Entscheidungsstichwort (Thema)
Wartezeiterfüllung und Berücksichtigung von Ersatzzeiten
Leitsatz (amtlich)
Eine Ersatzzeit (RVO § 1251 Abs 1) kann bei der Feststellung einer Versicherungszeit von 180 Kalendermonaten (RVO § 1249 S 2 Buchst b) nur mitgerechnet werden, wenn die Voraussetzungen des RVO § 1251 Abs 2 gegeben sind (Anschluß an BSG 1971-02-25 12 RJ 214/70 = SozR Nr 9 zu § 1249 RVO).
Normenkette
RVO § 1249 S. 2 Buchst. b Fassung: 1965-06-09, § 1251 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. März 1974 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Es ist umstritten, ob die Klägerin Witwenrente beanspruchen kann.
Die Klägerin und ihr Ehemann, der Versicherte, sind 1923 nach Brasilien ausgewandert. Das Landessozialgericht (LSG) hat bis dahin eine Versicherungszeit von 160 Kalendermonaten festgestellt. Der Versicherte hatte in Brasilien für sich und die Klägerin am 3. Juli 1939 einen deutschen Reisepaß ausstellen lassen. Darin ist vermerkt, daß der Paß "gut zur Reise von B (Brasilien) nach Deutschland" ist. Außerdem ist am 12. Juli 1939 ein brasilianisches Ausreisevisum mit Gültigkeit bis 12. Oktober 1939 eingetragen. Der Versicherte und die Klägerin sind nicht nach Deutschland zurückgekehrt. Der Versicherte ist am 16. Februar 1960 in Brasilien gestorben.
Die Beklagte lehnte den Witwenrentenantrag der Klägerin mit Bescheid vom 9. Juni 1972 ab: Die Wartezeit sei mit den Versicherungszeiten allein aus den Jahren vor 1924 nicht erfüllt (§ 1249 Reichsversicherungsordnung - RVO -); die Zeit von September 1939 bis Ende 1950 könne nicht als Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO - Verhinderung der Rückkehr aus dem Ausland durch feindliche Maßnahmen - angerechnet werden, da sich feindliche Maßnahmen - wie etwa die Seeblockade - nicht gegen den Versicherten persönlich gerichtet hätten; er habe in Brasilien gearbeitet und sei in seiner Freiheit nicht eingeschränkt gewesen.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Gewährung von Witwenrente verpflichtet (Urteil vom 26. September 1972). Das LSG hat die Klage abgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 12. März 1974). Es hat die Zeit von September 1939 bis Mai 1945 als Ersatzzeit gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO angesehen. Sie könne jedoch nach § 1251 Abs. 2 RVO nicht auf die Wartezeit angerechnet werden, weil vor dieser Ersatzzeit kein nach § 1249 RVO anrechenbarer Versicherungsbeitrag vorhanden sei.
Die Klägerin hat Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Sie rügt eine Verletzung der §§ 1249, 1250, 1251 Abs. 2 RVO. Sie meint, nach Wegfall der früheren Anwartschaftsvorschriften und nach der Neufassung des § 1249 RVO durch das Rentenversicherungsänderungsgesetz - RVÄndG - vom 9. Juni 1965 dürfe § 1251 Abs. 2 RVO nicht dahin verstanden werden, daß beim Beginn der Ersatzzeit eine wirksame und zu Leistungen berechtigende Versicherung bestanden haben müsse. Es reiche aus, daß irgendwann vor Beginn der Ersatzzeit wenigstens ein wirksamer Beitrag zur deutschen Rentenversicherung geleistet worden sei. In ihrem Fall sei danach die erforderliche Versicherungszeit von 180 Kalendermonaten überschritten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Nach § 1263 Abs. 2 RVO wird Witwenrente gewährt, wenn zur Zeit des Todes des Versicherten die Wartezeit für die Rente wegen Berufsunfähigkeit von ihm erfüllt ist. Nach § 1249 RVO idF des RVÄndG ist hier die Wartezeit zur Zeit des Todes des Versicherten nicht erfüllt (Art. 2 § 17 Abs. 1 und § 8 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz - ArVNG - idF des 3. RVÄndG vom 28. Juli 1969).
§ 1249 Satz 1 RVO betrifft die Anrechnung von Versicherungszeiten, die seit Januar 1924 zurückgelegt sind.
Dabei kann eine - hier unterstellte - Ersatzzeit während des Zweiten Weltkrieges nicht angerechnet werden; denn Ersatzzeiten werden nach § 1251 Abs. 2 RVO nur in Verbindung mit Beitragszeiten auf die Wartezeit angerechnet, und zwar nach Satz 1 dieser Vorschrift nur, wenn eine Versicherung "vorher" bestanden hat. Hier hat aber aus den vor 1924 entrichteten Versicherungsbeiträgen 1939 eine Versicherung nicht mehr bestanden (vgl. Art. 2 § 8 ArVNG; SozR Nr. 4 zu § 1251 RVO).
§ 1249 Satz 2 RVO idF des RVÄndG bezieht sich auf vor dem 1. Januar 1924 zurückgelegte Versicherungszeiten. Buchst. a dieser Vorschrift kommt hier nicht in Betracht, weil kein Beitrag für eine Zeit nach dem 31. Dezember 1923 entrichtet ist. Buchst. b verlangt, daß eine Gesamtversicherungszeit von 180 Kalendermonaten zurückgelegt ist, sei es vor dem 1. Januar 1924 oder zusammen mit späteren Versicherungszeiten. Für die Feststellung dieser Gesamtversicherungszeit werden somit alle Versicherungszeiten berücksichtigt. Ersatzzeiten können jedoch auch hier auf die Versicherungszeit nur angerechnet werden, wenn sie in der in § 1251 Abs. 2 RVO bestimmten zeitlichen Beziehung zu einer Beitragszeit stehen.
Aus § 1249 RVO kann nicht entnommen werden, daß bei der Feststellung einer Gesamtversicherungszeit von 180 Kalendermonaten die die Anrechnung von Ersatzzeiten einschränkende Vorschrift des § 1251 Abs. 2 Satz 1 RVO nicht anzuwenden wäre. Dies hat das Bundessozialgericht bereits in dem Urteil vom 25. Februar 1971 - 12 RJ 214/70 (SozR Nr. 9 zu § 1249 RVO) entschieden und näher begründet. Der erkennende Senat ist ebenfalls der Auffassung, daß bei der Anwendung des § 1249 Satz 2 Buchst. b RVO eine Ersatzzeit nicht losgelöst von den Voraussetzungen des § 1251 Abs. 2 Satz 1 RVO angerechnet werden kann. Das LSG hat zu Recht § 1251 Abs. 2 Satz 1 RVO bei der Feststellung der Gesamtversicherungszeit berücksichtigt.
Die Voraussetzung des § 1251 Abs. 2 Satz 1 RVO für die Anrechnung einer Ersatzzeit, daß eine Versicherung "vorher" bestanden haben muß, bedeutet, daß die in Frage stehende Ersatzzeit selbst nicht mitgerechnet werden kann, wenn diese Voraussetzung geprüft wird. Dies ist dem Begriff "vorher" zu entnehmen. Da hier nur Versicherungszeiten vor 1924 zurückgelegt sind, hätte eine Versicherung "vorher" nur bestanden, wenn ohne die - unterstellte - Ersatzzeit eine Gesamtversicherungszeit von 180 Kalendermonaten erreicht wäre. Dies ist jedoch nach den Feststellungen des LSG nicht der Fall.
Bei dieser Sach- und Rechtslage braucht nicht entschieden zu werden, ob die Zeit von September 1939 bis Mai 1945 ihrem Wesen nach eine Ersatzzeit iSd § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO ist, denn sie könnte ohnehin nicht angerechnet werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen