Entscheidungsstichwort (Thema)
Zum gewöhnlichen Aufenthalt bei Ehegatten, von denen der eine bereits im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland lebt. Auch bei Ehegatten, von denen der eine bereits im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland lebt, wird für den anderen ein gewöhnlicher Aufenthalt dort nicht schon durch den bloßen Wunsch begründet, gemeinsam in Deutschland zu leben
Beteiligte
Klägerin und Revisionsbeklagte |
Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob im Versicherungskonto der Klägerin Kindererziehungszeiten für die Zeit vom 1. September 1955 bis 30. April 1956 vorzumerken sind.
Die 1931 geborene Klägerin war zunächst österreichische Staatsangehörige. Seit ihrer Eheschließung mit einem Deutschen am 28. August 1954 besitzt sie die deutsche Staatsangehörigkeit. Ihr ältestes Kind, G. M. , ist am 15. August 1955 in B. am Inn (Österreich) geboren. Die Klägerin wohnte nach ihrer Heirat und der Geburt dieses Kindes noch bis zum 1. Mai 1956 an ihrem bisherigen Wohnsitz in B. in einer von ihr gemieteten Wohnung. Ihr Ehemann lebte in S. am Inn (Bundesrepublik Deutschland) bei seinen Eltern und war dort erwerbstätig. Seit Mai 1956 lebte die Klägerin mit ihrem Mann in einer gemeinsamen Wohnung in P. .
Die Beklagte berücksichtigte bei der Klägerin wegen der Erziehung des Sohnes G. die Zeit vom 1. Mai bis 31. August 1956 als Pflichtbeitragszeit wegen Kindererziehung. Die Vormerkung einer Pflichtbeitragszeit vom 1. September 1955 bis 30. April 1956 lehnte sie ab (Bescheid vom 5. April 1991). Den Widerspruch, den die Klägerin damit begründete, daß sich ihr geplanter Umzug durch die damaligen Verhältnisse bis Mai 1956 verzögert habe, wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 7. November 1991).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 29. Juli 1992). Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) dieses Urteil aufgehoben und die Beklagte unter Abänderung ihrer Bescheide verurteilt, im Versicherungsverlauf der Klägerin die Zeit vom 1. September 1955 bis 30. April 1956 als weitere Kindererziehungszeit vorzumerken (Urteil vom 14. Oktober 1993). Die Voraussetzung des § 56 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) für die Anerkennung einer Kindererziehungszeit sei auch für diese Zeit erfüllt. Die Klägerin habe, wie dies § 56 Abs. 3 Satz 1 SGB VI fordere, mit dem Kind ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland gehabt. Sie habe aus rechtlichen Gründen ihren Wohnsitz während der fraglichen Zeit nur vorübergehend nicht im Inland gehabt.
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Senat zugelassene Revision der Beklagten.
Die Beklagte rügt eine Verletzung von § 56 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 SGB VI. Die Klägerin habe mit ihrem Kind vor dem 1. Mai 1956 keinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland gehabt. Sie habe vor diesem Zeitpunkt niemals in der Bundesrepublik Deutschland gewohnt. Für den gewöhnlichen Aufenthalt werde der Aufenthaltsort durch das rein tatsächliche Verweilen des Betroffenen bestimmt. Ein vorübergehender Aufenthalt im Ausland könne eine Ausnahme von dem dargestellten Grundsatz rechtfertigen. Dies aber nur dann, wenn die Klägerin vor diesem Auslandsaufenthalt ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des SGB VI gehabt, das Bundesgebiet also lediglich vorübergehend verlassen habe.
Die Beklagte beantragt,
|
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 14. Oktober 1993 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 29. Juli 1992 als unbegründet zurückzuweisen. |
|
Die Klägerin beantragt,
|
die Revision zurückzuweisen. |
|
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Das LSG habe aus ihren und den Lebensumständen ihres Ehemannes den zutreffenden Schluß gezogen, daß sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Österreich, sondern Deutschland gehabt habe. Es sei davon auszugehen, daß sie mit ihrem Ehemann spätestens nach der Eheschließung einen gemeinsamen Hausstand begründet hätte.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Das Urteil des LSG ist aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das klagabweisende Urteil des SG zurückzuweisen. Die angefochtenen Bescheide sind nicht rechtswidrig.
Auf den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Vormerkung einer Pflichtbeitragszeit wegen Kindererziehung sind nach § 300 Abs. 1 SGB VI die Vorschriften dieses Gesetzes anzuwenden. Davon ist das LSG zutreffend ausgegangen. Die Beklagte hat danach zu Recht die Vormerkung (§ 149 Abs. 5 Satz 1 SGB VI) einer Pflichtbeitragszeit wegen Kindererziehung (§ 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 56 SGB VI) zugunsten der Klägerin für die Zeit vom 1. September 1955 bis 30. April 1956 für das Kind G. abgelehnt. Diese Zeit ist keine Pflichtbeitragszeit wegen Kindererziehung, denn sie ist nach § 56 SGB VI nicht als Kindererziehungszeit anzurechnen. In § 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VI wird für die Anrechnung einer Kindererziehungszeit u.a. vorausgesetzt, daß die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist oder einer solchen gleichsteht. Nach Abs. 3 Satz 1 der Vorschrift ist eine Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt, wenn der erziehende Elternteil sich mit dem Kind dort gewöhnlich aufgehalten hat. Diese Voraussetzungen hat die Klägerin mit ihrem Kind bis zum 30. April 1956 nicht erfüllt. Das ergibt sich nicht nur bei Beachtung der Bestimmung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthaltes in § 30 Abs. 3 Satz 2 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I), sondern auch aus der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu den Voraussetzungen für die Anrechnung von Kindererziehungszeiten.
Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Das LSG hat festgestellt, daß die Klägerin sich tatsächlich bis April 1956 mit ihrem Kind in B. aufgehalten hat. Ein tatsächlicher Aufenthalt im Sinne eines Verweilens in der Bundesrepublik Deutschland vor Mai 1956 ist vom LSG nicht festgestellt worden. Zu Recht ist das LSG nach diesen Feststellungen davon ausgegangen, daß die Klägerin, jedenfalls bis zu ihrer Eheschließung, ihren gewöhnlichen Aufenthalt i.S. von § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I in B. und damit außerhalb des Gebietes der Bundesrepublik Deutschland hatte. Entgegen der Ansicht des LSG hat die Klägerin weder als Folge der Eheschließung noch durch ihren Wunsch, mit ihrem Ehemann in P. eine gemeinsame Wohnung zu beziehen, einen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland begründet, bevor sie im Mai 1956 die gemeinsame Wohnung tatsächlich bezogen hat.
Es kann offenbleiben, ob die Klägerin entsprechend dem 1955 noch nicht formell aufgehobenen § 10 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) seit der Eheschließung ihren Wohnsitz am Wohnsitz ihres Ehemannes hatte. Auch damit wäre ein gewöhnlicher Aufenthalt der Klägerin am Wohnsitz des Ehemannes nicht begründet worden. Der "fingierte" Wohnsitz des § 10 BGB und der gewöhnliche Aufenthalt müssen nicht zusammenfallen. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes knüpft an die tatsächlichen Verhältnisse an. Er setzt voraus, daß der Betreffende sich überhaupt an dem Ort des gewöhnlichen Aufenthaltes aufhält und hier den Schwerpunkt seiner Lebensverhältnisse hat (vgl. BSG SozR 3-1200 § 30 Nr. 5). Ein einmal begründeter gewöhnlicher Aufenthalt endet auch nicht schon dann, wenn sein Ende unmittelbar bevorsteht (vgl. BSGE 60, 262 = SozR 1200 § 30 Nr. 10). Insbesondere wird allein durch den Wunsch, an einem anderen Ort als dem bisherigen Aufenthaltsort Aufenthalt zu nehmen, noch nicht ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt begründet. Dies gilt auch dann, wenn ein Ehegatte bereits im Bundesgebiet lebt und der andere in das Bundesgebiet ziehen will. Zur Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts gehört auch das tatsächliche Verweilen am neuen Aufenthaltsort. Bei einem erstmaligen Zuzug aus dem Ausland in das Gebiet der Bundesrepublik bedeutet dies, daß der gewöhnliche Aufenthalt hier erst begründet ist, wenn der Betreffende nicht nur vorübergehend in Deutschland verweilt. Solange der Aufenthalt nur besuchsweise besteht, ist dies kein gewöhnlicher Aufenthalt i.S. von § 30 SGB I.
Diese Grundsätze hat das BSG schon einer Entscheidung zu § 1319 der Reichsversicherungsordnung in der bis zum 1. Juni 1979 geltenden Fassung (RVO aF) für den Fall des unfreiwilligen Verbleibens in der DDR zugrunde gelegt (vgl. SozR Nr. 5 zu § 1317 RVO). Die Vorschrift bestimmte in Abs. 1, daß für Zeiten des vorübergehenden Aufenthalts außerhalb des Geltungsbereichs der RVO die volle Rente gezahlt wird. Nach Abs. 2 war bei gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland dagegen die Rentenzahlung eingeschränkt. Das BSG hat seinerzeit vorausgesetzt, daß jemand einen vorübergehenden Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereichs der RVO nur dann haben kann, wenn er vor diesem Aufenthalt seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich der RVO gehabt - sich dort also tatsächlich aufgehalten - hat. Schon aus diesem Grundsatz heraus kann der Schluß des LSG, die Klägerin habe zwar noch bis Ende April 1956 mit ihrem Kind in B. gewohnt, aber spätestens mit dem Arbeitsplatzwechsel ihres Ehemannes nach P.
im Juli 1955 ihren dauernden gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich aufgegeben und sich dort bis zu ihrem Umzug nach P. nur noch vorübergehend aufgehalten, rechtlich keinen Bestand haben.
Auch in späteren Entscheidungen ist, soweit erkennbar, nicht erwogen worden, jemand könne schon dann an einem Ort seinen gewöhnlichen Aufenthalt haben, an dem er sich nie tatsächlich aufgehalten hat, wenn er sich in Zukunft dort aufhalten will. Die Entscheidungen des BSG zum Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts i.S. von § 30 SGB I betrafen bisher nur Fälle, in denen entweder streitig war, ob ein Aufenthalt im Ausland nur vorübergehend war, weil noch Beziehungen aus einem früheren tatsächlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland bestanden (vgl. z.B. SozR 2200 § 205 Nr. 65), oder aber Fälle, bei denen bei Einreise aus dem Ausland fraglich war, ob der hier genommene Aufenthalt schon gewöhnlich, d.h. auf Dauer angelegt war (vgl. z.B. Senatsurteil vom 28. Juli 1992 - 5 RJ 24/91; SozR 3-2600 § 56 Nr. 2 - und Urteil vom 30. September 1993 - 4 RA 49/92; SozR 3-6710 Art 1 Nr. 1).
Das BSG hat zu § 56 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 SGB VI darüber hinaus schon entschieden, daß eine Mutter ihr Kind nur dann in der Bundesrepublik Deutschland erzogen hat, wenn sie hier gemeinsam mit ihrem Kind gelebt hat, und ein Kind dann nicht in der Bundesrepublik Deutschland erzogen wird, wenn Mutter und Kind tatsächlich im Ausland leben (vgl. BSG SozR 3-2600 § 56 Nr. 6). Auch unter Beachtung dieser Entscheidung ist keine Kindererziehungszeit anzuerkennen, denn die Klägerin und ihr Kind haben nach den Feststellungen des LSG vor Mai 1956 nicht in der Bundesrepublik Deutschland gelebt.
Die Voraussetzungen, unter denen nach § 56 Abs. 3 Satz 2 und 3 SGB VI abweichend von der Grundregel des Satzes 1 Kindererziehungszeiten bei Auslandsaufenthalt des erziehenden Elternteiles und des Kindes angerechnet werden können, sind ebenfalls nicht erfüllt. Weder die Klägerin noch ihr Ehemann hatten bis Ende April 1956 aus einer im Ausland ausgeübten Beschäftigung oder Tätigkeit Pflichtbeitragszeiten zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung.
Schließlich ist auch keine erweiternde Auslegung des § 56 Abs. 3 Satz 2 und 3 SGB VI in dem Sinne möglich, daß bei einer versicherungspflichtigen Inlandsbeschäftigung des nicht erziehenden Ehegatten die Auslandserziehung durch den anderen Ehegatten der Inlandserziehung gleichgestellt wird. Dies hat das BSG bereits entschieden (vgl. BSG SozR 3-2600 § 56 Nr. 6).
Kindererziehungszeiten sind auch nicht unter Berücksichtigung zwischen- oder überstaatlicher Rechtsvorschriften anzurechnen. Weder aus den Vorschriften des deutsch-österreichischen Sozialversicherungsabkommens noch aus den nunmehr auch für Österreich maßgebenden Vorschriften der EWG, insbesondere der Verordnung EWG 1408/71 (EWG-VO 1408/71), ergibt sich eine Gleichstellung des Auslandsaufenthaltes der Klägerin mit einem Inlandsaufenthalt. Die in Anhang VI Buchst C Nr. 19 der EWG-VO 1408/71 genannten Voraussetzungen für Anrechnung von Kindererziehungszeiten während eines tatsächlichen Auslandsaufenthaltes sind nicht erfüllt. Die Klägerin ist vor der Geburt ihres ersten Kindes nicht in der Bundesrepublik Deutschland erwerbstätig gewesen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz.5 RJ 28/94
BUNDESSOZIALGERICHT
Fundstellen
Haufe-Index 518431 |
Breith. 1996, 233 |