Leitsatz (amtlich)
1. Die Anwendung eines allgemeinen Ausreiseverbots auf in die deutschen Ostgebiete Evakuierte stellt sich als feindliche Maßnahme iS des § 28 Abs 1 Nr 3 AVG (= § 1251 Abs 1 Nr 3 RVO) dar (Festhalten an BSG 16.12.1981 11 RA 82/80 = BSGE 53, 37 = SozR 2200 § 1251 Nr 91).
2. Die Erledigung eines Anspruchs durch gerichtlichen Vergleich schließt einen Anspruch auf Neufeststellung nach § 44 SGB 10 nicht aus, soweit der Vergleich keinen Verzicht auf das materielle Recht iS des § 46 SGB 1 enthält (Fortführung von BSG 22.5.1975 10 RV 153/74 = SozR 3900 § 40 Nr 2 und BSG 23.6.1983 2 RU 2/82).
Normenkette
AVG § 28 Abs 1 Nr 3 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1251 Abs 1 Nr 3 Fassung: 1965-06-09; SGB 10 § 44 Abs 1 Fassung: 1980-08-18; SGB 1 § 46 Abs 1 Fassung: 1975-12-11; SGG § 101
Verfahrensgang
SG Hamburg (Entscheidung vom 23.07.1984; Aktenzeichen 9 AN 300/83) |
Tatbestand
Streitig ist, ob der Klägerin aufgrund von Ersatzzeiten nach § 28 Abs 1 Nr 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) eine höhere Rente unter Rücknahme ergangener Rentenbescheide zu gewähren ist.
Die nach ihrer Eheschließung in Berlin wohnende Klägerin verbrachte als Evakuierte ab März 1943 die restliche Kriegszeit auf dem elterlichen Hof in Oberschlesien. Im Mai 1954 gelangte sie in die Bundesrepublik Deutschland, nachdem ihr die polnischen Behörden zuvor die Ausreise verweigert hatten.
Die Klägerin begehrte schon in einem Vorprozeß, die ab Februar 1976 bezogene Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) durch Anrechnung der Zeit vom Januar 1947 bis Mai 1954 zu erhöhen. Der Prozeß endete am 28. Februar 1979 mit einem gerichtlichen Vergleich. Darin verpflichtete sich die Beklagte, aus dem genannten Zeitraum jeweils die Monate Dezember bis März als glaubhaft gemachte Beschäftigungszeit anzuerkennen; die Klägerin verzichtete auf weitergehende Ansprüche. In Ausführung des Vergleichs gewährte die Beklagte mit Bescheid vom 29. Mai 1979 eine höhere EU-Rente. Mit Bescheid vom 31. März 1982 bewilligte sie der Klägerin ab 1. März 1982 Altersruhegeld. Mit ihrem Widerspruch begehrte die Klägerin unter Hinweis auf ein Urteil des 11. Senats des Bundessozialgerichts -BSG- (BSGE 53, 37) erneut die Anrechnung der streitig gewesenen Gesamtzeit. Den Widerspruch deutete die Beklagte im Einverständnis der Klägerin als Überprüfungsantrag; sie lehnte die Rücknahme der Bescheide vom 29. Mai 1979 und vom 31. März 1982 ab, da der Rechtsansicht der angeführten Entscheidung nicht zu folgen sei (Bescheid vom 13. Januar 1983; Widerspruchsbescheid vom 25. Mai 1983).
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 13. Januar und 25. Mai 1983 verpflichtet, die Bescheide vom 29. Mai 1979 und vom 31. März 1982 zurückzunehmen und die Rente unter zusätzlicher Anrechnung der Zeit vom 1. Januar 1947 bis zum 15. Mai 1954 - mit Ausnahme der mit Beschäftigungszeiten belegten Zeiträume - als Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 3 AVG unter Beachtung des § 44 Sozialgesetzbuch X - Verwaltungsverfahren - (SGB X) neu festzustellen. Es hielt die früheren Bescheide für rechtswidrig, weil sich bei Evakuierten die Nichtstattgabe von Ausreiseanträgen auch bei einem allgemeinen Ausreiseverbot als eine gegen Angehörige des ehemaligen Kriegsgegners Deutschland gerichtete, mithin "feindliche Maßnahme" darstelle; der Verzicht der Klägerin im Vergleich vom 28. Februar 1979 hindere nicht die unter Beachtung des § 44 Abs 4 SGB X vorzunehmende Neufeststellung.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte Verletzung des § 28 Abs 1 Nr 3 AVG. Der Begriff der "feindlichen Maßnahme" werde in dem angefochtenen Urteil und in BSGE 53, 37 auf den der "Maßnahme" reduziert.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des SG vom 23. Juli 1984 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe
Auf die Revision der Beklagten war das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen, da eine abschließende Beurteilung des Klageanspruchs weitere tatrichterliche Feststellungen zu dem im Vorprozeß erklärten "Verzicht auf weitergehende Ansprüche" erfordert.
1. Mißt man, wie das SG, diesem Verzicht keine Bedeutung bei, wäre allerdings das Urteil des SG nicht zu beanstanden. Denn für diesen Fall hat das SG zutreffend die Bescheide vom 29. Mai 1979 und 31. März 1982 als rechtswidrig angesehen und die Beklagte aufgrund vom § 44 SGB X zu deren Rücknahme und, wie der Hinweis auf § 44 Abs 4 in den Entscheidungsgründen ergibt, zur Rentenneufeststellung ab Januar 1978 verurteilt.
Die Beklagte hat nämlich zu Unrecht die streitige Zeit nicht als Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 3 AVG anerkannt. Die Klägerin war nach den Feststellungen des SG in dieser Zeit als Evakuierte in Oberschlesien von der polnischen Verwaltung an der Rückkehr verhindert worden. Das SG hat die hierfür maßgebenden Gründe dahinstehen lassen und insoweit nach dem Gesamtzusammenhang des Urteils die Anwendung des damals für Polen allgemein geltenden Ausreiseverbots unterstellt. Die Beklagte rügt mit der Revision zu Unrecht, die Anwendung des allgemeinen Ausreiseverbots auf Evakuierte sei keine feindliche Maßnahme im Sinne des Ersatzzeittatbestandes. Die Rechtsprechung hat den Begriff der feindlichen Maßnahme in Anwendung auf Nachkriegsgeschehen stets so verstanden, daß er nicht alle Maßnahmen eines Feindstaates umfaßt; es muß sich vielmehr um Maßnahmen eines ehemaligen Feindstaates handeln, die sich gegen den früheren Kriegsgegner Deutschland richten. Diese Zielsetzung wurde in der bisherigen Rechtsprechung dann als gegeben angesehen, wenn die Maßnahme hauptsächlich Bevölkerungsteile mit deutscher Volkszugehörigkeit traf oder gerade die Ausreise nach Deutschland verhinderte (Urteil des erkennenden Senats BSGE 43, 218, 220; Urteil des 1. Senats BSGE 47, 113, 115 mwN). Wurde auf im Ausland wohnende Volksdeutsche ein für die Bewohner allgemein geltendes Ausreiseverbot angewandt, so hat die Rechtsprechung darin keine feindliche Maßnahme gesehen. Dagegen kann nach dem Urteil des Senats vom 16. Dezember 1981 die Anwendung eines allgemeinen Ausreiseverbots auf in die deutschen Ostgebiete Evakuierte als feindliche Maßnahme anzusehen sein, weil sie sich dort nur vorübergehend aufhielten und nicht zu der dortigen Wohnbevölkerung gehörten (BSGE 53, 37 = SozR 2200 § 1251 Nr 91). Voraussetzung ist dabei, daß die Rückkehr unmittelbar und nicht nur aufgrund der schlechten Nachkriegsverhältnisse verhindert wurde (Urteil vom 21. Februar 1985 - 11 RA 9/84 -).
Die Beklagte wendet zu Unrecht ein, die Rechtsprechung des erkennenden Senats sei entgegen einem Urteil des 1. Senats vom 25. Oktober 1978 - 1 RA 21/78 - (BSGE 47, 113 = SozR 2200 § 1251 Nr 52) ergangen. Denn dieses befaßt sich zwar mit der Anwendung des allgemeinen Ausreiseverbots auf die Wohnbevölkerung Oberschlesiens, nimmt aber zur Anwendung auf Evakuierte auch nicht beiläufig Stellung. Gleichwohl hat auch der 1. Senat angenommen, daß trotz eines allgemeinen Ausreiseverbotes die Verhinderung der Rückkehr im Einzelfall eine feindliche Maßnahme sein könne. Inwiefern in diesen Fällen der Begriff der "feindlichen Maßnahme" auf den der "Maßnahme" reduziert wurde, wie die Beklagte meint, ist nicht zu erkennen. Ihr Einwand, die Rechtsprechung des Senats stempele jedes Zurückhalten eines deutschen Staatsangehörigen gegen seinen Willen zu einer feindlichen Maßnahme, enthält zudem eine unzulässige Gleichsetzung der in den Vertreibungsgebieten wohnenden deutschen Staatsangehörigen mit der weit kleineren Gruppe der Evakuierten. Der Senat sieht keine Veranlassung, diese Rechtsprechung aufzugeben, zumal die Beklagte auf die vom Senat unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien herausgestellte Absicht des Gesetzgebers, durch den Ersatzzeittatbestand diejenigen Versicherten zu begünstigen, die insbesondere während des Krieges in die deutschen Ostgebiete evakuiert und nach Kriegsende dort festgehalten worden sind (Hinweis auf BT-Drucks IV/2572 S 25), nicht eingeht. Daß die aus Berlin in die deutschen Ostgebiete evakuierte Klägerin dorther stammte und von dort ihren Wohnsitz auf dem elterlichen Hof nahm, schließt ihre Zugehörigkeit zu den Evakuierten nicht aus, wie das SG zu Recht und von der Revision nicht angegriffen angenommen hat.
2. Das Urteil des SG müßte indessen eine Korrektur erfahren, wenn der im Vorprozeß erklärte Verzicht als materiell-rechtlicher Verzicht iS des damals schon geltenden § 46 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB I) auf vergangene und künftige Rentenerhöhungsansprüche wegen der streitigen Ersatzzeit zu verstehen wäre. Ein solcher Verzicht - der auch in einem gerichtlichen Vergleich wirksam erklärt werden konnte (§ 46 Abs 1 SGB I iVm dem Rechtsgedanken des § 126 BGB, vgl BSGE 12, 230 = SozR Nr 14 zu § 141 SGG) - hätte nämlich gemäß dem letzten Halbsatz von § 46 Abs 1 nur mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden können. Der Widerruf wäre wohl frühestens in der Begründung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 31. März 1982 zu finden. Das würde bedeuten, daß die Beklagte bis dahin die Zahlung der Rentenerhöhung zu Recht ablehnen und die Klägerin erst ab dann eine Aufhebung nur des Altersruhegeldbescheides gemäß § 48 SGB X verlangen könnte - vorausgesetzt, daß der Verzicht auch den damals noch nicht streitigen Anspruch auf höheres Altersruhegeld erfaßt hätte.
In Betracht kommt jedoch auch eine Auslegung des Verzichts dahin, daß die Klägerin lediglich weitere Ansprüche im Vorprozeß nicht mehr geltend machen wollte. Ein solcher "prozessualer" Verzicht könnte zu keiner Korrektur des angefochtenen Urteils führen. Er würde nämlich nichts daran ändern, daß die Bescheide vom 29. Mai 1979 und 31. März 1982 wegen Nichtübereinstimmung mit dem materiellen Recht rechtswidrig und daher nach § 44 SGB X zurückzunehmen wären. Die Aufnahme der Erklärung in einen gerichtlichen Vergleich bliebe insoweit ohne Wirkung (vgl dazu SozR 3900 § 40 Nr 2 und Urteil vom 23. Juni 1983 - 2 RU 2/82 - Versorgungsbeamter 1983, 143).
Aus dem Urteil des SG läßt sich nicht entnehmen, wie das SG den Verzicht verstanden hat. Einerseits heißt es im Urteil, die Klägerin habe "auf die Geltendmachung" weiterer Ansprüche verzichtet; an anderer Stelle wird unter Bezug auf § 46 Abs 1 SGB I gesagt, der Verzicht betreffe nur das Stammrecht und sei zum anderen widerrufbar.
Mithin bedarf der Sachverhalt insoweit noch der Klärung, weshalb der Rechtsstreit zurückzuverweisen war. Hierbei hat der Senat von der Möglichkeit des § 170 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gebrauch gemacht und den Rechtsstreit an das Landessozialgericht (LSG) zurückverwiesen, das für die Berufung zuständig gewesen wäre; maßgebend dafür war auch, daß der damalige Vorprozeß vor dem LSG geendet hat.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen