Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziale Pflegeversicherung. Ermittlung der Pflegestufe. Grundpflegebedarf. behindertes Kind. Begutachtungs-Richtlinien (BRi) idF vom 11.5.2006. Abzugswert. Hilfebedarf gesunder gleichaltriger Kinder. generelle Tatsache. Berechnung. Altersabschnitt. Bildung des rechnerischen Mittelwerts aus höchstem und niedrigstem Rahmenwert. keine Bildung von Zwischenwerten nach Maßgabe des Lebensalters des Kindes (Interpolation)
Leitsatz (amtlich)
1. Der von dem gemessenen Grundpflegebedarf eines behinderten Kindes abzuziehende normale Grundpflegebedarf eines gesunden gleichaltrigen Kindes (§ 15 Abs 2 SGB 11) ist auch für die Zeit vor dem 1.9.2006 den Tabellenwerten der Begutachtungs-Richtlinien in der zum 1.9.2006 in Kraft getretenen Fassung vom 11.5.2006 zu entnehmen.
2. Als Abzugswert für den normalen Grundpflegebedarf eines gesunden Kindes ist einheitlich für die gesamte Dauer des jeweiligen Altersabschnitts der rechnerische Mittelwert aus den in der Tabelle aufgeführten Höchst- und Mindestzeitwerten heranzuziehen; die Bildung von Zwischenwerten nach Maßgabe des Lebensalters des Kindes im Zeitpunkt der Begutachtung (Interpolation) findet nicht mehr statt.
Normenkette
SGB 11 §§ 14, 15 Abs. 1 S. 1, Abs. 2-3; SGB 10 § 44
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 7. Oktober 2010 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X, ob dem Kläger für die Zeit vom 1.10.2003 bis zum 30.6.2004 Pflegegeld der Pflegestufe II statt der zuerkannten Pflegestufe I zusteht.
Der am 16.7.2002 geborene Kläger war bis zum 15.7.2005 bei der beklagten Pflegekasse sozial pflegeversichert; seit dem 16.7.2005 gehört er der Pflegekasse der BKK Technoform an. Er ist seit seiner Geburt körperlich und geistig behindert. Die Beklagte gewährte ihm auf seinen Leistungsantrag vom 31.10.2003 Pflegegeld der Pflegestufe I ab 1.10.2003 (Bescheid vom 11.3.2004), Pflegegeld der Pflegestufe II ab 1.7.2004 (Bescheid vom 23.11.2004) und Pflegegeld der Pflegestufe III für die Zeit vom 25.4.2005 bis zum 15.7.2005 (Bescheid vom 25.5.2007). Seit dem 16.7.2005 zahlt die Pflegekasse der BKK Technoform das Pflegegeld.
Der Pflegestufe I (1.10.2003 bis 30.6.2004) lag ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 4.3.2004 zugrunde, das den bei Kindern allein berücksichtigungsfähigen Mehrbedarf an Hilfen bei der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung im Vergleich zum Hilfebedarf gesunder gleichaltriger Kinder (§ 15 Abs 2 SGB XI) bei der Grundpflege auf 69 Minuten bezifferte (gemessener täglicher Pflegebedarf des Klägers 309 Minuten abzüglich des Normalbedarfs eines gesunden gleichaltrigen Kindes 240 Minuten = behinderungsbedingter Mehrbedarf 69 Minuten). Die Pflegestufe II (1.7.2004 bis 24.4.2005) beruhte auf einem MDK-Gutachten vom 3.11.2004, das einen Grundpflege-Mehrbedarf von 168 Minuten auswies (333 - 165 = 168). Die Pflegestufe III (ab 25.4.2005) basiert auf einem MDK-Gutachten vom 26.6.2006, in dem ein Grundpflege-Mehrbedarf von 244 Minuten festgestellt worden war (379 - 135 = 244 Minuten). Der Mehrbedarf an Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung wurde in den Gutachten auf mindestens 45 Minuten (Pflegestufe I) bzw 60 Minuten (Pflegestufe II und III) veranschlagt.
Mit Schreiben vom 7.11.2006 beantragte der Kläger die Überprüfung der Leistungsbewilligung vom 11.3.2004, um schon ab 1.10.2003 der Pflegestufe II zugeordnet zu werden. Er machte geltend, durch die zum 1.9.2006 in Kraft getretenen neuen Begutachtungs-Richtlinien (BRi) vom 11.5.2006 seien die Zeitwerte für den normalen Grundpflegebedarf gesunder Kinder im Vergleich zu den bis zum 31.8.2006 geltenden alten BRi deutlich niedriger angesetzt worden. Die Zeitwerte der neuen BRi seien als antizipiertes Sachverständigengutachten rückwirkend anwendbar, weil sich herausgestellt habe, dass die Verfasser der alten BRi von einer unrichtigen Tatsachengrundlage ausgegangen seien. Demgemäß hätte ihm von Anfang an Pflegegeld der Pflegestufe II zugestanden. Die Beklagte lehnte den Überprüfungsantrag ab, weil die neuen BRi nur auf Sachverhalte ab 1.9.2006 anwendbar seien; die alten BRi seien nicht nachträglich als rechtswidrig anzusehen (Bescheid vom 4.1.2007, Widerspruchsbescheid vom 15.6.2007).
Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 16.7.2009). Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 7.10.2010): Es komme im vorliegenden Fall nicht darauf an, ob die Zeitwerte der neuen BRi auch auf Sachverhalte vor dem 1.9.2006 anwendbar seien. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, könne der Kläger die nachträgliche Höherstufung nicht beanspruchen. Für die hier streitige Zeit bis zum 30.6.2004 sei allein das zeitnah erstellte MDK-Gutachten vom 4.3.2004 maßgeblich, das einen täglichen Grundpflegebedarf von 309 Minuten ausgewiesen habe. Hiervon seien statt 240 Minuten nach den alten BRi nunmehr 205 bis 206 Minuten nach den neuen BRi als Normalbedarf (§ 15 Abs 2 SGB XI) abzuziehen, sodass sich ein Grundpflege-Mehrbedarf von nur 103 bis 104 Minuten ergebe; der für die Pflegestufe II erforderliche zeitliche Mindestwert von 120 Minuten werde also nicht erreicht. Der Abzugswert von 205 bis 206 Minuten (Zwischenwert) errechne sich im Wege der Interpolation daraus, dass der Kläger bei der Begutachtung am 4.3.2004 knapp 1 Jahr und 8 Monate alt gewesen sei und die neuen BRi für Kinder von 1½ bis 2 Jahren einen abnehmenden Grundpflegebedarf von anfangs 216 Minuten (Maximalwert) bis hinunter auf 175 Minuten (Minimalwert) vorgäben.
Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts (§ 44 SGB X, § 15 Abs 2 SGB XI) sowie die Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG). Das LSG sei ohne weitere Prüfung davon ausgegangen, dass der Umfang der täglichen Grundpflege im streitigen Zeitraum 309 Minuten und nicht, wie von ihm geltend gemacht, 333 Minuten entsprechend dem MDK-Gutachten vom 3.11.2004 betragen habe. Von diesem Ausgangswert sei weder der im Zeitpunkt der Begutachtung geltende höchste Wert an normaler Grundpflege noch ein irgendwie gearteter Zwischenwert, sondern gemäß dem in § 2 Abs 2 SGB I niedergelegten Prinzip der möglichst weitgehenden Verwirklichung der sozialen Rechte der Versicherten der für die jeweiligen Altersstufen geltende niedrigste Wert abzusetzen, hier also für die Zeit bis zum 16.1.2004 (Kinder im Alter von 1 bis 1½ Jahren) 216 Minuten und für die Folgezeit bis zum 30.6.2004 (Kinder im Alter von 1½ bis 2 Jahren) 175 Minuten. Selbst bei Ansatz von nur 309 Minuten als Ausgangswert ergebe sich ab 17.1.2004 ein Grundpflege-Mehrbedarf von 134 Minuten (309 - 175 Minuten).
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 7.10.2010 und den Gerichtsbescheid des SG Hildesheim vom 16.7.2009 zu ändern, den Bescheid der Beklagten vom 4.1.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.6.2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an ihn unter Änderung des Bescheides vom 11.3.2004 weitere 1845 Euro als Differenz des Pflegegeldes der Pflegestufe II von monatlich 410 Euro abzüglich des gezahlten Pflegegeldes der Pflegestufe I von monatlich 205 Euro für die Zeit vom 1.10.2003 bis 30.6.2004 zu zahlen.
Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das angefochtene Berufungsurteil erweist sich als im Ergebnis zutreffend. Die Beklagte hat zu Recht eine Änderung ihres Leistungsbescheides vom 11.3.2004 abgelehnt, mit dem sie den Kläger für die Zeit vom 1.10.2003 bis zum 30.6.2004 der Pflegestufe I zugeordnet und das entsprechende Pflegegeld von monatlich 205 Euro bewilligt hatte. Die zeitlichen Voraussetzungen des § 15 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB XI für die Pflegestufe II von täglich mindestens 120 Minuten Grundpflege und 60 Minuten hauswirtschaftlicher Versorgung hat der Kläger nicht erfüllt, weil der allein berücksichtigungsfähige Mehrbedarf bei der Grundpflege (§ 15 Abs 2 SGB XI) in diesem Zeitraum immer unter dem erforderlichen Wert von 120 Minuten blieb.
1. Rechtsgrundlage für das vom Kläger mit Schreiben vom 7.11.2006 beantragte Überprüfungsverfahren zur Leistungsbewilligung vom 11.3.2004 ist § 44 Abs 1 S 1 SGB X: "Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen." Die Rechtsfolgen daraus ergeben sich aus § 44 Abs 4 SGB X: "Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag."
2. Das Überprüfungsbegehren zielt ab auf die bundesrechtliche Regelung des § 15 Abs 2 SGB XI, wonach bei Kindern für die Zuordnung zu einer der drei Pflegestufen (§ 15 Abs 1 S 1 SGB XI) nur der zusätzliche Hilfebedarf gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind (Mehrbedarf) maßgebend ist, der normale bzw übliche Hilfebedarf von Kindern also bei der Bemessung des behinderungsbedingten zeitlichen Aufwandes bei der Grundpflege (§ 14 Abs 4 Nr 1 bis 3 SGB XI) und der hauswirtschaftlichen Versorgung (§ 14 Abs 4 Nr 4 SGB XI) außer Ansatz bleiben muss. Ein Kind kann deshalb nur dann der Pflegestufe II (§ 15 Abs 1 S 1 Nr 2 iVm Abs 3 S 1 Nr 2 SGB XI) zugeordnet werden, wenn es bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wobei der behinderungsbedingte zeitliche Mehraufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt (gemeint: täglich im Wochendurchschnitt, vgl BSG SozR 3-3300 § 15 Nr 7) mindestens 3 Stunden betragen muss, wovon wenigstens 2 Stunden auf die Grundpflege entfallen müssen. Die Beklagte ist bei der Leistungsbewilligung vom 11.3.2004 von einem täglichen Grundpflegebedarf von 309 Minuten ausgegangen, hat den Grundpflegebedarf gesunder gleichaltriger Kinder auf 240 Minuten veranschlagt und ist deshalb zu einem nach § 15 Abs 2 SGB XI berücksichtigungsfähigen Mehrbedarf von 69 Minuten gelangt, was lediglich die zeitlichen Mindestanforderungen der Pflegestufe I von täglich "mehr als 45 Minuten" (§ 15 Abs 3 S 1 Nr 1 SGB XI) erfüllte. Einen Mehrbedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung von mindestens 45 Minuten (Pflegestufe I) bzw 60 Minuten (Pflegestufen II und III) hat der MDK in seinen Gutachten jeweils als gegeben festgestellt.
Das Begehren des Klägers betrifft den Abzugswert von 240 Minuten für den normalen Grundpflegebedarf gesunder Kinder, die - wie er - im Juli 2002 geboren worden sind. Der Kläger stellt nicht in Frage, dass der Abzugswert von 240 Minuten nach den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI (Begutachtungs-Richtlinien ≪BRi≫) vom 21.3.1997 idF vom 22.8.2001, die bis zum 31.8.2006 in Kraft waren, für Kinder im Alter zwischen 1 und 2 Jahren galt und deshalb korrekt in Ansatz gebracht worden ist, sondern er macht geltend, die Abzugswerte der neuen BRi idF vom 11.5.2006, die am 1.9.2006 in Kraft getreten und vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen in seinen BRi vom 8.6.2009 übernommen worden sind, seien auch für die Zeit vor dem 1.9.2006 maßgeblich, weil es sich bei dem üblichen Hilfebedarf gesunder gleichaltriger Kinder um eine generelle Tatsache handele und die BRi insoweit als ein antizipiertes Sachverständigengutachten zu einer seit Einführung der Pflegeversicherung zum 1.1.1995 streitigen Tatsache anzusehen seien. Diese durch bestimmte altersabhängige Zeitwerte konkretisierte generelle Tatsache könne vor dem 1.9.2006 und für die Zeit danach nur in gleicher Weise in Ansatz gebracht werden, weil sich am tatsächlichen Hilfebedarf der Kinder nichts geändert habe. Nur die Zeitwerte hätten sich aufgrund neuerer empirischer Erkenntnisse über die Art und den Umfang des Grundpflegebedarfs gesunder Kinder in den verschiedenen Altersstufen verändert. Die Abzugswerte der alten BRi seien deutlich zu hoch angesetzt gewesen und nunmehr durch realistischere und auf kürzere Zeitabschnitte bezogene Werte ersetzt worden, die nach § 44 SGB X zugunsten der versicherten Kinder auch rückwirkend berücksichtigt werden müssten. Deshalb müsse hier ein Abzugswert aus den neuen Rahmenwerten für Kinder im Alter zwischen 1 und 1½ Jahren (abnehmend von 222 bis 216 Minuten) für die Zeit bis zum 15.1.2004 sowie für Kinder im Alter zwischen 1½ und 2 Jahren (abnehmend von 216 bis 175 Minuten) für die Folgezeit in Ansatz gebracht werden, wobei nach seiner Auffassung der für die Betroffenen jeweils günstigste Abzugswert (hier: 216 Minuten bis 15.1.2004, danach 175 Minuten) zugrunde zu legen sei.
3. Der Kläger geht zutreffend davon aus, dass die Beklagte bei der Leistungsbewilligung vom 11.3.2004 hinsichtlich des Grundpflegebedarfs gesunder gleichaltriger Kinder (§ 15 Abs 2 SGB XI) von einem Sachverhalt (Abzugswert 240 Minuten) ausgegangen ist, der sich nachträglich, nämlich durch die den neuen BRi zugrunde liegenden verbesserten Erfahrungswerte, die erst in den Jahren ab 2000 gewonnen worden sind, als unrichtig erwiesen hat. Der normale Hilfebedarf von Kindern war in den alten BRi durchweg zu hoch veranschlagt und zu großen Zeitkorridoren zugeordnet worden. Die neuen Abzugswerte sind der täglichen Praxis der Kindererziehung und Kinderpflege entnommen, damit empirisch gesichert und deutlich realistischer. Es geht bei den Zeitwerten um generelle Tatsachen, die in den neuen, ab 1.9.2006 geltenden BRi ihren Niederschlag gefunden haben und die altersentsprechenden Entwicklungsschritte wesentlich differenzierter abbilden. Dem neuen Zeitwerte-Katalog liegt also nicht nur eine bloße Änderung in der Bewertungspraxis zugrunde, sondern ein verbesserter Erkenntnisstand über den tatsächlichen Grundpflegebedarf von Kindern. Da sich die Praxis vor dem 1.9.2006 nicht anders dargestellt haben kann, sich der als generelle Tatsache darstellende Sachverhalt also nicht geändert hat, sind die Abzugswerte der neuen BRi grundsätzlich auch für die Zeit vor dem 1.9.2006 anzuwenden. Daher ist der Ausgangspunkt des Klägers zutreffend, die Beklagte sei seinerzeit "von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich als unrichtig erwiesen" hat (§ 44 Abs 1 S 1 SGB X).
4. Die Revision ist dennoch unbegründet, weil es an der in § 44 Abs 1 S 1 SGB X normierten Kausalität zwischen der fehlerhaften Sachverhaltsfeststellung und der rechtswidrigen Nichterbringung einer Sozialleistung mangelt. Der Kläger kann nämlich auch auf der Grundlage der Abzugswerte der neuen BRi die begehrte Besserstellung nicht beanspruchen, weil die Neuberechnung des Hilfebedarfs bei der Grundpflege unverändert zu dem Ergebnis führt, dass der für die Pflegestufe II erforderliche zeitliche Mindestwert von täglich 120 Minuten (§ 15 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB XI) nicht erreicht wird. Dies gilt für den gesamten streitigen Zeitraum vom 1.10.2003 bis zum 30.6.2004 gleichermaßen. Rechtlich ist allerdings zwischen dem ersten Zeitraum vom 1.10.2003 bis zum 15.1.2004 und dem Folgezeitraum vom 16.1. bis zum 30.6.2004 zu differenzieren:
a) Der am 16.7.2002 geborene Kläger wäre am 16.1.2004 18 Monate bzw 1½ Jahre alt geworden. Nach den neuen BRi beläuft sich der normale Grundpflegebedarf gesunder Kinder im Alter zwischen 1 und 1½ Jahren abnehmend auf 222 bis 216 Minuten und im Alter zwischen 1½ Jahren und 2 Jahren abnehmend auf 216 bis 175 Minuten. Da sich die relevanten Zeitabschnitte nicht überschneiden dürfen, was sie am Tag der Vollendung des 18. Lebensmonats (16.1.2004) aber täten, ist der jeweils vorausgehende Zeitabschnitt jeweils um einen Tag zu verkürzen, sodass sich der Abzugsrahmen von 222 bis 216 Minuten hier auf die Zeit bis zum 15.1.2004 bezieht und der nächste Zeitabschnitt am 16.1.2004 beginnt.
Für die Zeit bis zum 15.1.2004 ist die Klage schon nach dem eigenen Vorbringen des Klägers unbegründet, weil der Mehrbedarf an Grundpflege nicht den Mindestwert von täglich 120 Minuten erreicht, sondern nur bei maximal 117 Minuten liegt. Er legt den Gesamtbedarf an Grundpflege aus dem zweiten MDK-Gutachten vom 3.11.2004, das erst die Zeit ab 1.7.2004 betrifft, auch der Zeit ab 1.10.2003 zugrunde (333 Minuten) und befürwortet den Ansatz des für den Versicherten jeweils günstigsten - also niedrigsten - Abzugswerts des entsprechenden Lebensabschnitts, hier also 216 Minuten. Die sich daraus ergebende Differenz von 117 Minuten (333 - 216 = 117) erfüllt nicht die Voraussetzungen der Pflegestufe II (§ 15 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB XI). Bei Ansatz des Gesamtbedarfs an Grundpflege aus dem ersten MDK-Gutachten vom 4.3.2004 (309 Minuten), das für die Zeit bis zum 30.6.2004 gilt, ergäbe sich ein berücksichtigungsfähiger Wert von nur 93 Minuten (309 - 216 = 93). Noch ungünstiger für den Kläger wäre der Ansatz des oberen Abzugswertes von 222 Minuten (333 - 222 = 111 bzw 309 - 222 = 87 Minuten). Es kommt also für die Zeit bis zum 15.1.2004 nicht einmal darauf an, welcher Gesamtbedarf an Grundpflege der Berechnung zugrunde zu legen ist (333 oder 309 Minuten).
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b) Für den zweiten Zeitabschnitt vom 16.1. bis zum 30.6.2004 ist die Frage, von welchem Gesamtbedarf an Grundpflege auszugehen ist, allerdings entscheidungserheblich. Dies zeigt die folgende Berechnung: |
(1) |
Geht man von dem für den Versicherten ungünstigsten (höchsten) Abzugswert von 216 Minuten aus, ergibt sich ein behinderungsbedingter Grundpflegebedarf von 117 Minuten bei einem Ausgangswert von 333 Minuten (333 - 216 = 117) und ein Bedarf von nur 93 Minuten bei einem Ausgangswert von 309 Minuten (309 - 216 = 93). Unabhängig vom jeweiligen Ausgangswert wären also die zeitlichen Voraussetzungen der Pflegestufe II nicht erreicht. |
(2) |
Im Gegensatz dazu kommt es bei Ansatz des für den Versicherten günstigsten (niedrigsten) Abzugswerts von 175 Minuten auf den umstrittenen Ausgangswert nicht an, weil in beiden Fällen ein Mehrbedarf von mindestens 120 Minuten erreicht würde (333 - 175 = 158 bzw 309 - 175 = 134 Minuten). Dies entspricht der Rechtsauffassung des Klägers. |
(3) |
Das auf der Grundlage der alten BRi mit ihren pauschalen Rahmenwerten und relativ weiten Zeitkorridoren (im ersten Lebensjahr abnehmend 5,25 bis 4,25 Stunden, im zweiten Lebensjahr einheitlich 4 Stunden, im dritten Lebensjahr abnehmend 2,75 bis 2,50 Stunden, im vierten bis sechsten Lebensjahr abnehmend 2,50 bis 1,75 Stunden und im siebten bis zwölften Lebensjahr abnehmend 1,75 bis 0 Stunden) entwickelte Verfahren der Interpolation, also das Berechnen von Zwischenwerten aus den einschlägigen Rahmenwerten entsprechend dem Lebensalter zum Zeitpunkt der Begutachtung, käme im vorliegenden Fall zu einem gerundeten Abzugswert (Zwischenwert) von 205 Minuten (216 - 175 = Differenz 41 Minuten für 6 Monate, was pro Monat einem Abzug von gerundet 7 Minuten entspricht bzw 3,5 Minuten pro halbem Monat; 216 - 10,5 Minuten für 1,5 Monate = gerundet 205 Minuten) und damit zu einem gerundeten Mehrbedarf von 104 Minuten bei einem Ausgangswert von 309 Minuten (309 - 205 = 104) und von 128 Minuten bei einem Ausgangswert von 333 Minuten (333 - 205 = 128). Dies entspricht der Berechnung des LSG. Auch bei dieser Berechnungsmethode käme es darauf an, ob ein Gesamtbedarf an Grundpflege von 333 oder nur 309 Minuten in Ansatz zu bringen ist, weil nur bei einem Ausgangswert von 333 Minuten die zeitlichen Voraussetzungen der Pflegestufe II erfüllt wären. |
(4) |
Als vierte Berechnungsmethode bietet sich die Bildung eines rechnerischen Mittelwertes aus höchstem und niedrigstem Rahmenwert an. Auch danach ergäbe sich je nach dem Ausgangswert eine differenzierte Lösung: Aus dem Rahmen zwischen 216 und 175 Minuten errechnet sich ein Mittelwert von gerundet 196 Minuten, der bei einem Ausgangswert von 333 Minuten zum vom Kläger gewünschten Ziel führt (333 - 196 = 137 Minuten), während ein Ausgangswert von nur 309 Minuten nicht ausreicht (309 - 196 = 113 Minuten), um die Pflegestufe II zu erreichen. |
Die Aufstellung zeigt, dass das Ergebnis des Überprüfungsverfahrens davon abhängt, welcher Ausgangswert der Berechnung nach § 15 Abs 2 SGB XI zugrunde zu legen ist (333 oder 309 Minuten) und welcher Abzugswert für den normalen Grundpflegebedarf gesunder gleichaltriger Kinder anzusetzen ist (216, 205, 196 oder 175 Minuten).
c) Es ist im vorliegenden Fall ein Ausgangswert von 309 Minuten zugrunde zu legen. Maßgeblich für den streitigen Zeitraum vom 1.10.2003 bis zum 30.6.2004 ist allein das zeitnah erstellte erste MDK-Gutachten vom 4.3.2004, das diesen Gesamtbedarf an täglicher Grundpflege ausweist und Grundlage des - seinerzeit bindend gewordenen - Bewilligungsbescheides vom 11.3.2004 geworden ist. Den Widerspruch vom 24.3.2004 gegen die Zuerkennung der Pflegestufe I hatte der Kläger am 14.12.2004 zurückgenommen, nachdem ihm durch Bescheid vom 23.11.2004 auf der Grundlage des zweiten MDK-Gutachtens vom 3.11.2004 rückwirkend zum 1.7.2004 das Pflegegeld der Pflegestufe II zugebilligt worden war. Damit hat der Kläger zum Ausdruck gebracht, dass er mit der Feststellung des MDK und der Beklagten einverstanden war, bis zum 30.6.2004 habe der behinderungsbedingte Mehrbedarf an Grundpflege den zeitlichen Mindestwert der Pflegestufe II nicht erreicht, weil der Gesamtbedarf an Grundpflege nur 309 Minuten betrug (309 - 240 = 69 Minuten).
Da der Kläger das MDK-Gutachten vom 4.3.2004 augenscheinlich nunmehr doch für sachlich unrichtig erachtet und er die Feststellung des MDK-Gutachtens vom 3.11.2004, der Gesamtbedarf an Grundpflege belaufe sich ab 1.7.2004 auf täglich 333 Minuten, auch auf die Zeit ab 1.10.2003 beziehen will, hätte es sich angeboten, dies schon im Zuge des Verwaltungsverfahrens nach § 44 SGB X, spätestens aber im Widerspruchsverfahren geltend zu machen und sich insoweit nicht auf die Beanstandung des Abzugswertes von 240 Minuten zu beschränken. Das Argument, der Hilfebedarf habe von Anfang an 333 Minuten betragen, ist von ihm jedoch erstmals im Berufungsverfahren vorgetragen worden; vorher war davon nicht die Rede. Die Beklagte hatte daher keinen Anlass, im Rahmen des Verwaltungsverfahrens nach § 44 SGB X oder im Widerspruchsverfahren den Hilfebedarf von 309 Minuten, wie er durch das MDK-Gutachten vom 4.3.2004 für den streitigen Zeitraum festgestellt worden war, zu überprüfen. Überprüfungsgegenstand war allein der normale Grundpflegebedarf gesunder gleichaltriger Kinder, der seinerzeit mit 240 Minuten angesetzt worden war.
Die Beschränkung des Überprüfungsgegenstandes auf diese generelle Tatsache gilt allerdings nicht für das gerichtliche Verfahren. Dabei kann offenbleiben, ob das LSG mit dem Hinweis, zu der erst im Berufungsverfahren streitig gewordenen Frage des zutreffenden Ausgangswertes für die Grundpflege (333 oder 309 Minuten) fehle es an einem Verwaltungsverfahren nach § 44 SGB X, eine sachliche Entscheidung zu dem nunmehr streitigen Ausgangswert hätte ablehnen können. Denn das LSG hat nicht auf diesem formalen Gesichtspunkt abgestellt, sondern ist - prozessual unbedenklich - sachlich auf das Argument des Klägers eingegangen und hat die Tatsachengrundlage der Leistungsbewilligung vom 11.3.2004 auch in dieser Hinsicht geprüft. Dadurch ist eine umfassende Prüfung dieser Frage auch im Revisionsverfahren eröffnet. Das LSG hat insoweit ausgeführt: "Streitig ist die Frage, ob der Kläger in dem Zeitraum vom 1.10.2003 bis zum 30.6.2004 Anspruch auf Leistungen entsprechend der Pflegestufe II - anstelle der Pflegestufe I - hat. Die maßgebliche Beurteilung des Pflegebedarfs in diesem Zeitraum ist dem MDK-Gutachten vom 4.3.2004 zu entnehmen, entgegen der Auffassung des Klägers nicht aber dem Gutachten vom 3.11.2004. Denn das letztgenannte Gutachten ist vier Monate nach dem hier streitigen Zeitraum eingeholt worden. Aus dem Krankheitsbild und dem Verlauf des Hilfebedarfs wird im vorliegenden Fall deutlich, dass Letztgenannter sich stetig erhöhte, sodass das Gutachten vom November 2004 keine zuverlässige Aussage über den Hilfebedarf bis einschließlich Ende Juni 2004 trifft." Diese Feststellung des LSG ist im Revisionsverfahren für den erkennenden Senat nach § 163 SGG verbindlich, weil der Kläger hiergegen keine zulässige Verfahrensrüge erhoben hat.
d) Von dem maßgeblichen Gesamtbedarf an Grundpflege des Klägers von 309 Minuten sind für die Zeit vom 16.1.2004 bis zum 30.6.2004 196 Minuten an normaler Grundpflege gesunder gleichaltriger Kinder abzuziehen, sodass ein berücksichtigungsfähiger Mehrbedarf von 113 Minuten verbleibt, der den zeitlichen Mindestwert der Pflegestufe II von 120 Minuten unterschreitet. Die Klage ist daher auch für diesen Zeitraum unbegründet.
Die neuen BRi enthalten eine Tabelle zum "Pflegeaufwand eines gesunden Kindes in Minuten pro Tag" (§ 15 Abs 2 SGB XI), die die drei Bereiche der Grundpflege nach § 14 Abs 4 Nr 1 bis 3 SGB XI (Körperpflege, Ernährung und Mobilität) umfasst, die nicht in jedem Haushalt anfallende Hilfe beim Treppensteigen gesondert ausweist und bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres in Halbjahresperioden und danach - und mit der Vollendung des 10. Lebensjahres endend - in Jahresperioden gegliedert ist. Da nach den MDK-Gutachten im elterlichen Haushalt des Klägers Treppen vorhanden sind, sind hier nicht die Zeitrahmen ohne das Treppensteigen, sondern die Zeitrahmen einschließlich der Hilfe beim Treppensteigen heranzuziehen.
Auf der Grundlage der neuen BRi hat die Berechnung der Abzugswerte für den normalen Grundpflegebedarf von Kindern (§ 15 Abs 2 SGB XI) entgegen der bisherigen, auf der Basis der alten BRi gerechtfertigten Praxis nicht mehr durch die Bildung von Zwischenwerten mittels Interpolation zu erfolgen, sondern durch die Bildung rechnerischer Mittelwerte gemäß der oben dargestellten vierten Berechnungsmethode. Wegen der stärkeren Ausdifferenzierung der neuen Zeitkorridore ist eine Berücksichtigung von Zwischenwerten nicht mehr geboten; eine Interpolation gemäß der dargestellten dritten Berechnungsmethode findet also nicht mehr statt. Die Abzugswerte sind auch nicht nach dem jeweils höchsten Rahmenwert eines Lebensaltersabschnitts zu bestimmen, weil dies einseitig den Pflegekassen zugute käme, aber auch nicht nach dem jeweils niedrigsten Rahmenwert festzulegen, weil dies einseitig die Versicherten bevorteilen würde. Diese Berechnungsmethoden sind daher auch in der Vergangenheit zu Recht nicht praktiziert worden.
Für die Zeit vom 16.1.2004 bis zum 30.6.2004 ist der Lebensabschnitt von 1½ bis 2 Jahren maßgeblich, der unter Berücksichtigung des Hilfebedarfs beim Treppensteigen Rahmenwerte zwischen 216 und 175 Minuten ausweist. Daraus errechnet sich ein Durchschnitts- oder Mittelwert von - gerundet - 196 Minuten. Der sich daraus ergebende Mehrbedarf an Grundpflege von 113 Minuten (309 - 196 = 113) erfüllt nicht die zeitlichen Voraussetzungen der Pflegestufe II (§ 15 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB XI).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
BSGE 2012, 214 |
DB 2012, 8 |
NZS 2012, 622 |
SGb 2012, 273 |