Leitsatz (redaktionell)

Das Gericht darf die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Rücknahmebescheides nach KOV-VfG § 41 nur bejahen, wenn es sich von der Unrichtigkeit der früheren Bescheide so weit überzeugt, daß jede - auch nur fernliegende - Möglichkeit, es könne anders sein, auszuschließen ist (vergleiche BSG 1957-11-15 9 RV 212/57 = BSGE 6, 106).

Das Gericht muß sich auf ausreichende medizinische Beweisunterlagen stützen können; es darf sich auch nicht damit begnügen, nur Gutachten von Ärzten des Beklagten heranzuziehen und auszuwerten und einander widersprechende medizinische Beurteilungen dieser Ärzte ?anhand? der medizinischen Literatur selbst zu würdigen, sondern es muß zur vollständigen Aufklärung des medizinischen Sachverhalts von Amts wegen ein abschließendes, auf den zu entscheidenden Fall abgestelltes Gutachten eines ärztlichen Sachverständigen einholen.

 

Normenkette

KOVVfG § 41 Fassung: 1955-05-02; SGG § 128 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 31. Januar 1958 wird aufgehoben, die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger beantragte im Juni 1947, ihm Versorgung wegen einer Zuckerharnruhr (Zuckerkrankheit) zu gewähren; er machte geltend, sein Leiden sei auf seine russische und tschechoslowakische Kriegsgefangenschaft zurückzuführen. Der Vertrauensarzt der Landesversicherungsanstalt (LVA.) Schwaben, Dr. G, war der Ansicht, es sei möglich, daß die Zuckerharnruhr des Klägers durch eine Erkältungskrankheit während der Kriegsgefangenschaft "ausgelöst" worden sei. Die LVA. Schwaben, KB.-Abteilung, gewährte dem Kläger darauf mit Bescheid vom 28. August 1948 Rentenvorschüsse; sie legte dabei eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) des Klägers von 50 v.H. zugrunde. Im April 1952 wurde der Kläger von Dr. W vom Ärztlichen Dienst des Versorgungsamts A untersucht und begutachtet. Dr. W führte aus, es handele sich bei der Zuckerharnruhr um eine anlagebedingte, auf ererbter Minderwertigkeit der innersekretorischen Drüsen beruhende Erkrankung; bei dem Kläger sei eine Verschlimmerung des Leidens im Sinne eines Offenbarwerdens des Leidens unter ungünstigen Verhältnissen (Unter- und Mangelernährung, mangelnde Behandlungsmöglichkeit) in der Kriegsgefangenschaft wahrscheinlich. Mit den Bescheiden vom 2. Juli 1952 gewährte das Versorgungsamt A darauf dem Kläger nach dem Bayerischen Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (KBLG) und nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen Zuckerharnruhr als Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung eine Rente nach einer MdE. von 50 v.H. seit dem 1. Februar 1947 und von 40 v.H. ab 1. Mai 1952. Der Kläger legte Berufung (nach damaligem Recht) beim Oberversicherungsamt (OVA.) A ein; er begehrte, die Zuckerharnruhr als Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung anzuerkennen und die Rente höher festzusetzen. Das OVA. hörte den Facharzt für innere Medizin Dr. P. Dr. P schloß sich der medizinischen Beurteilung des Ärztlichen Dienstes der Versorgungsbehörde an; er fügte hinzu, es sei wahrscheinlich, daß sich die Zuckerharnruhr des Klägers durch die Gefangenschaft verschlimmert habe, da die ersten Erscheinungen unter den ungünstigen Verhältnissen der Gefangenschaft aufgetreten seien; die MdE. sei jedoch mit 40 v.H. richtig beurteilt. Das OVA. wies mit Urteil vom 11. März 1953 die Berufung des Klägers zurück. Der Kläger legte Rekurs beim Bayer. Landesversicherungsamt ein. Der Rekurs ging am 1. Januar 1954 als Berufung (nach neuem Recht) auf das Bayerische Landessozialgericht (LSG.) über. Im März 1957 holte das Versorgungsamt A eine Stellungnahme des Medizinaldirektors Dr. H, des Leiters der Abteilung "Ärztlicher Dienst" des Landesversorgungsamts Bayern, ein; es erließ darauf am 26. Juni 1957 einen neuen Bescheid; durch diesen "Berichtigungsbescheid nach § 41 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren in der Kriegsopferversorgung (VerwVG) vom 2. Februar 1955" hob das Versorgungsamt die Bescheide vom 2. Juli 1952 auf, da die Zuckerkrankheit weder als Leistungsgrund nach dem KBLG noch als Schädigungsfolge nach dem BVG anerkannt werden könne, und zwar auch nicht im Sinne der Verschlimmerung; dem Kläger könne daher eine Rente nicht gewährt werden. Diesen Bescheid stützte das Versorgungsamt auf die medizinische Beurteilung des Dr. H. Der Kläger beantragte, auch den Bescheid vom 26. Juni 1957 aufzuheben.

Mit Urteil vom 31. Januar 1958 wies das Bayerische LSG. die Berufung des Klägers gegen das Urteil des OVA. A vom 11. März 1953 und gegen den "Berichtigungsbescheid" des Versorgungsamts A vom 26. Juni 1957 zurück: Der "Berichtigungsbescheid" sei rechtmäßig. Die medizinische Beurteilung, die den früheren Bescheiden vom 2. Juli 1952 zugrunde gelegen habe, sei unrichtig gewesen; sie habe, wie sich aus der Stellungnahme des Medizinaldirektors Dr. H ergeben habe und wie auch aus dem medizinischen Schrifttum zu entnehmen sei, nicht mit den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft übereingestimmt. Die Voraussetzungen für eine "Berichtigung" der früheren Bescheide nach § 41 VerwVG hätten vorgelegen. Das LSG. ließ die Revision zu.

Das Urteil des LSG. wurde dem Kläger am 25. März 1958 zugestellt. Der Kläger legte am 14. April 1958 Revision ein und beantragte,

das Urteil des Bayerischen LSG. vom 31. Januar 1958 und das Urteil des OVA. A vom 11. März 1953 sowie den Berichtigungsbescheid vom 26. Juni 1957 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger wegen des anerkannten Schädigungsleidens auch über den 31. April 1952 hinaus Rente nach einer MdE. um 50 v.H. zu gewähren;

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische LSG. zurückzuverweisen.

Der Kläger begründete die Revision am 7. Mai 1958: Das LSG. habe die §§ 103 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verletzt, es habe auch den § 41 VerwVG nicht richtig angewandt; mehrere ärztliche Sachverständige hätten die Auffassung vertreten, die Zuckerharnruhr des Klägers sei Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung; dennoch sei das LSG. dem hiervon abweichenden Gutachten des Dr. H gefolgt, der einzigen für den Kläger negativen, zudem auch noch von einem "Parteigutachter" abgegebenen Beurteilung; das LSG. habe aber auf Grund dieses Gutachtens nicht für "außer Zweifel" halten dürfen, daß die medizinische Beurteilung, die den Bewilligungsbescheiden zugrunde gelegen habe, unrichtig gewesen sei; es habe jedenfalls noch ein Fachgutachten einer Universitätsklinik einholen müssen.

Der Beklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft; der Kläger hat sie frist- und formgerecht eingelegt und begründet, die Revision ist daher zulässig. Sie ist auch begründet. Angefochten sind die beiden Bescheide vom 2. Juli 1952 sowie der Bescheid vom 26. Juni 1957 ("Berichtigungsbescheid"); durch den Bescheid vom 26. Juni 1957 hat der Beklagte die beiden Bescheide vom 2. Juli 1952, in denen die Zuckerharnruhr des Klägers als Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung festgestellt (anerkannt) und die Rente bewilligt worden ist, nach § 41 VerwVG zurückgenommen. Das LSG. hat den Bescheid vom 26. Juni 1957 für rechtmäßig gehalten; die medizinische Beurteilung, die den Bescheiden vom 2. Juli 1952 zugrunde gelegen habe, sei unrichtig gewesen; nach den tatsächlichen Verhältnissen sei die Zuckerharnruhr des Klägers durch seine Kriegsgefangenschaft nicht verschlimmert worden. Das LSG. hat dazu ausgeführt, es habe sich von der tatsächlichen und der hieraus zwangsläufig folgenden rechtlichen Unrichtigkeit der früheren Bescheide so weit überzeugt, daß es jede - auch eine fernliegende - Möglichkeit, es könne anders sein, als ausgeschlossen angesehen habe. Der Kläger rügt zu Recht, das LSG. habe sich diese Überzeugung auf Grund der damals vorliegenden Beweisergebnisse nicht bilden dürfen. Das LSG. hat zwar erkannt, was "außer Zweifel stehen" im Sinne des § 41 VerwVG bedeutet (vgl. auch BSG. 6 S. 106); für seine Feststellungen fehlt es jedoch an ausreichenden Unterlagen. Das LSG. hat die medizinische Beurteilung des Versorgungsarztes Dr. W, die den Bescheiden vom 2. Juli 1952 zugrunde gelegen hat, als "mit den geltenden medizinischen Erkenntnissen unvereinbar" bezeichnet; es hat diese Annahme auf das Gutachten des Dr. H sowie auf medizinisches Schrifttum gestützt. Dr. H hat nun zwar eingehend ausgeführt, im Falle des Klägers könne nach den gegebenen Umständen die Annahme einer "Mitverursachung" (oder Verschlimmerung) der Zuckerharnruhr durch schädigende Einwirkungen der Gefangenschaft ärztlich nicht begründet und nicht vertreten werden; tatsächlich ist aber diese Annahme ärztlich vertreten worden, und zwar nicht nur von dem Versorgungsarzt Dr. W, sondern auch von dem Facharzt für innere Medizin Dr. P, während der Vertrauensarzt der LVA., Dr. G, eine Verschlimmerung des Leidens durch die Gefangenschaft jedenfalls für möglich gehalten hat. Auch diese Ärzte sind - ebenso wie Dr. H - davon ausgegangen, daß es sich bei der Zuckerkrankheit um eine Stoffwechselstörung handele, die im wesentlichen konstitutionellen Ursprungs ist; sie haben dennoch der Kriegsgefangenschaft im vorliegenden Fall Bedeutung zugemessen. Dr. H hat ausgeführt, die unzureichende Ernährung in der Gefangenschaft erscheine nicht geeignet, eine Zuckerkrankheit zu verschlimmern oder eine Zuckerkrankheit aus dem Stadium der Latenz zur Manifestation zu bringen, er hat dies mit statistischen Erhebungen begründet, aus denen sich ergeben habe, daß unter dem Einfluß der kriegsbedingten knappen Ernährung "allgemein" ein Rückgang der Zuckerkrankheit eingetreten sei; es sei auch "unwahrscheinlich", daß eine Zuckerkrankheit durch schwere Arbeit ausgelöst oder verschlimmert werde, jedenfalls werde dies in der medizinischen Literatur nicht behauptet. Dr. H hat ferner erwähnt, es werde vereinzelt - wenn auch mit Zurückhaltung - erörtert, ob eine Zuckerkrankheit durch seelische Insulte verschlimmert oder in Gang gesetzt werden könne; es werde die Meinung vertreten, daß "die seelische Situation in der Kriegsgefangenschaft, denen alle in russischer und tschechischer Gefangenschaft Befindliche ausgesetzt waren, keinen nachweisbaren Einfluß auf die Krankheit im Sinne der Verschlimmerung oder Manifestierung ausgeübt hat".

Danach hat das LSG. zwar davon überzeugt sein dürfen, daß die Zuckerharnruhr des Klägers wahrscheinlich nicht durch die Kriegsgefangenschaft beeinflußt worden ist, es hat daraus aber nicht den Schluß ziehen dürfen, daß jede Möglichkeit, es könne anders sein, ausgeschlossen ist; eine solche Schlußfolgerung ist auch nach dem Gutachten des Dr. H nicht gerechtfertigt. Die Hinweise des LSG. auf das medizinische Schrifttum über die Natur und die Ursachen der Zuckerkrankheit im allgemeinen vermögen eine eingehende medizinische Beurteilung des konkreten Einzelfalles nicht zu ersetzen, zumal auch nach diesem Schrifttum - wie dies auch Dr. H ausgeführt hat - jedenfalls die Möglichkeit erörtert wird, daß in Ausnahmefällen exogene Einflüsse für die Entstehung und den Verlauf der Zuckerkrankheit von Bedeutung sind. Ferner hat Dr. W die Annahme, die Zuckerkrankheit des Klägers sei durch die Gefangenschaft verschlimmert worden, auch mit dem Fehlen der Behandlung während der Zeit der Gefangenschaft begründet. Das LSG. hat dazu lediglich ausgeführt, es habe sich in der medizinischen Literatur, "die dem Senat zur Verfügung gestanden hat", kein Anhalt dafür finden lassen, daß eine so kurze Zeit ohne Insulinbehandlung, wie sie hier vorgelegen habe - Dezember 1945 bis Februar 1946 -, die Krankheit habe so weit verschlimmern können, daß dies später noch nachzuweisen wäre; die medizinischen Folgerungen, die Dr. W gezogen habe, seien daher nach der Überzeugung des Senats tatsächlich unrichtig. Auch für diesen Schluß reichen die Beweise, die damals vorgelegen haben, nicht aus; das LSG. hat nicht selbst die medizinische Beurteilung des Dr. W "anhand" der medizinischen Literatur überprüfen dürfen, es hat vielmehr für die bedeutsamen medizinischen Fragen ärztliche Gutachten, die auf den konkreten Einzelfall abgestellt gewesen sind, heranziehen müssen (vgl. auch Urteil des BSG. vom 25.8.1955 in SozR. Nr. 2 zu § 128 SGG); hierzu hat auch die Frage gehört, ob es erheblich ist, daß der Kläger zeitweise nicht hat behandelt werden können. Das LSG. hat die Gutachten der Ärzte Dr. G und Dr. P zwar erwähnt, es hat sie aber nicht ausgewertet. Wenn es festgestellt hat, es sei "außer Zweifel", daß die Bescheide vom 2. Juli 1952 im Zeitpunkt ihres Erlasses tatsächlich und rechtlich unrichtig gewesen seien, so hat es damit nicht die Grenzen eingehalten, die ihm durch die Pflicht zur erschöpfenden und sachgemäßen Auswertung aller Beweise gesteckt sind; es hat sich auch nicht mit den vorliegenden medizinischen Beweisunterlagen begnügen dürfen; es hat sich vielmehr veranlaßt sehen müssen, ein weiteres ärztliches Gutachten einzuholen. Das LSG. hat überhaupt keine geeigneten medizinischen Beweise dafür gehabt, ob es bedeutsam gewesen ist, daß der Kläger zeitweise nicht behandelt worden ist, es hat den Sachverhalt aber auch im übrigen medizinisch nicht ausreichend aufgeklärt; es hat im wesentlichen nur die Gutachten der Ärzte des Beklagten herangezogen und ausgewertet; diese Ärzte haben zudem teilweise verschiedene Auffassungen vertreten. Unter diesen Umständen hat sich das LSG. gedrängt fühlen müssen, von Amts wegen ein abschließendes Gutachten eines ärztlichen Sachverständigen einzuholen, zumal es darüber zu entscheiden gehabt hat, ob die Voraussetzungen für die Rücknahme eines Bewilligungsbescheides nach § 41 VerwVG vorgelegen haben. Das LSG. hat sonach die §§ 103, 128 SGG verletzt, seine Feststellungen reichen für die Entscheidung über die Berufung des Klägers, soweit sie den Bescheid vom 26. Juni 1957 betrifft, nicht aus. Die Revision ist daher begründet. Das Urteil des LSG. ist aufzuheben. Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden, der Sachverhalt bedarf weiterer Aufklärung. Die Sache ist deshalb an das LSG. zu neuer Entscheidung zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG). Ergibt sich, daß der Bescheid vom 26. Juni 1957 rechtswidrig ist, so hat das LSG. auch noch über die Berufung des Klägers gegen das Urteil des OVA. vom 11. März 1953 zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325665

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