Leitsatz (amtlich)
Werden die Beteiligten mit einer Tatsachenwürdigung überrascht, für die bisher keine Hinweise vorlagen, so liegt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor.
Normenkette
SGG §§ 62, 128 Abs 2
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 19.03.1985; Aktenzeichen L 18 J 128/82) |
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 08.06.1982; Aktenzeichen S 12 J 262/79) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der Beklagten Altersruhegeld unter Berücksichtigung von in Rumänien zurückgelegten Beitragszeiten und verfolgungsbedingten Ersatzzeiten.
Der 1912 in R./Rumänien geborene Kläger ist als rassisch Verfolgter nach § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt. Er besaß von Geburt an die österreichische Staatsangehörigkeit und wurde 1918 rumänischer Staatsangehöriger. Nach seiner Schulentlassung arbeitete er eigenen Angaben zufolge von 1927 bis 1940 in R. als Kürschner. Von 1941 bis 1945 war er Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. Danach war er bis zu seiner Auswanderung nach Israel im Jahre 1964 wieder in R. als Arbeiter, Sägemeister und Kürschner tätig. In Israel hat er von 1964 bis 1976 142 Monatsbeiträge zur dortigen Rentenversicherung entrichtet.
Im Oktober 1976 beantragte der Kläger, ihm unter Berücksichtigung der in Rumänien zurückgelegten Beitragszeiten und der verfolgungsbedingten Ersatzzeit, Altersruhegeld zu gewähren. Er habe dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört. Aus Rumänien habe er hinausgestrebt, weil er sich zunehmend vereinsamt gefühlt habe. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag ab (Bescheid vom 11. Oktober 1977) und leitete den Widerspruch des Klägers an das Sozialgericht (SG) weiter. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 8. September 1982). Das Landessozialgericht (LSG) hat ua Ermittlungen darüber angestellt, ob ein bis 1964 in R./ Rumänien lebender Jude, der sich im täglichen Umgang der deutschen Sprache bedient habe, infolge Maßnahmen der rumänischen Regierung wegen seiner Zugehörigkeit zum Deutschtum zur Auswanderung nach Israel veranlaßt worden sein könne oder Rumänien aus anderen Gründen verlassen habe, durch Einholung einer Stellungnahme der Dokumentationszentrale der United Restitution Organization (URO) in Frankfurt/Main (Dr. B. F.) vom 24. Oktober 1984. Die URO hat ua ausgeführt:
"Die dem deutschen Sprach- und Kulturkreis zuzurechnenden Juden hätten es natürlich vorgezogen, ihr Leben innerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebietes fortzusetzen, weil die Lebensbedingungen für den Wiederaufbau der zum zweiten Mal verlorenen Existenz dort zumal aus klimatischer wie aus sprachlich-kultureller Sicht für sie wesentlich leichter gewesen wären."
"Unter den gegebenen Umständen war der Staat Israel grundsätzlich das einzige - zumindest am ehesten zugängliche - Land, in das den Zugehörigen des deutschen Sprach- und Kulturkreises aus Rumänien die Ausreise gestattet wurde".
"Eine ohne Betreten deutschen Bodens im Ausland - insbesondere in der Bukowina - von Kindheit an erworbene und im weiteren Verlauf des Lebens vermittelte und erhalten gebliebene Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis - steht auch bei Wohnsitznahme in Israel in einem nicht auflösbaren Zusammenhang mit der Verbundenheit zum deutschen Sprach- und Kulturgut."
"Nicht der Wunsch, außerhalb des Vertreibungsgebietes unter Deutschen "deutschsprachig" zu leben, sondern vielmehr das Unvermögen des NS-Verfolgten, sich innerhalb des Heimatstaates im gewohnten, insbesondere auch persönlichen deutschsprachigen Bereich so zu bewegen, wie es ihm von Kindheit an vertraut war, stellt den Vertreibungstatbestand dar."
"Trotz aller beruflichen Entfaltungen ist es dennoch häufig zu beruflichen Benachteiligungen dieser Personengruppe gekommen, weil die den Deutschen stets übergeordneten Rumänen sie sehr leicht zum Sündenbock machen konnten, zB um betriebliche Fehlplanungen auf diejenigen Mitbürger abzuwälzen, die schon deswegen nicht als staatstreu galten, weil sie anderer Art nach ihrer Sprache und Kultur waren und aus dem Land herausstrebten."
"Trotz der im Friedensvertrag verankerten "Nichtdiskriminierungsklausel" ist es zu diskriminierenden Maßnahmen und Assimilierungsversuchen in sehr beträchtlichem Umfange in Rumänien gekommen. Alle derartigen Maßnahmen gegen die deutsche Bevölkerung in Rumänien wirkten sich auch auf den nicht betroffenen einzelnen Deutschen aus, der in ständiger Sorge lebte, was noch geschehen und auch ihn persönlich treffen konnte. Dieser Druck, der auf allen in der Heimat verbliebenen Deutschen christlicher Konfession lastete, hat sich naturgemäß auch auf die deutschsprachigen ehemaligen NS-Verfolgten übertragen, die bereits Opfer einer Diktatur gewesen sind."
Der Kläger hat daraufhin vorgetragen, er stelle sich voll hinter das Gutachten der Dokumentationszentrale der URO. Aus dem Gutachten gehe hervor, daß die deutschsprachige Bevölkerung diskriminiert worden sei und eine sprachliche Vereinsamung in Rumänien stattgefunden habe (Schriftsatz vom 24. Januar 1985). Die Beklagte hat (Schriftsatz vom 4. Dezember 1984) ausgeführt, die Maßnahmen gegen deutsche Volkszugehörige seien Gründe für das Verlassen Rumäniens gewesen. Zur deutschen Volksgruppe hätten sich die Juden in Rumänien von Ausnahmen abgesehen aber nicht gezählt. Die Ansicht (Seite 10 der Stellungnahme der URO), die deutschsprachige jüdische Bevölkerung habe ihre angestammte Heimat aus den gleichen Gründen verlassen müssen wie die übrigen Volksdeutschen sei nicht richtig.
Mit Urteil vom 19. März 1985 hat das LSG die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückgewiesen und ua ausgeführt: Der erkennende Senat gehe zwar davon aus, daß der Kläger dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört habe. Das ergebe sich aus den vorgelegten eidesstattlichen Erklärungen. Es könne jedoch nicht als glaubhaft gemacht angesehen werden, daß der Kläger wegen seiner Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis nach Israel ausgewandert sei. Nach dem Gutachten von Dr. F. strebten die Juden ihre Auswanderung nach Israel nicht an, weil sie sich in Rumänien wegen ihrer Deutschsprachigkeit diskriminiert fühlten, sondern weil sie sich mit ihren in Israel lebenden Glaubensbrüdern vereinen und in einem gemeinsamen Staat zusammenleben wollten.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Zu einem Gutachten, in dem ausgeführt worden sei, daß die Juden ihre Auswanderung nach Israel nicht anstrebten, weil sie sich in Rumänien wegen ihrer Deutschsprachigkeit diskriminiert fühlten, sondern weil sie sich mit ihren in Israel lebenden Glaubensbrüdern vereinigen wollten, habe er sich nicht äußern können. Es könne sich nicht um das Gutachten des Dr. F. vom 24. Oktober 1984 handeln. Denn in diesem seien solche Ausführungen nicht enthalten.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 8. Juni 1982 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheids zu verurteilen, dem Kläger Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres zu gewähren; hilfweise beantragt er, die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte stellt keinen Antrag und nimmt nicht Stellung.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist iS der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Die vom LSG ermittelten Tatsachen - soweit sie verwertbar sind - reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.
Der Kläger begehrt von der Beklagten Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Der Anspruch setzt nach § 1248 Abs 5 Reichsversicherungsordnung (RVO) voraus, daß der Kläger die Wartezeit nach Abs 7 Satz 3 der genannten Vorschrift erfüllt hat. Der Kläger hat keine deutschen Versicherungszeiten. Ob ihm im Ausland (Rumänien) zurückgelegte Zeiten aufgrund des Fremdrentengesetzes (FRG) angerechnet werden können, hängt von Tatsachenfeststellungen ab, die vom LSG noch vorzunehmen sind.
Nach § 15 FRG stehen Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich. Das LSG hat ermittelt, daß der Kläger in Rumänien Zeiten unselbständiger Tätigkeit hinter sich gebracht hatte. Ob er versichert war, hat es nicht festgestellt, weil es den Anspruch des Klägers aus anderen Gründen bereits verneint hat. Die Anwendung des § 15 FRG zu Gunsten des Klägers setzt aber voraus, daß er zu dem durch das FRG begünstigten Personenkreis des § 1 FRG gehört. Da der Kläger nicht Deutscher ist, könnte er nur einem Vertriebenen gleichgestellt sein (§ 1 Buchst a FRG; §§ 1 und 6 Bundesvertriebenengesetz -BVFG-; § 20 Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung -WGSVG-). Nach § 1 Buchst a FRG gilt das FRG für Vertriebene. Vertriebene sind ua deutsche Volksangehörige, die durch Vertreibung ihren Wohnsitz außerhalb der Grenzen des deutschen Reiches verloren haben. Rumänien gehört zu den in § 1 Abs 2 Ziffer 3 BVFG genannten Vertreibungsgebieten. Deutscher Volkszugehöriger ist nur, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird (§ 6 BVFG). Für die Verfolgten des nationalsozialistischen Regimes, zu denen der Kläger gehört, genügt es nach § 20 WGSVG, wenn sie die dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört haben. Denn ihnen war ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum unter den Bedingungen der Verfolgung nicht möglich und später war es aus verständlichen Gründen von ihnen nicht zu erwarten. Das LSG geht in tatsächlicher Hinsicht davon aus, daß der Kläger dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hat.
Einem Vertriebenen gleichgestellt ist der Verfolgte nur dann, wenn er wegen seiner Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis, seine Heimat verlassen hat. Denn auch ein Deutscher, der nicht Verfolgter war, erhält die vom Kläger begehrten Vergünstigungen nur, wenn er "wegen seines Deutschtums" seine Heimat verlassen mußte. Hat ein Versicherter die Heimat vor dem 1. Oktober 1953 verlassen, so wird nach der Rechtsprechung des BSG dieser Zusammenhang vermutet (SozR 5070 § 20 Nrn 2, 4, 6, 7 und 10). Für die Zeit danach muß der Vertreibungsdruck und seine Ursächlichkeit für das Auswandern im Einzelfall nachgewiesen werden. Dieser ursächliche Zusammenhang ist auch dann zu bejahen, wenn sowohl das Bestreben dem kommunistischen Herrschaftsbereich zu entgehen, als auch die Entwurzelung in der europäischen Heimat infolge der Vereinsamung durch den Tod der Angehörigen aufgrund nationalsozialistischer Verfolgung zu der Auswanderung nach Israel geführt hat (BSG SozR 5070 § 20 Nr 10).
Hierzu hat das LSG festgestellt, die deutschsprachigen Juden - damit auch der Kläger - hätten ihre Auswanderung nach Israel nicht angestrebt, weil sie sich in Rumänien wegen ihrer Deutschsprachigkeit diskriminiert gefühlt hätten, sondern weil sie sich mit ihren in Israel lebenden Glaubensbrüdern vereinen und in einem gemeinsamen Staat leben wollten. An diese Feststellung ist das Revisionsgericht jedoch nicht gebunden, weil in Bezug auf sie zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind (§ 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Dem Kläger ist, wie er zu Recht rügt, insoweit das rechtliche Gehör versagt worden (§ 62 SGG). Inhalt dieses Grundsatzes ist, daß den Beteiligten von Amts wegen die Möglichkeit gegeben werden muß, sich zu allem tatsächlichen Vorbringen zu äußern. Auch nach der Beweisaufnahme muß daher den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden (§ 128 Abs 2 SGG). Haben die Beteiligten einen rechtlichen Gesichtspunkt übersehen oder für unerheblich gehalten, so darf das Gericht, wenn ihm dies erkennbar ist, seine Entscheidung auf diesen Gesichtspunkt nur stützen, wenn es den Beteiligten vorher Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat (§ 202 SGG, § 278 Abs 3 Zivilprozeßordnung -ZPO-; Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 2. Auflage, 1981, § 62 Nr 8). Die §§ 202 SGG, 278 Abs 3 ZPO sollen verhindern, daß die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf einer Rechtsauffassung beruht, zu der die Beteiligten nach dem tatsächlichen Sach- und Streitstand keine Veranlassung hatten, Stellung zu nehmen, also etwa noch den Tatsachenvortrag zu ergänzen oder weitere Beweise anzubieten. Ganz ebenso stellt sich die Rechtslage jedoch dar, wenn die Beteiligten mit einer Tatsachenwürdigung überrascht werden, für die bisher keine Hinweise vorlagen. Sowohl der Kläger als auch die Beklagte gingen - wie ihre Reaktionen auf das Gutachten des Dr. F. zeigen - davon aus, daß das Gutachten die Behauptung des Klägers stütze, der Kläger habe aus Gründen der Sprachvereinsamung und Diskriminierung wegen seiner Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis Rumänien verlassen. Zu einer anderen Annahme bestand nach dem Wortlaut des Gutachtens auch keine Veranlassung. Wenn das LSG aber dennoch das Gegenteil dessen aus dem Gutachten herauslas, was bei unbefangener Betrachtung zu erwarten war, so hätte es dies den Beteiligten kenntlich machen müssen. Sie hätten dann unter Umständen eine Klarstellung durch den Verfasser des Gutachtens beantragen oder selbst herbeiführen können. Der Kläger hätte gegebenenfalls weitere Beweise vorlegen können. Der Kläger hat dies auch gerügt. Die Feststellung, der Kläger habe Rumänien nicht seines kulturellen Deutschtums, sondern eines jüdischen Glaubenseifers wegen verlassen, beruht demnach auf einem Verfahrensfehler, so daß insoweit neue - verfahrensfehlerfreie - Feststellungen notwendig sind. Dazu ist die Sache an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen