Leitsatz (amtlich)

Der Anrechnung einer Verfolgungszeit als Ersatzzeit (RVO § 1251 Abs 1 Nr 4) steht nicht entgegen, daß der Verfolgte zu einer anderen Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Vorschub geleistet hat und deshalb von einer Entschädigung nach dem BEG ausgeschlossen ist (BEG § 6 Abs 1 Nr 1).

 

Normenkette

RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23; BEG § 6 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1956-06-29

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. Mai 1964 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Zeit der Verbüßung einer - unter dem Nationalsozialismus wegen eines sogenannten "Rundfunkverbrechens" verhängten - Zuchthausstrafe in den Jahren 1941 bis 1945 durch den Versicherten, den im Verlaufe dieses Verfahrens verstorbenen Ehemann der Klägerin, bei der Berechnung der Rente als Ersatzzeit im Sinne des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu berücksichtigen ist.

Der Versicherte stellte im Hinblick auf diese Bestrafung mehrmals - erfolglos - Anträge auf Entschädigung wegen politischer Verfolgung. Sein letzter, nach dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG) vom 29. Juni 1956 gestellter Antrag wurde durch den - bindend gewordenen - Bescheid des Regierungspräsidenten in Arnsberg vom 28. Februar 1958 abgelehnt. Der Antragsteller, so heißt es darin, habe dadurch, daß er 1936 oder 1937 seine damalige Ehefrau bei der "Gestapo" angezeigt habe, der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Vorschub geleistet; er sei daher nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 BEG von einer Entschädigung ausgeschlossen. - Die Frage, ob der Versicherte überhaupt Verfolgter sei, blieb offen.

Durch Bescheid vom 4. Januar 1958 gewährte die Beklagte dem Versicherten mit Wirkung vom 1. Juni 1957 an das Altersruhegeld. Die Zeit der Verbüßung der wegen "Rundfunkverbrechens" verhängten Strafe wurde bei Berechnung der Rente nicht berücksichtigt.

Klage und Berufung, die auf die Anrechnung dieser Zeit als Ersatzzeit gerichtet waren, sind ohne Erfolg geblieben (Urteile des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 10. März 1960 und des Landessozialgerichts - LSG - Nordrhein-Westfalen vom 12. Mai 1964). Das LSG hat seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet: Da der Versicherungsfall im Jahre 1957 eingetreten sei, komme eine Anrechnung der Zeit der Inhaftierung des Versicherten als Ersatzzeit nur beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO in Betracht. Hiernach müsse der Versicherte Verfolgter im Sinne des § 1 BEG gewesen sein. Dies sei aber nicht der Fall. Der Versicherte sei durch den Bescheid der Entschädigungsbehörde vom 28. Februar 1958 von der Entschädigung und, weil dieser Bescheid die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit binde, zugleich auch aus dem Kreis der politisch Verfolgten im Sinne des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO ausgeschlossen worden. Zwar nehme § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO auf § 6 BEG - auf diese Vorschrift sei der Ausschluß von der Entschädigung gestützt worden - nicht ausdrücklich Bezug. Dies könne aber nur ein Redaktionsversehen sein. Aus dem Grundgedanken des Gesetzes, der mit auf eine Vereinheitlichung des Entschädigungsrechts gerichtet sei, ergebe sich, daß eine Entschädigung im Rahmen der Rentenversicherung wegen politischer Verfolgung dann nicht gewährt werden dürfe, wenn eine Entschädigung nach dem BEG versagt worden sei. Ob der Ausschluß von der Entschädigung nach dem BEG zu Recht erfolgt sei, könne von den Versicherungsträgern und den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nicht nachgeprüft werden. Die Beklagte habe daher zu Recht die Zeit der Verbüßung der Zuchthausstrafe nicht als Ersatzzeit angerechnet. - Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Klägerin hat Revision eingelegt. Sie rügt eine fehlerhafte Anwendung des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO. § 6 BEG sei in dieser Vorschrift nicht erwähnt, ihm komme daher in der Rentenversicherung keine Bedeutung zu. Der Versicherungsträger habe - ebenso wie die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit - das Vorliegen der Voraussetzungen des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO unabhängig von einer zuvor im Rahmen des BEG ergangenen Entscheidung selbständig zu prüfen. Im Sinne dieser Vorschrift sei der Versicherte Verfolgter gewesen.

Sie beantragt,

unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen die Beklagte zur Zahlung des Altersruhegeldes unter Anrechnung der Zeit vom 17. Oktober 1941 bis zum 3. April 1945 zu verurteilen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.

Das Berufungsgericht durfte nicht bereits im Hinblick auf den - bindend gewordenen - ablehnenden Bescheid der nach dem BEG zuständigen Entschädigungsbehörde den Anspruch auf Anrechnung einer Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO verneinen. Dieser Anspruch ist nicht von der Gewährung einer Entschädigung nach dem BEG abhängig, vielmehr sind die Versicherungsträger und Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit verpflichtet, die für die Anrechnung von Ersatzzeiten wegen Verfolgungsmaßnahmen erheblichen Umstände selbst - unabhängig von der Entschädigungsbehörde - festzustellen. Das hat das Bundessozialgericht (BSG) bereits mehrmals entschieden (BSG in SozR Nr. 20 und Nr. 26 zu § 1251 RVO). Auch im Schrifttum wird diese Auffassung geteilt (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1967, S. 678; Kommentar zur RVO, 4. und 5. Buch, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, 6. Auflage, § 1251 Anm. 20). Der erkennende Senat hat - nach Prüfung der Sach- und Rechtslage - keinen Anlaß, von der bisherigen Rechtsprechung des BSG abzuweichen. Das LSG hätte also prüfen müssen, ob im vorliegenden Fall der Tatbestand des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO erfüllt ist. Dies ist nicht schon deshalb zu verneinen, weil eine Entschädigung nach dem BEG möglicherweise aufgrund dessen § 6 ausgeschlossen ist. Dieser Vorschrift kommt im Rahmen des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO entgegen der Meinung des LSG keine Bedeutung zu. In § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO ist nur auf die §§ 1, 43 BEG Bezug genommen. Hiernach werden als Ersatzzeiten angerechnet u. a. Zeiten der Freiheitsentziehung im Sinne des § 43 BEG, wenn der Versicherte Verfolgter im Sinne des § 1 BEG ist. Nicht gefordert wird, daß er auch entschädigungsberechtigt ist, also Entschädigungsansprüche nicht ausgeschlossen sind. Der Gesetzestext spricht bereits gegen das vom LSG gewonnene Ergebnis. Durch den Wortlaut allein muß nicht schon die Berücksichtigung der Tatbestände des § 6 BEG im Rahmen der Ersatzzeitenregelung ausgeschlossen sein. Ihm könnte dann keine entscheidende Bedeutung beigemessen werden, wenn der Sinn und Zweck des Gesetzes die Übernahme des § 6 BEG erforderten. Daß dies der Fall sei, wird - außer von der Vorinstanz - auch in einer Entscheidung des Hessischen LSG (vgl. RzW 1964, 568) angenommen. Diese Auffassung vermag den Senat jedoch nicht zu überzeugen. In § 1251 Abs. 1 RVO sind näher bestimmte Zeiten aufgezählt, die als Ersatzzeiten anzurechnen sind. Auf diese Weise soll erreicht werden, daß Versicherte, für die während einer solchen Zeit keine Beiträge entrichtet wurden, innerhalb der Rentenversicherung keinen wesentlichen Nachteil erleiden. Dieser Zweck verträgt keine Einschränkung der in Rede stehenden Art. Deshalb ist im § 1251 Abs. 1 RVO auf objektive Tatbestände abgestellt, nur ausnahmsweise auch darauf, daß die fehlende Beitragsentrichtung nicht von dem Versicherten verschuldet ist. Wie allgemein in der Rentenversicherung kommt es auf persönliche Eigenschaften des Versicherten nicht an, Werturteile über die Person des Versicherten sind dieser Vorschrift - und der RVO - fremd. Dagegen haben die Ausschließungs- und Verwirkungstatbestände des § 6 BEG den Sinn, die Gewährung einer Entschädigung trotz des Vorliegens der Verfolgteneigenschaft zu verhindern, wenn der Verfolgte einer Entschädigung unwürdig erscheint. Hier wird nämlich auf die Mitgliedschaft in der NSDAP, ein "Vorschubleisten" oder auf ein späteres ehrloses Verhalten abgestellt. Wenn nun im allgemeinen der Rentenversicherung Regelungen dieser Art fremd sind, so hätte man, falls doch die Einbeziehung derartiger Erwägungen in die Ersatzzeitenordnung erwünscht gewesen sein sollte, eine ausdrückliche Erwähnung im Gesetz oder wenigstens einen erkennbaren Hinweis erwarten dürfen. Ein solcher Hinweis fehlt aber. Es liegt sogar nahe, daß der Gesetzgeber allein auf § 1 BEG abstellen wollte. Vor dem Inkrafttreten des § 1251 RVO - 1. Januar 1957 - war für die Entschädigung der Verfolgten des Nationalsozialismus auf dem Gebiet der Rentenversicherung das Gesetz über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung vom 22. August 1949 - VerfolgtenG - (WiGBl S. 263) maßgebend. Im § 1 VerfolgtenG ist der Begriff des Verfolgten erläutert. Tatbestände wie die des § 6 BEG sind in diesem Gesetz nicht enthalten; es bestand keine Vorschrift, wonach bei bestimmten gemißbilligten Verhaltensweisen die Anrechnung einer Verfolgungszeit als Ersatzzeit ausgeschlossen war. Das Fehlen einer solchen Vorschrift war dem Zweck der Ersatzzeiten gemäß und ist darum nie entbehrt worden. Ein Anhalt dafür, daß durch die neue Gesetzgebung auf dem Gebiet der Rentenversicherung, die nunmehr auf Vorschriften des BEG Bezug nimmt, entgegen seinem Wortlaut eine Einengung des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO im Sinne des § 6 BEG erfolgen sollte, ist nicht ersichtlich.

Entsprechend diesen Ausführungen wird über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO und über den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch - unabhängig von dem Bescheid der Entschädigungsbehörde - zu entscheiden sein. Das BSG ist gehindert, dies selbst zu tun, weil nicht ersichtlich ist, ob insoweit die erforderlichen Tatsachenfeststellungen getroffen sind. Die Tatsachenfeststellungen, die das angefochtene Urteil in diesem Zusammenhang enthält, waren für die Entscheidung des LSG ohne Bedeutung. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, daß sie unvollständig sind. Aus diesem Grunde muß der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324413

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