Leitsatz (redaktionell)

Die Leistungspflicht des Rentenversicherungsträgers nach RVO § 1244a Abs 7 S 3 entfällt nicht, wenn ein Tuberkulosekranker durch gerichtlichen Beschluß in ein Landeskrankenhaus eingewiesen wird, weil er das Krankenhaus eigenmächtig verlassen hat und die Gefahr der Verbreitung der Tuberkulose bestand.

 

Normenkette

RVO § 1244a Abs. 7 S. 3 Fassung: 1959-07-23; BSHG § 130 Abs. 1 Fassung: 1969-09-18, § 135 Abs. 1 Fassung: 1969-09-18

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 30. November 1973 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Es ist umstritten, ob die Klägerin als überörtlicher Träger der Sozialhilfe von der beklagten Landesversicherungsanstalt die Erstattung der Kosten für die geschlossene stationäre Tuberkulose (Tbc)-Behandlung des Beigeladenen verlangen kann (§ 1244 a Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Der im Jahre 1939 geborene Beigeladene wurde im September 1968 wegen Lugen-Tbc zur stationären Behandlung im Tbc-Krankenhaus H, B, aufgenommen. Am 9. Januar 1969 wurde er aufgrund eines Beschlusses des Amtsgerichts (AG) Bremen in die geschlossene Abteilung des Niedersächsischen Landeskrankenhauses L eingewiesen. In dem Beschluß ist ausgeführt, der Beigeladene habe mehrmals das Krankenhaus H eigenmächtig verlassen und in Hotels übernachtet; es bestehe die Gefahr der Verbreitung der Tbc; dieser könne wirksam nur durch eine Zwangsunterbringung begegnet werden (§ 37 Bundes-Seuchengesetz - BSeuchG -). Das AG Salzgitter-Salder hat die Anordnung der zwangsweisen Unterbringung zum 13. Mai 1969 aufgehoben. Anschließend wurde der Beigeladene in der freien Tbc-Heilstätte E bei L stationär weiterbehandelt. Die Beklagte trug die Kosten der stationären Behandlung bis zum 8. Januar 1969. Die Klägerin übernahm die Kosten der Behandlung im Landeskrankenhaus L gemäß § 59 Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Sie verlangt von der Beklagten die Erstattung dieser Kosten. Die Beklagte lehnt die Kostenübernahme ab, weil es sich bei der Zwangsasylierung nicht um die Fortsetzung der von ihr eingeleiteten stationären Behandlung, sondern um eine Art Sicherheitsverwahrung gehandelt habe. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Kostenerstattung verpflichtet (Urteil vom 13. November 1972). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 30. November 1973).

Das LSG hat die Erstattungspflicht der Beklagten für die von der Klägerin aufgewandten Heilbehandlungskosten bejaht. Die Leistungspflicht des Rentenversicherungsträgers bei einer Unterbringung des Versicherten in einer geschlossenen Anstalt werde, so hat es ausgeführt, nicht ausgeschlossen, wenn der Versicherungsträger mit der Erfüllung seiner Leistungspflicht schon begonnen habe, bevor der Asylierungsfall eingetreten sei. Der Versicherungsträger habe sodann im Hinblick auf die Regelung im § 135 Abs. 1 Satz 1 BSHG - Weiterbestehen der einmal begründeten Zuständigkeit - für die Kosten der Heilbehandlung weiterhin aufzukommen. Im vorliegenden Fall habe sich nicht erweisen lassen, daß der Beigeladene aus einem der in § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO genannten Gründe, etwa wegen Alkoholsucht, in die geschlossene Abteilung eingewiesen worden sei. Der alleinige Grund dafür sei vielmehr gewesen, daß der Beigeladene trotz wiederholter Verwarnung die Klinik mehrfach für Tage verlassen und durch seinen Aufenthalt in Gaststätten und Hotels seine Umgebung gefährdet habe.

Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie beantragt,

die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte rügt die unrichtige Anwendung des § 1244 a RVO und des § 135 BSHG.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Der Beigeladene ist nicht vertreten.

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Der Erstattungsanspruch der Klägerin (§ 59 Abs. 2 Satz 2 BSHG) ist begründet.

§ 1244 a RVO ist idF des Gesetzes über die Tuberkulosehilfe vom 23. Juli 1959 (THG) anzuwenden, denn der umstrittene Erstattungszeitraum liegt vor dem 1. Oktober 1974, an dem die Änderung des § 1244 a RVO durch das Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation vom 7. August 1974 in Kraft getreten ist.

Die Leistungspflicht der Beklagten ist nicht gemäß § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO, § 130 BSHG entfallen. Das LSG hat ausgeschlossen, daß der Beigeladene wegen einer Geistes- oder Suchtkrankheit in Anstaltspflege untergebracht worden ist. Mit dem Vorbringen der Beklagten, das LSG habe nicht ermittelt, ob etwa Trunksucht die Ursache für die Zwangsasylierung gewesen sei, wird kein Verfahrensmangel durch Verstoß des LSG gegen seine Sachaufklärungspflicht dargetan. Die Beklagte beachtet nicht, daß der zu dieser Frage gehörte Sachverständige erklärt hat, es sei nicht zu klären, ob die Verführbarkeit des haltschwachen Beigeladenen oder dessen Neigung zum Alkoholmißbrauch mit Ursache für seine Verstöße gegen die Krankenhausordnung gewesen sei; für die Klinik sei allein die Tatsache entscheidend gewesen, daß der Beigeladene durch das Verlassen des Krankenhauses, den Aufenthalt in Gaststätten und das Übernachten in Hotels seine Mitmenschen gefährdet habe. Diese Aussage steht im Einklang mit den Unterbringungsbeschlüssen der Amtsgerichte. Dies durfte dem LSG genügen um festzustellen, daß sich eine Unterbringung des Beigeladenen wegen Alkoholsucht nicht erweisen lasse.

Die Leistungspflicht der Beklagten ist auch nicht dadurch beendet worden, daß sie durch die Unterbringung des Beigeladenen in einem geschlossenen Krankenhaus nicht eine Heilbehandlung nach ihrem Ermessen (§ 1244 a Abs. 5 RVO) durchführen und der Beigeladene wegen seiner Zwangsasylierung einer Heilbehandlung durch die Beklagte nicht mehr zustimmen konnte (§ 1237 Abs. 6 RVO). In solchen Fällen greift § 135 BSHG ein, wie das BSG bereits entschieden hat (SozR Nr. 2 zu § 27 THG; SozR Nr. 34 und 36 zu § 1244 a RVO; Urteil vom 24. November 1971 - 4 RJ 45/71). Hier gilt die Regelung über das Weiterbestehen der bisherigen Zuständigkeit.

Der Auffassung der Beklagten, § 135 BSHG sei nach dem Grundsatz der Einheitlichkeit von Aufgaben- und Leistungsträger und nach seinem Zweck, eine kontinuierliche Behandlung des Tbc-Kranken zu sichern, bei Zwangsasylierung nicht anzuwenden, kann nicht zugestimmt werden. Bei der Begründung der sachlichen Zuständigkeit durch das Vorliegen der Voraussetzungen des § 1244 a RVO ist der Rentenversicherungsträger gleichzeitig Aufgaben- und Leistungsträger. Durch die Anordnung des Fortbestehens der Zuständigkeit in § 135 BSHG bei Änderung der für die Begründung der Zuständigkeit maßgeblichen Verhältnisse wird für Ausnahmefälle, wie die Zwangsasylierung bei disziplinwidrigem Verhalten, ein Auseinanderfallen von Aufgabenträger und Kostenträger in Kauf genommen.

Somit war die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647178

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