Entscheidungsstichwort (Thema)
Leistungspflichtiger Versicherungsträger für eine Krankenhausbehandlung wegen Lungentuberkulose. Schul- oder Berufsausbildung
Leitsatz (amtlich)
1. Zur Verurteilung eines Versicherungsträgers im besonderen Wiederaufnahmeverfahren der §§ 180, 181 SGG.
2. Die Rechtsprechung, wonach kein Anspruch auf Kinderzuschuß nach § 1262 Abs 3 S 2 RVO besteht, wenn das Hochschulstudium nicht zum nächstmöglichen Semester nach bestandenem Abitur begonnen wird, gilt auch für ausländische Kinder (Anschluß an und Fortführung von BSG 19.5.1983 1 RA 1/83 = SozR 2200 § 1262 Nr 26).
Orientierungssatz
Ein Versicherter hat keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Krankenhausbehandlung seiner über 18 Jahre alten Tochter, wenn sie sich vor Beginn ihrer Tbc-Erkrankung nicht in Schul- oder Berufsausbildung befunden hat. Eine Zeit nach dem Abitur kann grundsätzlich nur bis zum nächstmöglichen Beginn des Hochschulstudiums als Zeit der Schul- oder Berufsausbildung angesehen werden (vgl BSG 16.6.1982 11 RA 44/81 = SozR 2200 § 1262 Nr 22).
Normenkette
SGG § 180 Abs 4, § 181; RVO § 1244a Abs 1, § 1244a Abs 2 S 3, § 1262 Abs 3 S 2
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 20.02.1985; Aktenzeichen L 9 Kr 73/82) |
SG Berlin (Entscheidung vom 17.09.1982; Aktenzeichen S 73 Kr 56/82) |
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Beklagte zu 1) als Träger der gesetzlichen Krankenversicherung oder die Beklagte zu 2) als Träger der gesetzlichen Rentenversicherung die Kosten einer Krankenhauspflege der Tochter Maria des Klägers wegen einer Lungentuberkulose zu tragen hat.
Die Tochter des Klägers wurde am 8. Juni 1961 geboren. Nach dem Schulbesuch in Griechenland und dem im Juni 1979 bestandenen Abitur bereitete sie sich auf eine Aufnahmeprüfung vor, von der in Griechenland der Zugang zur Hochschule bei dem in Aussicht genommenen Studium abhängt. Die im September 1979 abgelegte Prüfung bestand die Tochter des Klägers - wie sie am 17. Oktober 1979 erfuhr - nicht. Daraufhin begab sie sich am 6. November 1979 nach Berlin, wo der Kläger seit 1975 lebt. Er ist bei den Beklagten versichert. Seine Tochter beabsichtigte nun, an der Freien Universität in Berlin Volkswirtschaftslehre zu studieren. Die dafür notwendige Kenntnis der deutschen Sprache wollte sie mit Hilfe eines Sprachintensiv-Kurses am Goethe-Institut erwerben. Am 14. Januar 1980 teilte dieses ihr mit, sie könne an dem Kurs vom 28. April bis zum 27. Juni 1980 teilnehmen. Sie erkrankte jedoch vorher an einer Lungentuberkulose, die eine stationäre Behandlung vom 1. Februar bis zum 22. Mai 1980 erforderlich machte.
Die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) lehnte die vom Kläger beantragte Übernahme der Behandlungskosten mit Bescheid vom 11. September 1980 ab, da die Tochter des Klägers das 18. Lebensjahr vollendet habe und sich nicht in Schul- oder Berufsausbildung befinde. Aus den gleichen Gründen verneinte die beklagte Ortskrankenkasse (AOK) mit Bescheid vom 26. September 1980 einen Anspruch auf Familienkrankenhilfe. Der gegen diesen Bescheid gerichtete Widerspruch wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 26. Januar 1982). Auch ein bei der beklagten LVA gestellter Antrag auf "Wiedereinsetzung" blieb erfolglos, da sich laut Bescheid vom 23. Februar 1982 die Sach- und Rechtslage nicht geändert habe.
Die gegen die beklagte AOK gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 17. September 1982). Das Landessozialgericht (LSG) hat im Berufungsverfahren die LVA Berlin beigeladen. In der mündlichen Verhandlung vom 20. Februar 1985 hat der Kläger dann die Klage auch gegen die beigeladene LVA als zweite Beklagte gerichtet. Er hat in erster Linie beantragt, diese zur Übernahme der streitigen Behandlungskosten zu verurteilen und hilfsweise die beklagte AOK. Durch Urteil vom 20. Februar 1985 hat das LSG die beklagte LVA verurteilt, die Kosten der stationären Behandlung vom 1. Februar bis zum 22. Mai 1980 zu tragen. Es hat die Klageänderung als zulässig angesehen und die beklagte LVA gem §§ 181 Satz 2, 180 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Leistungspflichtige bestimmt, denn die Voraussetzungen der §§ 1244a, 1262 Abs 2 und 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) seien erfüllt. Eine die Leistungspflicht ausschließende Unterbrechung der Ausbildung sei nicht erfolgt. Die Tochter des Klägers habe sich zielstrebig um das angestrebte Studium der Volkswirtschaft bemüht.
Die beklagte LVA hat dieses Urteil mit der vom Senat zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt eine Verletzung des § 181 SGG sowie des § 1244a Abs 2 Satz 3 RVO.
Die Beklagte zu 2) beantragt, die Klage unter Aufhebung des Urteils des LSG abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Beklagte zu 1) stellt keinen Antrag. Sie schließt sich der Beklagten zu 2) insoweit an, als diese bestreitet, daß sich die Tochter des Klägers zur Zeit der Erkrankung in Schul- oder Berufsausbildung befunden habe. Im übrigen teilt die Beklagte zu 1) die Auffassung des LSG.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten zu 2), der LVA, ist begründet, denn die Tochter des Klägers befand sich bei Beginn der Krankenhausbehandlung am 1. Februar 1980 nicht in Schul- oder Berufsausbildung.
In dem ursprünglich nur gegen die beklagte AOK gerichteten Rechtsstreit ist aus der beigeladenen LVA im Wege der Klageänderung eine zweite Beklagte geworden. Diese hat das LSG im besonderen Wiederaufnahmeverfahren der §§ 180, 181 SGG verurteilt, die Kosten der streitigen Behandlung zu tragen. Nach § 181 SGG iVm § 180 Abs 4 SGG bestimmt das Gericht den leistungspflichtigen Versicherungsträger, wenn es die Klage gegen einen Versicherungsträger ablehnen will, weil es einen anderen Versicherungsträger für leistungspflichtig hält. Dadurch wird nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) eine verfahrensrechtliche Handhabe geboten, rechtskräftige oder bindende Entscheidungen zu beseitigen, die im Widerspruch zu einer beabsichtigten Entscheidung stehen (vgl Urteile des 7. Senats vom 21. Mai 1980 in BSGE 50, 111, 115 = SozR 1500 § 181 Nr 1 und des 11. Senats vom 13. August 1981 in SozR 1500 § 75 Nr 38). Nach dem erwähnten Urteil des 11. Senats ist § 181 nicht anzuwenden, wenn der "andere" Versicherungsträger die Gewährung der Leistung nicht wegen fehlender Zuständigkeit, sondern deshalb verneint hatte, weil andere Anspruchsvoraussetzungen gefehlt hatten. Während es hiernach also darauf ankommt, ob die beklagte LVA als "anderer" Versicherungsträger ihre Leistungspflicht wegen mangelnder Zuständigkeit verneint hat, stellt der 7. Senat darauf ab, ob die dem Betroffenen gegenüber ergangene bindende Entscheidung materiell unrichtig ist.
Die Argumentation des Klägers, in beiden Urteilen des BSG werde auf den materiellen Inhalt der zu treffenden Entscheidung abgestellt, ist nicht richtig. Er meint, der 11. Senat habe im Urteil vom 13. August 1981 (aaO) ausgeführt: "... so ist es Voraussetzung für die Anwendung dieser Vorschrift (§ 181 SGG), daß die frühere (bindend oder rechtskräftig gewordene) Entscheidung ihrem materiellen Inhalt nach der nunmehr zu treffenden Entscheidung widerspricht ...". Dieses Zitat entstammt jedoch in Wirklichkeit dem Urteil des 7. Senats vom 21. Mai 1980 (aaO). Welcher Auffassung zu folgen ist, bedarf hier jedoch keiner Entscheidung, denn eine Verurteilung der beigeladenen LVA kommt unter keinem Aspekt in Betracht.
Geht man mit dem 11. Senat davon aus, daß für die Anwendung des § 181 SGG maßgebend ist, ob im bindenden Bescheid Leistungen wegen mangelnder Zuständigkeit abgelehnt worden sind, so trifft das hier nicht zu. Die beklagte LVA hat nicht ihre Zuständigkeit, sondern eine andere Anspruchsvoraussetzung (Schul- oder Berufsausbildung) verneint. Nun hat allerdings der 9b Senat des BSG im Urteil vom 15. Juni 1983 (USK 83225) einen beigeladenen Träger der Unfallversicherung nach den §§ 181, 180 Abs 4 SGG als leistungspflichtig bestimmt, der es abgelehnt hatte, einen Arbeitsunfall anzuerkennen, weil der Verunglückte nicht bei gemeiner Gefahr Hilfe iS des § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO geleistet habe. Dieser "mitgeteilte Ablehnungsgrund", so hat der 9b Senat ausgeführt, stehe der "Zuständigkeit" des betreffenden Trägers der Unfallversicherung entgegen. Ob man dann nicht auch im Falle des Klägers annehmen kann, daß die beklagte LVA ihre Zuständigkeit verneint hat, kann hier unentschieden bleiben. Unterstellt man das zugunsten des Klägers, so muß jedoch der bindende Bescheid der LVA materiell-rechtlich unrichtig sein (vgl Urteil des 7. Senats vom 21. Mai 1980 aaO). Das aber ist nicht der Fall und daran scheitert letztlich - welcher Auffassung man auch folgt - die auf §§ 180 Abs 4, 181 SGG gestützte Verurteilung der beigeladenen LVA.
Nach § 1244a Abs 1 RVO aF, der zwar durch Art 1 Nr 31 des Haushaltbegleitgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983 (BGBl I, 1532) mit Wirkung ab 1. Januar 1984 aufgehoben worden, hier aber noch anzuwenden ist, haben Versicherte in der Rentenversicherung der Arbeiter Anspruch auf Maßnahmen der Rehabilitation für ihre Kinder, die an aktiver behandlungsbedürftiger Tuberkulose erkrankt sind. Zu den Kindern zählen dabei diejenigen, die in § 1262 Abs 2 und 3 RVO genannt sind (§ 1244a Abs 2 Satz 3 RVO aF). Haben sie das 18. Lebensjahr vollendet, so gelten sie als Kinder ua dann, wenn sie sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden (§ 1262 Abs 3 Satz 2 RVO). Wegen der Verweisung in § 1244a RVO aF auf § 1262 RVO kann auf die dazu ergangene Rechtsprechung zurückgegriffen werden.
Die regelmäßige "Zwischenzeit" zwischen Abitur und Aufnahme des Studiums ist zur Zeit der Schul- oder Berufsausbildung zu rechnen, jedoch muß die Immatrikulation zum frühestmöglichen Zeitpunkt erfolgen (vgl BSG in SozR 2200 § 1262 Nr 12). Eine nicht vermeidbare Zeitspanne zwischen Abitur und Studium schadet nur dann nicht, wenn sie so beschaffen ist, daß dem Kind nicht zugemutet werden kann, sich in ihr dem Arbeitsmarkt für eine entgeltliche Beschäftigung zur Verfügung zu stellen. Das läßt sich nach der Entscheidung des 1. Senats des BSG vom 19. Mai 1983 (SozR 2200 § 1262 Nr 26), der sich der erkennende Senat anschließt, bei beabsichtigtem Studium regelmäßig nur für den üblichen und zeitlich überschaubaren Zeitraum von einigen Monaten zwischen Abitur und dem Beginn des nächsten Hochschulsemesters annehmen. Das nächste Hochschulsemester nach dem Abitur war für die Tochter des Klägers das Wintersemester 1979/80. Damit endete hier die in den Schulbesuch noch einzubeziehende "Zwischenzeit" im Oktober 1979. Eine Sonderbehandlung von Ausländern, die vor Studiumbeginn die deutsche Sprache erlernen müssen, läßt sich nicht rechtfertigen. Da die Tochter des Klägers einen Studienplatz zum nächsten Semester nach dem Abitur im Juni 1979 nicht bekommen hat, war ihr zuzumuten, den längeren Zeitraum vor der Aufnahme des Studiums und vor Beginn des Sprachintensiv-Kurses am Goethe-Institut in Berlin am 28. April 1980 durch eine Erwerbstätigkeit zu nutzen (ebenso bereits BSG-Urteil vom 19. Mai 1983 aaO). Immerhin liegt zwischen Oktober 1979 und April 1980 eine Zeitspanne von rund 6 Monaten, wobei zu berücksichtigen ist, daß der eigentliche Schulbesuch bereits im Juni 1979 endete. Insoweit handelt es sich auch nicht um eine Überbrückungszeit, die durch eine Tätigkeit ausgefüllt worden ist, die gerade im Hinblick auf die angestrebte weitere Ausbildung sinnvoll gewesen wäre (vgl BSG in SozR 2200 § 1262 Nr 22 mwN).
Dem Begehren des Klägers in der Berufungsinstanz, hilfsweise die beklagte AOK zur Leistungsgewährung zu verurteilen, kann ebenfalls nicht entsprochen werden.
Nach § 205 Abs 3 Satz 2 RVO besteht ein Anspruch auf Familienkrankenhilfe für Kinder, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, auch nur, wenn sie sich ua in Schul- oder Berufsausbildung befinden. Das aber war - wie bereits ausgeführt - bei der Tochter des Klägers nicht der Fall, als die stationäre Behandlung wegen der Lungentuberkulose erforderlich wurde. Deshalb erübrigt es sich, darauf einzugehen, ob die beklagte AOK nicht schon deshalb hier nicht herangezogen werden kann, weil nach dem 1980 geltenden Recht für die Dauer der stationären Heilbehandlung die Ansprüche gegen den Träger der Krankenversicherung in Tuberkulosefällen ruhten (§§ 1244a Abs 3 Satz 3, 1239 Satz 3 RVO aF).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen