Entscheidungsstichwort (Thema)
Sachaufklärung. Beweiswürdigung
Orientierungssatz
Kommen medizinische Sachverständige bei der Beurteilung des Zusammenhangs zwischen Schädigung und Tod eines Beschädigten zu verschiedenen Ergebnissen, stimmen sie jedoch insoweit überein, daß noch weitere Unterlagen über den Krankheitsverlauf erforderlich seien, um zu genaueren Ergebnissen zu kommen, so muß das Gericht diese Unterlagen dem Gutachter zuleiten. Es darf sich nicht darauf beschränken, sie selbst auszuwerten.
Normenkette
SGG §§ 103, 128
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 15.01.1963) |
SG Trier (Entscheidung vom 16.09.1958) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. Januar 1963 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Klägerinnen sind die Ehefrau und die Tochter des am 2. Mai 1900 geborenen und am 25. Januar 1957 verstorbenen Land- und Gastwirts Christian E (E.). E. erhielt wegen "Verlusts des rechten Unterschenkels am Übergang vom oberen zum unteren Drittel bei ungünstigen Stumpfverhältnissen" eine Versorgungsrente, zuletzt nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 60 v. H. In der Sterbeurkunde ist "Herzmuskelschwäche mit Ödemen, akute Herzschwäche mit Lungenödemen" als Todesursache des E. angegeben.
Im Februar 1957 beantragten die Klägerinnen Hinterbliebenenversorgung und das volle Bestattungsgeld. Der Arzt Dr. B bescheinigte am 6. Februar 1957, "es sei mit Sicherheit anzunehmen, daß die schwere Beinverletzung des E. im Jahre 1945 zu einer Herzmuskelschwäche geführt habe, die schon mehrere Jahre Erscheinungen gemacht und jetzt durch Lungenödemen zum Tode geführt habe".
Das Versorgungsamt (VersorgA) Trier lehnte mit den Bescheiden vom 26. Februar 1957 und vom 1. März 1957 die Hinterbliebenenrente sowie das volle Bestattungsgeld ab, weil E. nach der versorgungsärztlichen Stellungnahme nicht an seinem Versorgungsleiden gestorben sei. Das Landesversorgungsamt (LVersorgA) Rheinland-Pfalz wies den Widerspruch zurück (Bescheide vom 9. und 10. Juli 1957). Die Klägerinnen erhoben Klage beim Sozialgericht (SG) Trier. Das SG holte ein Gutachten der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg ein; darin führten die Ärzte Prof. Dr. M, Privatdozent Dr. L und Dr. Sch aus, das "Herzleiden mit Todesfolge" des E. sei nicht mit Wahrscheinlichkeit ursächlich auf das Schädigungsleiden zurückzuführen und hierdurch auch nicht beschleunigt worden. Das SG wies die Klage mit Urteil vom 16. September 1958 ab. Die Klägerinnen legten Berufung an das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz ein. Auf den Antrag der Klägerinnen nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) holte das LSG ein Gutachten der Medizinischen Universitätsklinik Köln ein. Die Ärzte Prof. Dr. B und Dr. K vertraten darin die Auffassung, der Tod des E. sei durch den Verlust des rechten Unterschenkels bei ungünstigen Stumpfverhältnissen mitherbeigeführt worden, weil ein langjähriger Herdprozeß anzunehmen und deshalb ausreichend wahrscheinlich sei, daß die Lebenserwartung auch bei vorhandener altersbedingter Coronarsklerose durch die zusätzliche fokaltoxische Wirkung auf das Herz zumindest um ein Jahr verkürzt worden sei.
Der Beklagte legte darauf weitere Unterlagen vor; er überreichte das Krankenblatt des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder T, Chefarzt Dr. P, über die Behandlung des E. vom 3. April bis 16. April 1951 wegen Stumpfkorrekturen; er überreichte ferner einen Befund- und Behandlungsbericht des Dr. B vom 12. November 1962, in dem es u. a. heißt, im letzten Lebensjahr seien bei E. Herzinsuffizienzbeschwerden mit starken Ödemen bei ikterischer Verfärbung und großer harter Leber aufgetreten, der Tod sei unter Zeichen eines Herzversagens bei Leberinsuffizienz durch Leberzirrhose plötzlich eingetreten; dem Behandlungs- und Befundbericht des Dr. B ist ein Arztbrief des leitenden Arztes der Inneren Abteilung des Elisabeth-Krankenhauses T Dr. M über die Behandlung des E. vom 13. Dezember 1954 bis 2. Februar 1955 beigefügt, darin sind die damals erhobenen Befunde und Untersuchungsergebnisse dargelegt.
Das LSG wies die Berufung mit Urteil vom 15. Januar 1963 zurück. Es führte aus, die Annahme der Ärzte der Universitätsklinik Köln, der Tod des E. sei eine Folge seines Versorgungsleidens, weil der Tod auf einen durch Stumpfeiterungen begünstigten Herzmuskelschaden zurückzuführen sei, sei durch die weiteren Unterlagen, die das LSG herangezogen habe, nicht bestätigt worden; E. habe, wie sich aus der (2.) Äußerung des Dr. B vom 12. November 1962 und aus dem Arztbrief des Dr. M vom 7. Februar 1955 ergeben habe, an einem schweren Leberleiden gelitten, an diesem Leiden sei er auch gestorben; dieses Leberleiden sei nicht auf das Versorgungsleiden zurückzuführen.
Das Urteil wurde den Klägerinnen am 8. Februar 1963 zugestellt. Die Klägerinnen legten am 6. März 1963 Revision ein. Sie beantragten,
die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihnen Hinterbliebenenversorgung und das volle Bestattungsgeld zu gewähren, hilfsweise, die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG Rheinland-Pfalz zurückzuverweisen.
Sie begründeten die Revision am 5. April 1963. Die Klägerinnen bezeichneten die Verfahrensvorschriften der §§ 106 und 109 SGG als verletzt; ein Mangel des Verfahrens liege darin, daß das LSG die von dem Beklagten überreichten Unterlagen, nämlich das Krankenblatt des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder über die Behandlung der Stumpfkorrektur bei E., den Behandlungs- und Befundbericht des Arztes Dr. B vom 12. November 1962 und den Arztbrief des Dr. M vom 7. Februar 1955, nicht abschriftlich übermittelt habe; das LSG habe diese Unterlagen auch der Medizinischen Universitätsklinik Köln zur Ergänzung ihres Gutachtens nach § 109 SGG übersenden müssen; die voneinander abweichenden Gutachten der Universitätskliniken und die "neuen" Unterlagen hätten das LSG veranlassen müssen, ein weiteres Gutachten einzuholen.
Der Beklagte beantragte,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Die Klägerinnen rügen zu Recht, das Verfahren des LSG leide an wesentlichen Mängeln.
Streitig ist, ob den Klägerinnen ein Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung und auf das volle Bestattungsgeld nach §§ 36 Abs. 1 und 38 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) zusteht, weil ihr Ehemann bzw. Vater (E.) "an" seinem Versorgungsleiden, "Verlust des rechten Unterschenkels mit ungünstigen Stumpfverhältnissen", gestorben ist, d. h. das Versorgungsleiden des E. für seinen Tod ursächlich gewesen ist (vgl. hierzu BSG 2, 65; 12, 213; 15, 85). Das LSG hat dies verneint; es hat festgestellt, das Leiden, das zum Tode des E. geführt habe, sei durch die Unterschenkelverletzung des E. und ihre Folgeerscheinungen nicht hervorgerufen oder so verschlimmert worden, daß dadurch die Lebenserwartung des E. um mindestens ein Jahr verkürzt worden sei. Für diese Feststellung hat das LSG jedoch keine ausreichenden medizinischen Unterlagen gehabt. Dem LSG haben zu der Frage, ob der Tod des E. auf sein Versorgungsleiden zurückzuführen sei, die Gutachten zweier Medizinischer Universitätskliniken vorgelegen, das Gutachten der Medizinischen Universitätsklinik in Heidelberg (Prof. Dr. M, Privatdozent Dr. L und Dr. Sch) und das Gutachten der Medizinischen Universitätsklinik Köln (Prof. Dr. B und Dr. K). Beide Gutachten haben die Bescheinigung des behandelnden Arztes Dr. B vom 6. Februar 1957 , in der es heißt, daß "eine Herzmuskelschwäche schon mehrere Jahre lang Erscheinungen gemacht habe und jetzt zum Tod geführt habe", ihrer medizinischen Beurteilung zugrunde gelegt. Die Gutachter sind zu abweichenden Ergebnissen gekommen. Die Ärzte der Heidelberger Universitätsklinik haben ausgeführt, "das Herzleiden mit Todesfolge" sei wahrscheinlich nicht auf das Schädigungsleiden zurückzuführen; die Amputation und die späteren Stumpfeiterungen hätten keine Herzerkrankung verursacht, es müsse vielmehr an ein anderes Leiden "als Ursache dafür" gedacht werden, ein solches Leiden sei jedoch aus den vorliegenden dürftigen Befunden aus der Zeit ab 1953 nicht festzustellen. Die Ärzte der Kölner Klinik haben demgegenüber die Auffassung vertreten, es sei zwar weder nachzuweisen noch auszuschließen, daß bei E. eine Herzmuskelschädigung bestanden habe, es sei jedoch zu bejahen, daß der Tod des E. durch den Verlust des rechten Unterschenkels bei ungünstigen Stumpfverhältnissen mitherbeigeführt worden sei, weil ein langjähriger Herdprozeß anzunehmen und es deshalb ausreichend wahrscheinlich sei, daß die Lebenserwartung auch bei vorhandener altersbedingter Coronarsklerose durch die zusätzliche fokaltoxische Wirkung auf das Herz zumindest um ein Jahr verkürzt worden sei. Beide Gutachten stimmen jedenfalls insoweit überein, als sie zum Ausdruck bringen, daß die medizinische Beurteilung des Todesleidens und seiner Ursachen dadurch erschwert worden sei, daß keine oder nur dürftige ärztliche Befunde und Untersuchungsergebnisse über den Gesundheitszustand des E. in den letzten Jahren vor seinem Tod zur Auswertung vorgelegen hätten. Die Gutachten stimmen auch insoweit überein, als in beiden die Auffassung vertreten wird, daß sich aufgrund der vorhandenen Unterlagen keine "gesicherte Todesursache" ergeben habe. Der Beklagte hat, nachdem diese beiden Gutachten erstellt worden waren, dem LSG - inzwischen ermittelte - weitere Unterlagen über ärztliche Untersuchungsergebnisse und Befunde aus den letzten Jahren vor dem Tod des E. vorgelegt, und zwar das Krankenblatt des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder T über die Behandlung des E. vom 3. April bis 16. April 1951 wegen Stumpfkorrektur, den Befund- und Behandlungsbericht des Arztes Dr. B vom 12. November 1962 und schließlich den Arztbrief des leitenden Arztes der Inneren Abteilung des Elisabeth-Krankenhauses T, Dr. M vom 7. Februar 1955 über die Behandlung des E. vom 13. Dezember 1954 bis 2. Februar 1955. In dem Befund- und Behandlungsbericht vom 12. November 1962 hat Dr. B seine Bescheinigung vom 6. Februar 1957 wesentlich "ergänzt"; er hat u. a. ausgeführt, E. sei nach dem Kriege wiederholt wegen Bronchitis, Conjunctivitis (Bindehautentzündung) sowie Akne (Ausschlag) und 1954 wegen Ikterus (Gelbsucht) behandelt worden; im letzten Lebensjahr seien Herzinsuffizienzerscheinungen mit starken Ödemen bei ikterischer Verfärbung und großer harter Leber aufgetreten; der Tod des E. sei unter dem Zeichen eines Herzversagens bei Leberinsuffizienz durch Leberzirrhose plötzlich eingetreten. In dem Arztbrief des Dr. M vom 7. Februar 1955 sind auf Grund der dargelegten Organbefunde als Krankheiten des E. mitgeteilt ein "schwerer, in Richtung der Zirrhose laufender Leberparenchymschaden (Leberzellenschaden)", eine chronische Tonsillitis, eine chronische Laryngitis (Kehlkopfentzündung) alkoholika , eine Akne sowie eine leichte Sekretion am Amputationsstumpf mit Neurinom (Fasergeschwulst nervöser Natur) und eine dauernde Blutsenkungsbeschleunigung, die auf eine Gallenentzündung zurückzuführen sei.
Das LSG hat diese "neuen" Unterlagen - ohne Hinzuziehung eines ärztlichen Gutachters - selbst ausgewertet. Es ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, für eine durch Stumpfeiterungen begünstigte Herz- oder Herzmuskelschädigung, die in dem Gutachten der Kölner Klinik als Mitursache des Todes angenommen worden sei, habe sich kein Anhalt ergeben, als Todesursache sei nur "ein in eine stets lebensbedrohliche Leberzirrhose ausgeartetes Leberleiden" in Betracht gekommen; daß dieses Leiden durch die anerkannte Schädigungsfolge hervorgerufen oder verschlimmert worden sei, sei von den Klägerinnen und dem Arzt Dr. B nicht behauptet worden und auch nicht anzunehmen, hierfür biete der Arztbrief des Dr. M vom 7. Februar 1955 keinen Anhalt. Zu diesem Ergebnis hat aber das LSG ohne sachkundige Auswertung der "neuen" Unterlagen durch einen ärztlichen Gutachter noch nicht kommen dürfen. Die Feststellung des LSG, E. sei an einem - von dem Versorgungsleiden unbeeinflußten - Leberleiden gestorben, findet auch in den Befundberichten der Ärzte Dr. B und Dr. M noch keine hinreichende Stütze; Dr. M hat sich zu der Frage, ob die von ihm festgestellten Leiden des E. auf das Versorgungsleiden zurückzuführen sind, jedenfalls nicht abschließend geäußert. Die "neuen" Unterlagen sind geeignet gewesen, die "Befundlücken" zu schließen, die die volle Aufklärung des medizinischen Sachverhalts durch die Gutachten der Universitätskliniken gehindert haben; sie können dem ärztlichen Sachverständigen nunmehr die Möglichkeit geben, eine "gesicherte Todesursache" zu ermitteln und die Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem "Todesleiden" und Versorgungsleiden eindeutig und erschöpfend zu klären. Das LSG hat diese Möglichkeit, zu einer erschöpfenden Aufklärung des medizinischen Sachverhalts zu kommen, ausnutzen müssen; es hat unter den gegebenen Umständen auf ein abschließendes ärztliches Gutachten nicht verzichten dürfen.
Das LSG hat sonach, wenn es verneint hat, daß E. "an" seinem Versorgungsleiden verstorben sei, seine Pflicht, den Sachverhalt vom Amts wegen zu erforschen, nicht voll erfüllt, es hat die Beweise, die medizinisch für die Feststellung des Sachverhalts erheblich gewesen sind, nicht vollständig erhoben und erschöpfend gewürdigt. Es hat damit gegen die §§ 103 und 128 SGG verstoßen. Die Klägerinnen haben diese Verfahrensmängel mit dem Vorbringen, das LSG habe zu den "neuen" medizinischen Unterlagen noch eine ärztliche Stellungnahme einholen müssen, noch hinreichend in der nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG gebotenen Form gerügt. Unter diesen Umständen kann dahingestellt bleiben, ob auch die weiteren Verfahrensrügen, die die Klägerinnen erhoben haben, durchgreifen. Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft; sie ist auch frist- und formgerecht eingelegt und damit zulässig.
Die Revision ist auch begründet, denn es ist möglich, daß das LSG bei weiterer Aufklärung des Sachverhalts und neuer Würdigung der Beweise zu einem anderen Ergebnis kommt.
Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben, der Senat kann nicht selbst entscheiden, da noch tatsächliche Feststellungen zu treffen sind; die Sache ist sonach zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen