Leitsatz (amtlich)
Anspruch auf Versorgung nach dem BVG hat auch das Kind, das erst nach dem schädigenden Ereignis, von dem die Mutter betroffen ist, erzeugt worden ist, und das nur deshalb krank zur Welt kommt, weil sich die Schädigungsfolge der Mutter, die der Mutter nicht bekannt gewesen ist, auf das Kind im Mutterleib übertragen hat (Fortführung BSG 1962-10-24 10 RV 583/59 = BSGE 18, 55).
Normenkette
BVG § 1 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20, Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1950-12-20, § 5 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1953-08-07
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. Oktober 1961 aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Die minderjährige Klägerin, geboren am 3. August 1956, ist die eheliche Tochter der Frau Lucie E, geborene W. Die Mutter der Klägerin wurde 1945 in ihrer Heimat in Ostpreußen von den Russen interniert, nach Rußland verschleppt und während der Internierung (bis August 1950) mehrfach vergewaltigt. Sie erhielt zunächst Versorgung nur wegen dystrophischer Störungen (vegetative Dystonie). Im Jahre 1953 verheiratete sie sich, erst bei der Geburt der Klägerin wurde im August 1956 medizinisch geklärt, daß die Mutter der Klägerin auch an einer seropositiven Lues leidet, die auf die Vergewaltigung zurückgeht; im Wege eines "Zugunstenbescheides" nach § 40 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) wurde im Jahre 1957 die Lues der Mutter der Klägerin als - weitere - Schädigungsfolge festgestellt, die Mutter der Klägerin bezieht seit 1. August 1950 Grundrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um zunächst 70 v. H., später 60 v. H., seit 1. Januar 1952 um 50 v. H. und Ausgleichsrente.
Bei der Geburt der Klägerin ergab sich, daß auch die Klägerin an einer seropositiven Lues leidet. Im August 1956 beantragte die Klägerin, auch bei ihr die Lues als Schädigungsfolge im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) anzuerkennen und ihr wegen dieser Gesundheitsstörung Versorgungsrente zu gewähren. Das Versorgungsamt Nürnberg lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 17. September 1958 ab, den Widerspruch wies das Landesversorgungsamt Bayern am 2. März 1959 zurück. Auf die Klage der Klägerin hob das Sozialgericht (SG) Nürnberg durch Urteil vom 25. November 1960 die Bescheide vom 17. September 1958 und vom 2. März 1959 auf und verurteilte den Beklagten, der Klägerin unter Anerkennung einer Lues latens als Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung ab 1. August 1956 Versorgungsrente nach einer MdE um 30 v. H. zu gewähren. Auf die Berufung des Beklagten hob das Bayerische Landessozialgericht (LSG) am 18. Oktober 1961 das Urteil des SG Nürnberg auf und wies die Klage ab. Zur Begründung führte das LSG aus: Der Klägerin stehe kein Anspruch nach dem BVG zu; zwar bestehe zwischen der luetischen Erkrankung der Klägerin und der bei ihrer Mutter als Schädigungsfolge anerkannten Lues ein ursächlicher Zusammenhang; die auf die Mutter durch Vergewaltigung übertragene Lues, die für die Mutter eine Gesundheitsstörung infolge unmittelbarer Kriegseinwirkung im Sinne der §§ 1 Abs. 2 Buchst. a, 5 Abs. 1 Buchst. d BVG darstelle, habe sich im Mutterleib auch auf die Klägerin übertragen; nach § 1 BVG sei aber nur versorgungsberechtigt, wer selbst einen Schädigungstatbestand im Sinne des BVG erfülle; Schädigungen, die bei anderen als den unmittelbar geschädigten Personen auftreten, die sich also mittelbar in der Person eines Dritten auswirkten, begründeten keinen Versorgungsanspruch. Im Gegensatz zu der Auffassung des SG sei die Klägerin hier als "Dritte" im Rechtssinne anzusehen. Der schädigende Vorgang, der hier in der Vergewaltigung der Mutter während der Internierung bestanden habe, habe ausschließlich die Mutter der Klägerin betroffen. Er sei zu einem Zeitpunkt beendet gewesen, als die Klägerin weder erzeugt noch geboren war; erst die gesundheitliche Folge dieser Schädigung, nämlich die durch die Vergewaltigung auf die Mutter übertragene Infektion mit einer venerischen Erkrankung (die Schädigungsfolge), habe sich auf die Klägerin ausgewirkt. Dieser Fall sei daher nicht anders zu beurteilen als der, der vom Bundessozialgericht (BSG) durch Urteil vom 15. Januar 1960 (BSG 11, 234 f.) entschieden worden sei; daß sich hier die Infektion der Klägerin bereits im Mutterleib vollzogen habe, könne "keine entscheidende Rolle spielen"; das SG habe sich auch zu Unrecht auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofes (BGH) vom 20. Dezember 1952 (BGHZ 8, 243 ff.) berufen, die Ansprüche nach bürgerlichem Recht betroffen habe. Das LSG ließ die Revision zu.
Das Urteil des LSG wurde der Klägerin am 25. November 1961 zugestellt. Sie legte am 23. Dezember 1961 Revision ein und beantragte,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. Oktober 1961 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 25. November 1960 zurückzuweisen.
Die Klägerin begründete die Revision - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 26. Februar 1962 - am 19. Februar 1962. Das LSG habe die §§ 1 Abs. 2 Buchst. a, 5 Abs. 1 Buchst. d BVG verletzt; entgegen der Ansicht des LSG seien die Voraussetzungen dieser Vorschriften auch in der Person der Klägerin erfüllt, die Vergewaltigung der Mutter als unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne der angeführten Vorschriften habe sich über den Gefahrenherd der schädigungsbedingten Erkrankung der Mutter auch auf die Klägerin erstreckt.
Der Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II.
Die Revision ist nach den §§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG zulässig; sie ist auch begründet.
Das LSG hat festgestellt,
daß die Mutter der Klägerin, Lucie E, im Mai 1945 von den Russen interniert und nach Rußland verschleppt worden ist,
daß sie sich bis August 1950 in russischer Internierung befunden hat,
daß sie in dieser Zeit mehrfach vergewaltigt und mit einer Lues angesteckt worden ist,
daß diese luetische Infektion der Mutter der Klägerin im Versorgungsverfahren der Mutter zunächst unerkannt geblieben und erstmals bei der Geburt der Klägerin im August 1956 diagnostiziert worden ist,
daß die Klägerin mit einer angeborenen Lues zur Welt gekommen und
daß die Lues von der Mutter auf die Klägerin im embryonalen Zustand übertragen worden ist.
Diese Feststellungen sind für das BSG bindend (§ 163 SGG). Das LSG hat aus diesem Sachverhalt zu Unrecht den Schluß gezogen, der Klägerin stehe ein Anspruch auf Versorgung nach dem BVG nicht zu.
Nach § 1 Abs. 1 und 2 Buchst. a BVG erhält auf Antrag Versorgung, "wer" durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Nach § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG gelten als "unmittelbare Kriegseinwirkungen" schädigende Vorgänge, die infolge einer mit der Verschleppung zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind.
Die Klägerin ist erst mehrere Jahre nach der letzten Vergewaltigung ihrer Mutter erzeugt und geboren worden. Der erkennende Senat braucht sich daher nicht mit der Frage zu befassen, ob dem Kind im Mutterleib, dem nasciturus, bereits vor der Vollendung der Geburt (§ 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) eine volle oder eine beschränkte Rechtsfähigkeit zukommt und ob es mit der Vollendung der Geburt Ansprüche auf Grund von Ereignissen erwerben kann, die die Mutter während der Schwangerschaft betroffen und zu einem "Schaden" entweder bei Mutter und Kind oder nur bei dem Kind geführt haben (vgl. hierzu das Urteil des 10. Senats des BSG vom 24. Oktober 1962, BSG 18, 55 ff. = NJW 1963, 1078 und 1894), das die Schädigung des nasciturus durch kriegsbedingte Schädigung der Mutter betrifft; das Urteil des 2. Senats des BSG vom 23. Juni 1959, BSG 10, 97 ff., das ausspricht, daß das Kind, das im Mutterleib durch einen Arbeitsunfall der Mutter geschädigt worden ist, keine Entschädigungsansprüche gegenüber dem Träger der gesetzlichen Unfallversicherung hat; das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 19. Juli 1961, DÖV 1962, 67, in dem einem während der Verschleppung geborenen Kinde Kriegsgefangenenentschädigung zugebilligt worden ist, und das Urteil des BVerwG vom 27. Februar 1962, BVerwGE 14, 43 = MDR 62, 644, in dem auch ein vor der Vertreibung Erzeugter, aber erst nachher Geborener als Vertriebener (im Sinne des § 11 des Lastenausgleichsgesetzes anerkannt worden ist). Im vorliegenden Fall ist die Klägerin nicht als nasciturus geschädigt worden, die Vergewaltigung der Mutter, die zu einer Schädigung der Mutter im Sinne der §§ 1 Abs. 2 Buchst a, 5 Abs. 1 Buchst. d BVG geführt hat, hat nicht einen nasciturus mitbetroffen; der "Wer", der durch die "unmittelbare Kriegseinwirkung" geschädigt worden ist, ist nur die Mutter der Klägerin gewesen. Die Schädigung der Klägerin ist die mittelbare Folge davon, daß die Mutter der Klägerin geschädigt worden ist, die Klägerin ist ein "anderer" als der "Wer", der "unmittelbaren Kriegseinwirkungen" ausgesetzt gewesen ist. Wenn das BVG nur wegen der Folgen einer "unmittelbaren" Kriegseinwirkung Versorgung gewährt, so ist damit zwar nicht ausgeschlossen, daß die Folge eines schädigenden Ereignisses zeitlich erst nach diesem Ereignis eintritt, es ist aber grundsätzlich unerläßlich, daß die Folge des schädigenden Ereignisses in der Person eintritt, die der unmittelbaren Kriegseinwirkung ausgesetzt gewesen ist. Wie der erkennende Senat in dem Urteil BSG 11, 234 ff. ausgeführt hat, ist nach den §§ 1 ff. nur versorgungsberechtigt, wer selbst einen Schädigungstatbestand im Sinne dieser Vorschriften erfüllt, Schädigungen, die bei anderen als den unmittelbar geschädigten Personen auftreten, begründen im Regelfalle keinen Versorgungsanspruch. Es kommt deshalb nicht darauf an, ob das schädigende Ereignis, das die wesentliche Bedingung für die Gesundheitsstörung der Mutter gewesen ist, auch die wesentliche Bedingung oder eine wesentliche Bedingung für die Gesundheitsstörung des Kindes gewesen ist. Die Theorie der "wesentlichen Bedingung" findet im Recht der Kriegsopferversorgung (KOV) ebenso wie im Recht der Unfallversicherung nur Anwendung, wenn zu prüfen ist, ob dann, wenn bei einer Person, die zu dem versorgungsrechtlich geschützten Personenkreis oder zu dem vom Recht der Unfallversicherung erfaßten Personenkreis gehört, mehrere Bedingungen zu einem "Erfolg", der Schädigung oder dem Arbeitsunfall, beigetragen haben, das schädigende Ereignis oder das Unfallereignis die wesentliche Bedingung gewesen ist; auf diese Theorie kommt es nicht an, wenn das Ereignis - allein oder neben anderen Bedingungen - eine Person betroffen hat, die nicht zu dem in diesen beiden Rechtsgebieten geschützten Personenkreis gehört. Wie der Senat in dem Urteil BSG 11, 234 ff. weiter ausgeführt hat, ist nicht davon auszugehen, daß der Gesetzgeber die Frage, ob anderen als den unmittelbar geschädigten Personen Versorgung zu gewähren sei, versehentlich übergangen habe, und daß es sich deshalb um eine Lücke des Gesetzes handele, die von der Rechtsprechung auszufüllen sei. Die gesetzliche Regelung, die im BVG getroffen ist, zwingt nach der Überzeugung des Senats (vgl. aaO 235) vielmehr zu der Annahme, daß das Gesetz den nach dem BVG anspruchsberechtigten Personenkreis im Prinzip auf die Personen hat beschränken wollen , die selbst von einem schädigenden Ereignis betroffen sind; damit ist - argumentum e contrario - gesetzlich normiert, daß "andere" Personen nach dem BVG in aller Regel nicht versorgungsberechtigt sind.
Damit ist aber - entgegen der Meinung des LSG - nicht gesagt, das Gesetz habe in jedem Falle "andere" als die von einer unmittelbaren Kriegseinwirkung betroffenen Personen von dem versorgungsrechtlichen Schutz ausschließen wollen; es liegt hier nicht im "Plan des Gesetzes" (vgl. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2. Aufl., S. 138, 139, Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, S. 286), Ausnahmen von der Regel auszuschließen. Diese Funktion hat das BVG nicht, es will nicht atypische, aber vom Sinn und Zweck des Gesetzes erfaßte Fälle unberücksichtigt lassen und von der Gewährung der Versorgungsleistungen ausnehmen. In dem Urteil BSG 18, 55 ff, 59/60 ist schon ausgeführt, bei Erlaß des BVG sei nicht an den Fall gedacht worden, daß ein Gesundheitsschaden als Folge einer kriegsbedingten Schädigung schon bei einem nasciturus eingetreten sei; sicher ist aber auch nicht an den noch ferner liegenden, in der Wirklichkeit aber - wie sich hier zeigt - doch möglichen Fall gedacht worden, daß ein Kind, das erst nach dem schädigenden Ereignis erzeugt worden ist, deshalb - und nur deshalb - krank zur Welt kommt, weil sich die Schädigungsfolge der Mutter auf das später erzeugte Kind durch den Plazentakreislauf schon im Mutterleib übertragen hat. Insoweit darf nicht außer acht bleiben, daß das werdende Kind vor der Geburt mit der Mutter eine biologische Einheit bildet, daß es Erkrankungen und anderen gesundheitlichen Gefährdungen der Mutter mit ausgesetzt ist und daß Erkrankungen oder äußere Gewalteinwirkungen auf die Mutter das werdende Kind zwar nicht immer mitschädigen, daß sie es aber jedenfalls schon im Mutterleib schädigen können. Im vorliegenden Fall haben sie dies nach den unangefochtenen medizinischen Feststellungen auch getan. "Die Rechtsordnung ist in dieser Hinsicht an das Phänomen der Natur gebunden. Sie kann und darf nicht an dieser Naturgegebenheit vorbeigehen" (vgl. BGHZ 8, 243 ff, 248; mit diesem Urteil hat der BGH einem Kind, dessen Mutter fahrlässig im Krankenhaus mit einer Lues infiziert und das mit einer angeborenen Lues zur Welt gekommen ist, Schadensersatzansprüche nach § 823 Abs. 1 BGB zugesprochen, obwohl das Kind erst nach der Infizierung der Mutter erzeugt und geboren worden ist). Durch diese naturgegebene Tatsache unterscheiden sich die Fälle der vorliegenden Art - entgegen der Meinung des LSG - "wesentlich" von den Fällen, in denen ein bereits lebender Mensch von einem durch die unerlaubte Handlung eines Dritten, durch ein Unfallereignis oder durch einen schädigenden Tatbestand im Sinne des BVG geschädigten Menschen infiziert worden ist (vgl. den Fall BSG 11, 234 ff). Es ist bei der gesetzlichen Regelung sinnvoll erschienen, jedenfalls den Schutz nach dem BVG auf die Personen zu beschränken, die selbst von dem schädigenden Ereignis betroffen sind; dies schon deshalb, weil jede andere Regelung den Personenkreis, auf den die Vorschriften des BVG zugeschnitten sind, unabsehbar ausgedehnt hätte und deshalb nicht zu rechtfertigen wäre. Es hat aber bei der Schaffung des BVG kein Anlaß bestanden, das Kind von der Versorgung nach dem "Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges" auszuschließen, das zwar bei dem Eintritt der Schädigung noch nicht erzeugt, auch nicht als Folge etwa einer Vergewaltigung erzeugt, sondern erst Jahre nach dem schädigenden Ereignis erzeugt worden ist, das aber deshalb ein "Kriegsopfer" ist, weil seine Mutter schon vor seiner Erzeugung durch ein schädigendes Ereignis im Sinne des Versorgungsrechts geschädigt worden ist und weil es deshalb auch selbst körperlich geschädigt zur Welt gekommen ist. Da das Gesetz insoweit eine Lücke enthält, ist diese Lücke im Wege der "ergänzenden Rechtsfindung" vom Richter auszufüllen. Im vorliegenden Fall bietet sich dafür der Weg der ausdehnenden Anwendung des Gesetzes (Analogie). Der Tatbestand, der hier zu beurteilen ist, ist in seinen wesentlichen Teilen gleich und damit rechtsähnlich wie die Fälle, die in den §§ 1, 5 Abs. 1 Buchst. d BVG geregelt sind (vgl. Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 15. Aufl., 1. Halbband, § 58 II 1, 339 und die Literaturhinweise in BSG 18, 60). Wesensgleich ist der vorliegende Fall den im BVG geregelten Fällen deshalb, weil hier die unmittelbare Kriegseinwirkung, die die Mutter betroffen hat und die den Versorgungsanspruch der Mutter nach dem BVG begründet, auch das erst später erzeugte und geborene Kind dieser Mutter getroffen hat; dieses Kind ist nur deshalb als lueskrankes Kind geboren worden, weil seine Mutter eine Schädigung im Sinne des BVG erlitten hat, nur deshalb ist es auch selbst ein "Opfer des Krieges". Eine solche ausdehnende Anwendung des Gesetzes entspricht auch dem Sinnzusammenhang, nach dem im BVG die Ansprüche auf Versorgung geregelt sind. Das BVG gewährt diese Ansprüche deshalb, weil es - ebenso wie z. B. das Lastenausgleichsgesetz, das Häftlingshilfegesetz, das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz - einen gewissen Ausgleich geben will für das Sonderopfer, das bestimmten Personengruppen durch die Kriegsereignisse zwangsläufig abverlangt worden ist, diese Gesetze wollen die "Schicksalsschläge", durch die Personengruppen vor anderen betroffen sind, wenigstens teilweise ausgleichen und damit die Ungleichheit der Schicksalbetroffenheit lindern (vgl. hierzu Werner, Das Problem des Rechtsstaates 1960, 21 ff, 23; Bogs in Verhandlungen des 43. Deutschen Juristentages 1960, Bd. II, Sitzungsbericht, G 14 ff), sie sind bestimmt durch eine "Mischung von Aufopferungs- und Fürsorgeprinzipien" (vgl. zum BVG das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juli 1963, 1 BvL 101/58, NJW 1963, 1727 ff). Diese Gesetze tragen dem Wandel des Rechtsgefühls Rechnung, dem das Grundgesetz (GG) verpflichtenden Ausdruck verliehen hat, indem es in Art. 20 Abs. 1 GG für die Bundesrepublik den Status des "sozialen Bundesstaats" normiert und in Art. 28 Abs. 1 GG auf die im GG enthaltenen Grundsätze des "sozialen Rechtsstaates" verwiesen hat. Ausdruck dieses Bekenntnisses zum sozialen Rechtsstaat ist; soweit es sich um den vorliegenden Fall handelt, auch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, wonach "jeder" das Recht auf "körperliche Unversehrtheit" hat und damit darauf, daß "nicht von Menschenhand das organische Wachstum gestört oder beeinträchtigt werde" (BGHZ 8, 243 ff, 247); hat jemand wegen einer Schädigung seiner Mutter schon von seiner Zeugung an "nicht die Gesundheit empfangen, die von Schöpfung und Natur für den lebenden Organismus eines Menschen (der Rechtsordnung) vorausgegeben ist" (BGHZ aaO), so steht ihm danach ein "Ausgleichsanspruch" ebenso zu, wie wenn ihm nach seiner Geburt ein schädigendes Ereignis begegnet wäre. Soweit dieses Ereignis auf der unerlaubten Handlung eines Dritten beruht, ergibt sich der Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB (vgl. BGHZ aaO); soweit es sich um ein schädigendes Ereignis im Sinne des BVG handelt, folgt dies aus der analogen Anwendung der Vorschriften des BVG, mit der auf diesem Gebiet der Verwirklichung des "sozialen Rechtsstaates" gedient wird; die analoge Anwendung dieser Vorschriften trägt ebenso dem Opfer an Gesundheit, dem die Klägerin "naturnotwendig" als Kind ihrer Mutter unterworfen ist, Rechnung wie dem Bedarf der Klägerin nach staatlicher Hilfe wegen dieses Opfers (vgl. BVerfG aaO). Es bedarf damit keiner Erörterung darüber, ob dieser Anspruch allein aus der "Sozialstaatsklausel" des GG herzuleiten ist (so Bogs aaO G 17; Rohwer-Kahlmann, Juristische Schulung 1, 285 ff, 189, je mit weiteren Hinweisen; a. A. BSG, Urteil vom 23. Juni 1959, BSG 10, 97 ff, 100).
Das LSG hat sonach, wenn es den Anspruch der Klägerin auf Versorgung verneint hat, gegen die §§ 1 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG insoweit verstoßen, als es diese Vorschriften nicht nach ihrem Sinngehalt und entsprechend den Verfassungsgeboten der Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1, 2 Abs. 2 Satz 1 GG auf den vorliegenden Sachverhalt entsprechend angewandt hat. Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben. Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden, da das LSG - von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus zu Recht - nicht geprüft hat, in welcher Höhe die Erwerbsfähigkeit der Klägerin (vgl. § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG) seit ihrer Geburt gemindert ist. Die Sache ist daher an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen
BSGE, 41 |
NJW 1964, 470 |
MDR 1964, 181 |