des Widerspruchsführers den Widerspruch dem zuständigen SG als Klage zuzuleiten, falls in Angelegenheiten der Sozialversicherung die Widerspruchsstelle dem Widerspruch nicht stattgeben will (§ 85 Abs 4 SGG), darf gefolgert werden, daß bei der Gesetzesanwendung rechtsförmliche und dogmatische Bedenken gegen eine Umdeutung von Prozeßhandlungen in Vorgänge des Vorverfahrens weitgehend zurückgestellt werden sollen und die Unterscheidung von Widerspruch und Klage sowie von Widerspruchsbescheid und Klageerwiderung in einem weniger strengen Licht erscheinen (vgl BSG Urteil vom 29. März 1977 - 9 RV 2/76 - in die Praxis 1977, 382; ähnlich auch BSG Urteil vom 2. August 1977 - 9 RV 102/76 - in SGb 1978, 159); Verwaltungsakte der Träger der Unfallversicherung, die über Leistungen unter Ausübung des Ermessens entscheiden, waren nach § 79 Nr 1 SGG aF und sind nach § 78 Abs 1 Satz 1 SGG vor Erhebung der Klage in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Daran hat sich durch das Gesetz vom 30. Juli 1974 (aaO) nichts geändert. Lediglich für den Fall, daß die Nachprüfung durch die Widerspruchsstelle zu dem Ergebnis geführt hat, daß dem Widerspruch nicht stattgegeben werden kann, ist die Widerspruchsstelle mit vorheriger schriftlicher Zustimmung des Klägers nach § 85 Abs 4 SGG ermächtigt, den Widerspruch dem zuständigen SG als Klage zuzuleiten. Gegenüber der früheren Rechtslage ist damit - aber auch nur in Angelegenheiten der Sozialversicherung - die Widerspruchsstelle lediglich der Verpflichtung enthoben, in jedem Fall, in dem sie dem Widerspruch nach Prüfung nicht stattgeben will, gemäß § 85 Abs 2 SGG auch noch den Widerspruchsbescheid zu erlassen. Der von dem Gesetzgeber mit dem Vorverfahren verfolgte Zweck, die Verwaltung in die Lage zu versetzen, ihre Akte im Wege der Selbstkontrolle zu überprüfen, den Rechtsschutz der Bürger zu verbessern, da das Vorverfahren die Möglichkeit eröffnet, auch die Zweckmäßigkeit in vollem Umfang zu prüfen sowie die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit vor Überlastungen zu schützen (vgl Meyer-Ladewig, SGG, vor § 77 Anm 1), ist durch die 1. Januar 1975 geltende Regelung nicht in Frage gestellt worden. Die allgemeine Einführung des Vorverfahrens ab 1. Januar 1975 läßt eher den Schluß zu, daß es, insbesondere in Angelegenheiten der Sozialversicherung, in denen eine von der Vertreterversammlung des Versicherungsträgers bestimmte Stelle - Widerspruchsstelle - die Nachprüfung vorzunehmen hat (§ 85 Abs 2 Nr 2 SGG), dem vom Gesetzgeber mit dem Vorverfahren verfolgten Zweck zuwiderläuft, eine Klage in einen Widerspruch und eine Klageerwiderung in einen Widerspruchsbescheid umzudeuten.

Obwohl die bei dem SG erhobene Klage wegen des nicht durchgeführten Vorverfahrens unzulässig ist, hat der Senat der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts folgend das angefochtene Urteil des LSG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen, um den Beteiligten die Möglichkeit zu geben, das Vorverfahren nachzuholen (BSGE 8, 3, 10; 17, 153, 156; 20, 199, 200; 25, 66, 68; 29, 129, 133; 35, 267, 271). Das LSG hat bei seiner erneuten Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656851

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