Entscheidungsstichwort (Thema)
Geschiedenenwitwenrente. Rücknahme eines nicht begünstigenden Verwaltungsakts aufgrund Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung
Orientierungssatz
1. Durch Beschluß des Großen Senats des BSG vom 25.4.1979 - GS 1/78 (BSGE 48, 146 = SozR 2200 § 1265 Nr 41) ist entschieden, daß die Unterhaltsbeitragspflicht nach § 60 EheG aF eine Unterhaltsverpflichtung iS des § 1265 S 2 Nr 1 RVO ist. Da dieses Urteil sich auf eine unveränderte Vorschrift bezieht (§ 1265 S 2 Nr 1 RVO) und die bisherige Rechtsprechung aufgibt, stellt es nachträglich die bisher ergangenen Urteile als unrichtig dar.
2. Ein nicht begünstigender Verwaltungsakt aufgrund einer Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn die Änderung auf der Erkenntnis der "Unrichtigkeit" der bisherigen Rechtsprechung beruht (vgl BSG vom 30.1.85 - 1 RJ 2/84 und vom 25.10.84 - 11 RAz 3/83 = SozR 1300 § 44 Nr 13).
Normenkette
SGB 10 § 44 Abs 1 S 1, § 48 Abs 2; RVO § 1265 S 2 Nr 1; EheG § 60
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 10.04.1984; Aktenzeichen L 2 J 794/81) |
SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 27.04.1981; Aktenzeichen S 16 J 515/80) |
Tatbestand
Die am 28. Mai 1924 geborene Klägerin begehrt "Geschiedenenwitwenrente" für die Zeit vom 1. Januar 1975 bis 25. April 1979.
Ihre 1956 mit dem Versicherten K. R. geschlossene Ehe wurde 1966 rechtskräftig aus beiderseitigem Verschulden geschieden. Aus der Ehe sind keine Kinder hervorgegangen. Die Klägerin hatte eine 1953 geborene Tochter in die Ehe mitgebracht, die im Haushalt lebte. Im Februar 1968 starb der Versicherte. Die Klägerin erhält von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) aufgrund eines Versicherungsfalles vom 15. Oktober 1975 ab 4. Februar 1977 Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit. Mit den Bescheiden vom 7. November 1968 und 29. November 1977 lehnte die Beklagte Anträge der Klägerin auf Hinterbliebenenrente ab. Diese Bescheide wurden bindend.
Im ersten Bescheid (7. November 1968) hatte die Beklagte ausgeführt, daß der Klägerin nach dem beiderseitigen Arbeitseinkommen zur Zeit des Todes des Versicherten kein Unterhaltsbeitrag zugestanden habe. Der Versicherte habe auch nichts gezahlt. Im zweiten Bescheid (29. November 1977) hatte sich die Beklagte darauf gestützt, daß den Versicherten grundsätzlich keine Unterhaltsverpflichtung iS des § 1265 Satz 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des Rentenreformgesetzes von 1972 getroffen habe, da die Ehe aus beiderseitigem Verschulden geschieden worden sei.
Einen erneuten Antrag der Klägerin vom 29. November 1979 lehnte die Beklagte unter Hinweis auf die früheren Bescheide ab (Bescheid vom 7. Februar 1980; Widerspruchsbescheid vom 14. Juli 1980). Die Klage blieb erfolglos (Urteil des Sozialgerichts -SG- vom 27. April 1981). In der Berufungsinstanz hat die Beklagte den Anspruch der Klägerin ab 26. April 1979 anerkannt, weil sich durch die Entscheidung des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 25. April 1979 die Auffassung in der Rechtsprechung durchgesetzt habe, daß auch ein Anspruch aus § 60 des Ehegesetzes (EheG) aF ein Unterhaltsanspruch iS des § 1265 Satz 2 RVO sei. Die Klägerin hat ihren Anspruch für die Zeit davor weiter verfolgt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 10. April 1984) und ausgeführt, § 48 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10), der den Sonderfall der Aufhebung eines Verwaltungsaktes wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse enthalte, sehe eine Rückwirkung nicht vor. Die Rechtsanwendung werde auch nicht dadurch rückwirkend falsch (§ 44 SGB 10), daß sich die höchstrichterliche Rechtsprechung ändere.
Mit der Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 44 und 48 SGB 10.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt vom 27. April 1981 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Hinterbliebenenrente für die Zeit vom 1. Januar 1975 bis 25. April 1979 nach dem Versicherten R. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist iS der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus. Wie mittlerweile durch die Rechtsprechung des BSG (Urteile vom 30. Januar 1985 - 1 RJ 2/84 - und vom 25. Oktober 1984 - 11 RAz 3/83 - SozR 1300 § 44 Nr 13) geklärt ist, ist ein nicht begünstigender Verwaltungsakt aufgrund einer Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn die Änderung auf der Erkenntnis der "Unrichtigkeit" der bisherigen Rechtsprechung beruht. Durch Beschluß des Großen Senats des BSG vom 25. April 1979 (BSGE 48, 146 = SozR 2200 § 1265 Nr 41) ist entschieden, daß die Unterhaltsbeitragspflicht nach § 60 EheG aF eine Unterhaltsverpflichtung iS des § 1265 S 2 Nr 1 RVO ist. Da dieses Urteil sich auf eine unveränderte Vorschrift bezieht (§ 1265 Satz 2 Nr 1 RVO) und die bisherige Rechtsprechung aufgibt, stellt es nachträglich die bisher ergangenen Urteile als unrichtig dar (BSG, Urteil vom 30. Januar 1985 - 1 RJ 2/84 -). Die Rechtsanwendung nach der bisher in der Rechtsprechung herrschenden Auffassung war damit auch in der Zeit vor dem Urteil vom 25. April 1979 nicht richtig. § 44 SGB 10 ist anzuwenden (BSG aaO). Nach § 44 Abs 4 SGB 10 werden daher Leistungen bis zu vier Jahren rückwirkend erbracht, und zwar gerechnet vom Beginn des Jahres an, in welchem der Antrag auf Rücknahme gestellt wurde. Dies geschah hier am 29. November 1979, so daß bei Erfüllung der übrigen Leistungsvoraussetzungen eine bis 1. Januar 1975 rückwirkende Gewährung in Frage kommt. Klargestellt ist ebenfalls, daß "waisenrentenberechtigt" auch ein Kind ist, das die Berechtigung zur Waisenrente allein von der früheren Ehefrau ableitet (BSG SozR 2200 § 1265 Nr 70).
Obwohl somit dem Anspruch der Klägerin für die Zeit vor dem 25. April 1979 keine grundsätzlichen Hindernisse mehr entgegenstehen, kann der Senat nicht abschließend entscheiden, da es an Feststellungen fehlt, die § 1265 Satz 2 RVO ausfüllen könnten. Unter den besonderen Voraussetzungen der Nrn 1 - 3 des § 1265 Satz 2 RVO wird einer früheren Ehefrau, deren Ehe vor dem 1. Juli 1977 geschieden worden ist, Hinterbliebenenrente gewährt, wenn eine Witwenrente nicht zu gewähren ist. Erforderlich ist, daß eine Unterhaltsverpflichtung wegen der Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse oder wegen der Erträgnisse der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit nicht bestanden hat (Nr 1), daß die Ehefrau im Zeitpunkt der Scheidung ein waisenrentenberechtigtes Kind erzog (Nr 2) und daß sie zumindest berufsunfähig ist (Nr 3). Das LSG hat zu diesen Voraussetzungen - von seinem rechtlichen Standpunkt aus zu Recht - keine Feststellungen getroffen. Insbesondere ist nicht geklärt, ab wann die Klägerin berufsunfähig oder erwerbsunfähig war. Sie begehrt Hinterbliebenenrente ab 1. Januar 1975. Nach den Feststellungen des LSG erhält sie jedoch erst ab 4. Februar 1977 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aufgrund eines Versicherungsfalles vom 15. Oktober 1975. Das LSG wird ua festzustellen haben, ob die Klägerin schon vor diesem Zeitpunkt berufs- oder erwerbsunfähig war.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen