Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufklärung des Sachverhalts durch das Gericht für die Zeit nach der Rentenentziehung?
Leitsatz (redaktionell)
Einer besonderen Beweisaufnahme zur Feststellung einer etwaigen Änderung in den Verhältnissen des Rentenbewerbers in der Zeit zwischen der Antragstellung und der letzten mündlichen Verhandlung bedarf es nur beim Vorliegen besonderer Umstände, die ernstlichen Anlaß zur Annahme einer Änderung in den Verhältnissen geben.
Orientierungssatz
Zur Frage, ob in dem Wegfall des Krebsverdachtes, der Arbeitsleistungen als nicht ratsam erscheinen ließ, eine "Änderung der Verhältnisse" iS des RVO § 1286 zu sehen ist.
Normenkette
RVO § 1286 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; SGG § 103
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 2. Juli 1965 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin, die von 1928 bis 1950 als Hilfsarbeiterin und Büglerin - mit Unterbrechungen - rentenversicherungspflichtig beschäftigt war, mußte sich am 23. Februar 1961 einer Brustoperation unterziehen; die linke Brust wurde wegen des Verdachts einer bösartigen Geschwulsterkrankung amputiert. Die feingewebliche Untersuchung ergab ein carzinomverdächtiges zellreiches Fibroadenom.
Durch Bescheid vom 22. Juni 1961 gewährte die beklagte Landesversicherungsanstalt der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. Januar 1961 an. Der Rentengewährung lag ein Gutachten der Med Rätin Dr. B vom 20. April 1961 zugrunde, in welchem der Zustand nach der Amputation im Vordergrund steht, im übrigen aber auch eine nervöse und vegetative Übererregbarkeit, eine coronare Mangeldurchblutung, eine leichte Schilddrüsenvergrößerung, eine beginnende Arthrosis deformans der Kniegelenke und eine Varicosis am linken Unterschenkel festgestellt sind. Bis 1963 gewährte die Beklagte der Klägerin in jedem Jahre eine Erholungskur.
Zu Beginn des Jahres 1964 wurde die Klägerin von Med. Direktor Dr. P und außerdem - stationär in den Städtischen Krankenanstalten W - von den Ärzten Dr. G und Dr. Q nachuntersucht. Diese Ärzte stellten eine Besserung im Gesundheitszustand der Klägerin fest. Dr. G/Dr. Q führten aus: Die Brusterkrankung, deretwegen die Operation erfolgt und die Rente gewährt worden sei, könne mit Vorbehalt als geheilt betrachtet werden. Die durch die Operationsnarben bedingten Beschwerden seien geringfügig. Die Klägerin sei gesundheitlich in der Lage, leichte Frauenarbeiten nicht überwiegend im Stehen in geschlossenen Räumen für die Dauer bis zu fünf Stunden täglich zu verrichten.
Daraufhin entzog die Beklagte durch Bescheid vom 30. April 1964 die Rente vom 1. Juli 1964 an mit der Begründung, der Gesundheitszustand der Klägerin habe sich durch die Ausheilung des Leidens gebessert.
Mit der Klage hat die Klägerin beantragt, den Entziehungsbescheid aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Rente über den 30. Juni 1964 hinaus weiterzugewähren. Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat die Klage durch Urteil vom 26. August 1964 aus den Gründen des Entziehungsbescheides abgewiesen.
Im Berufungsverfahren hat die Klägerin vorgetragen: Das SG habe ihre Leiden, vor allem die durch die Operation vom Februar 1961 und die anschließenden Röntgentiefenbestrahlungen verursachten gesundheitlichen Schäden, nicht genügend berücksichtigt. Sie sei nicht mehr in der Lage, neben ihrer Hausarbeit einer halbtägigen Erwerbsarbeit nachzugehen. Ihr Gesundheitszustand verschlechtere sich ständig weiter. Dr. H, bei dem sie jetzt in Behandlung sei, habe ihr wegen Verhärtungen der Muskulatur Massagen und Bäder verordnet. Außerdem habe ihr die Med Rätin Dr. H vom Gesundheitsamt W geraten, den Arzt aufzusuchen, der sie operiert habe, um feststellen zu lassen, was mit ihrem Arm sei. Sie sei auch bei dem Ohrenarzt Dr. K in Behandlung; er wolle ihr Wucherungen im Ohr in ambulanter Operation entfernen.
Das LSG Nordrhein-Westfalen hat durch Urteil vom 2. Juli 1965 die Berufung der Klägerin mit folgender Begründung zurückgewiesen: Die Beklagte habe die Rente mit Recht entzogen; denn die Klägerin sei infolge einer Besserung ihres Gesundheitszustandes nicht mehr berufsunfähig. - Es könne dahinstehen, ob mit den Verhältnissen zur Zeit der Rentenentziehung (April 1964) die Verhältnisse bei der Erteilung des Rentenbescheides (Juni 1961) oder die Verhältnisse zu der Zeit, von der an Rente gewährt worden sei (Januar 1961), zu vergleichen seien. Beide Vergleiche führten zu dem Ergebnis, daß die Verhältnisse sich wesentlich geändert hätten. Im Januar 1961 habe ein krebsverdächtiger Zustand bestanden, der die Radikaloperation der linken Brust erforderlich gemacht habe. Im Juni 1961 sei zwar die Operation durchgeführt, aber die Serie der Röntgenbestrahlungen und die Behandlungsbedürftigkeit noch nicht abgeschlossen sowie der Operationserfolg noch nicht gesichert gewesen. Dagegen sei zur Zeit der Rentenentziehung die verdächtige Geschwulst beseitigt und wegen Ausheilung des Leidens ohne nennenswerten Funktionsausfall eine Behandlung nicht mehr erforderlich gewesen. Die übrigen von den Sachverständigen festgestellten Gesundheitsstörungen beeinträchtigten die Erwerbsfähigkeit der Klägerin nicht in entscheidendem Maße. Sie sei ohne Gefährdung ihrer Gesundheit in der Lage, für die Dauer von fünf Stunden täglich leichte Frauenarbeiten zu verrichten. - Ob im Gesundheitszustand der Klägerin nach der Rentenentziehung eine Verschlechterung eingetreten sei, habe das Gericht nicht zu prüfen gehabt; bei Anfechtungsklagen gegen Rentenentziehungsbescheide sei nur die Sach- und Rechtslage bei der Bescheiderteilung zu berücksichtigen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat das Rechtsmittel eingelegt und mit folgenden Ausführungen begründet: Der Rentengewährung hätten die von der Med Rätin Dr. B gestellten Diagnosen zugrunde gelegen. Danach sei die Rente nicht nur wegen des Zustandes nach der linksseitigen Brustamputation gewährt worden, sondern wegen einer Reihe von objektiv feststellbaren Krankheitserscheinungen. Sie, die Klägerin, habe vor dem LSG geltend gemacht, die Krankheitserscheinungen in ihrem Gesamtbefund hätten sich so erheblich verschlechtert, daß eine Entziehung der Rente nicht gerechtfertigt sei; sie habe insbesondere darauf hingewiesen, daß in der rechten Achsel sich nunmehr auch ein starker Knoten gebildet habe, der den Verdacht auf CA rechtfertige. Das LSG hätte prüfen müssen, ob nach der Entziehung der Rente die bestehenden Leiden sich verschlimmert hätten oder andere hinzugetreten seien.
Die Klägerin beantragt,
ihr unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit weiterzugewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie bezieht sich auf die Entscheidungsgründe der Vorinstanzen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Die Vorinstanzen haben mit Recht der auf Aufhebung des Rentenentziehungsbescheides vom 30. April 1964 gerichteten Klage den Erfolg versagt. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Entziehung der wegen Erwerbsunfähigkeit gewährten Rente waren gegeben, weil die Klägerin im April 1964 infolge einer Änderung in ihren Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig war (§ 1286 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Bei der Prüfung, ob zu dieser Zeit die Verhältnisse der Klägerin - vor allem in ihrem Gesundheitszustand und in ihrer Leistungsfähigkeit - sich geändert hatten, konnte das LSG es unentschieden lassen, welcher Ausgangszeitpunkt dem anzustellenden Vergleich zugrunde zu legen ist, ob nämlich von den Verhältnissen zu der Zeit, von der an die Rente gewährt wurde (Januar 1961), oder von den Verhältnissen bei Erteilung des Rentenbescheides (Juni 1961) auszugehen ist (vgl. hierzu u. a. BSG SozR Nr. 9 zu § 1286 RVO und 4 RJ 395/65 vom 29.6.1967 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung, wonach als maßgeblicher Ausgangszeitpunkt der Erlaß des Rentenbewilligungsbescheides anzusehen ist). Das LSG brauchte sich zwischen diesen beiden Alternativen nicht zu entscheiden, weil es für beide Fälle zum gleichen Ergebnis gekommen ist. Nach den von ihm getroffenen und im Revisionsverfahren nicht angegriffenen, also das Bundessozialgericht (BSG) bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) war die Klägerin im ersten Halbjahr 1961 wegen einer karzinomverdächtigen Geschwulsterkrankung der linken Brust auf nicht absehbare Zeit unfähig, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die Erwerbsunfähigkeit bestand nicht nur bis zur Operation, sondern darüber hinaus, jedenfalls bis zur Rentenbewilligung am 22. Juni 1961, weil die Klägerin weiterhin behandlungs- und schonungsbedürftig war, vor allem aber ein Weiterwuchern des Krebses - falls es sich um eine bösartige Geschwulst gehandelt hatte - noch nicht ausgeschlossen werden konnte. Demgegenüber war zur Zeit der Rentenentziehung die Brusterkrankung ohne nennenswerten Funktionsausfall als ausgeheilt anzusehen und Heilbehandlung im wesentlichen entbehrlich.
Die Klägerin konnte zu dieser Zeit wieder ohne Gefährdung ihrer Gesundheit täglich für die Dauer von fünf Stunden leichte Frauenarbeiten verrichten und damit mindestens die Hälfte des Lohnes einer Hilfsarbeiterin erzielen. - Auf Grund dieses Sachverhalts ist das LSG ohne Rechtsirrtum zu dem Ergebnis gelangt, daß bei der Klägerin eine Änderung der Verhältnisse eingetreten ist, die ihre Berufsunfähigkeit beseitigt hat. Die Änderung der Verhältnisse ist nicht nur in dem - jedenfalls weitgehenden - Wegfall der Behandlungsbedürftigkeit der Brusterkrankung, sondern vor allem in dem Wegfall des Krebsverdachts zu sehen, der Arbeitsleistungen als nicht ratsam erscheinen ließ, weil sonst mit schädlichen Folgen zu rechnen war. Mit der Begründung, daß der Wegfall von Krebsverdacht eine Änderung der Verhältnisse gegenüber dem Zustand bedeutet, der während des Bestehens des Verdachts zur Rentenbewilligung geführt hatte, hat der erkennende Senat bereits früher (BSG 17, 295) in einem ähnlich gestalteten Fall die Entziehung einer Rente bestätigt. Bedenken gegen die Richtigkeit dieser Rechtsprechung hat die Revision nicht vorgebracht. Mit ihrer Behauptung, daß die Beklagte wegen des Bestehens auch anderer Leiden der Klägerin diese nicht hätte als erwerbsfähig ansehen und deshalb die Rente nicht hätte entziehen dürfen, kann die Klägerin im Revisionsverfahren nicht gehört werden, weil diesem Vorbringen der bindend festgestellte Sachverhalt entgegensteht.
Das angefochtene Urteil ist - jedenfalls im Ergebnis - auch nicht deshalb zu beanstanden, weil das LSG zu prüfen unterlassen hat, ob die mit Wirkung vom 1. Juli 1964 zu Recht entzogene Rente von einem späteren Zeitpunkt an wegen einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin hätte wiedergewährt werden müssen. Der Revision ist allerdings zuzugeben, daß nach einer Reihe von Entscheidungen des BSG, auch des erkennenden Senats, (vgl. SozR Nrn. 4 und 5 zu § 1293 RVO aF; BSG 9, 151, 153 und 17, 295, 299) bei Klagen, mit denen die Aufhebung eines Rentenentziehungsbescheides und die Weitergewährung der Rente verlangt wird, auf die Sachlage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz abzustellen ist. Demgegenüber lassen sich Stützen für die vom LSG vertretene Auffassung, daß in Fällen der vorliegenden Art die Sachlage zur Zeit der Bescheiderteilung maßgebend sei, beispielsweise in den in BSG 7, 8, 13 und 8, 11, 14 veröffentlichten Urteilen finden. Eine abschließende Stellungnahme zu dieser nicht einhelligen Rechtsprechung erfordert die hier zu treffende Entscheidung jedoch nicht. Auch wenn man der Auffassung der Revision beipflichtet, folgt daraus nicht ohne weiteres, daß das Gericht unter allen Umständen gehalten wäre, den Sachverhalt auch für die Zeit nach der Rentenentziehung - etwa durch Einholung weiterer Gutachten - aufzuklären. Es gibt Fälle, in denen die der Rentenentziehung zugrunde liegenden medizinischen Befunde eine weitere Beweiserhebung nicht geboten erscheinen lassen und auch das Prozeßvorbringen des Versicherten nicht dazu drängt. Für eine zusammengefaßte Aufhebungs- und Leistungsklage gegen einen Rentenablehnungsbescheid hat der erkennende Senat bereits durch Urteil vom 28. November 1957 (SozR Nr. 25 zu § 54 SGG) ausgesprochen, daß es einer besonderen Beweisaufnahme zur Feststellung einer etwaigen Änderung in den Verhältnissen des Rentenbewerbers in der Zeit zwischen der Antragstellung und der letzten mündlichen Verhandlung nur beim Vorliegen besonderer Umstände bedürfe, die ernstlichen Anlaß zur Annahme einer Änderung in den Verhältnissen gäben. Entsprechendes gilt bei einer Klage gegen einen Rentenentziehungsbescheid für die Zeit nach der Entziehung der Rente. In dieser Hinsicht waren die im Verwaltungsverfahren im Jahre 1964 gehörten Ärzte Dr. G und Dr. Q zu einem eindeutigen Ergebnis im Sinne der Bejahung der Berufsfähigkeit der Klägerin gekommen, und es bestand "nicht die Gefahr, daß ihr Zustand demnächst zur Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit führen" werde (Gutachten S. 15 Ziff 8). Auch das Berufungsvorbringen der Klägerin war nicht so schwerwiegend, daß sich eine weitere Beweisaufnahme hätte aufdrängen müssen. Die Behauptung der Revision, die Klägerin habe vor dem Berufungsgericht auf eine karzinomverdächtige starke Knotenbildung in der rechten Achsel hingewiesen, trifft nicht zu; sie wird durch die Niederschrift über den Erörterungstermin vom 26. Februar 1965 vor dem Berichterstatter des LSG widerlegt. Was die Klägerin in bezug auf Nachwirkungen der Operation vorgetragen hat, läuft auf eine Verneinung einer gesundheitlichen Besserung, aber nicht auf eine greifbar deutlich gemachte Verschlimmerung hinaus. Den Rahmen der von den Sachverständigen des Verwaltungsverfahrens abgegebenen Begutachtungen überschreitet lediglich der Hinweis auf die Notwendigkeit einer - ambulant durchzuführenden - Ohroperation. Dabei hat es sich jedoch erkennbar nicht um eine Gesundheitsstörung mit Dauerfolgen, sondern um eine akute Krankheit gehandelt, der für den Rentenanspruch keine nennenswerte Bedeutung zukam. - Nach alledem lagen keine besonderen Umstände vor, die das Berufungsgericht zu einer weiteren Aufklärung und Feststellung des Sachverhalts hätten veranlassen müssen.
Das LSG hat deshalb im Ergebnis mit Recht die durch das SG ausgesprochene Klagabweisung bestätigt. Die Revision muß zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen