Leitsatz (amtlich)
Die Rechtsmittelbelehrung im Urteil eines LSG ist unvollständig und damit unrichtig erteilt SGG § 66 Abs 2, wenn sie nicht auf den in SGG § 164 Abs 2 S 2 vorgeschriebenen notwendigen Inhalt der Revisionsbegründung hinweist.
Normenkette
SGG § 66 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 164 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 6. Dezember 1955 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der 1897 geborene Kläger wurde am 23. November 1943 bei einem Fliegerangriff durch herabstürzende Balken getroffen, als er aus dem Keller seines kurz zuvor durch Bomben beschädigten Hauses Gegenstände holen wollte. Am 11. Dezember 1943 wurde der Kläger zum Wehrdienst einberufen. 1951 beantragte er Versorgung wegen Schäden an der Wirbelsäule, die er auf den Unfall vom November 1943 zurückführt. Nach versorgungsärztlicher Untersuchung lehnte das VersorgA. mit Bescheid vom 3. September 1952 die Anerkennung von Schädigungsfolgen ab, da es sich um eine anlagemäßig bedingte Bandscheibenentartung handele. Das Landesversorgungsamt wies den Einspruch des Klägers zurück. Das Sozialgericht (SG.) Berlin hat seine Klage mit Urteil vom 20. Dezember 1954 abgewiesen, weil weder ein zeitlicher noch ursächlicher Zusammenhang seiner derzeitigen Beschwerden mit dem 1943 erlittenen Unfall wahrscheinlich sei.
Die vom Kläger gegen das Urteil eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG.) Berlin mit Urteil vom 6. Dezember 1955 zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, nach den Röntgenaufnahmen aus 1947, 1948 und 1951, der versorgungsärztlichen Untersuchung 1952 und den Bestätigungen der behandelnden Ärzte werde die Wirbelsäulenerkrankung unterschiedlich als Spondylosis deformans, Spondylarthrosis deformans, Bandscheibendegeneration und Skoliose bezeichnet. Nach keiner dieser ärztlichen Diagnosen bestehe ein Anhalt für eine äußere Beschädigung der Wirbelsäule. Die Verletzungen durch den Unfall 1943 könnten nicht schwerer Natur gewesen sein, da auf dem Auszahlungsschein der Krankenkasse von dem damals behandelnden Arzt, Dr. W, eine Arbeitsunfähigkeit bis 24. November 1943, also nur für einen Tag, bescheinigt worden sei. Eine stationäre Lazarettbehandlung während des Wehrdienstes sei weder behauptet noch nachgewiesen worden. Der Kläger habe überdies nach seiner Entlassung bis 1947 Enttrümmerungsarbeiten verrichten können. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfall und den Veränderungen an der Wirbelsäule sei nicht wahrscheinlich. Es fehle auch ein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Unfall und der ärztlichen Behandlung im Jahre 1947. Revision wurde nicht zugelassen.
Nach Bewilligung des Armenrechts hat der Kläger unterm 7. September 1956, eingegangen am 19. September 1956, Revision eingelegt und vorsorglich beantragt, ihm gegen die Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Er beantragt weiter, den Beklagten zu verurteilen, eine Bandscheibendegeneration sowie Knochenveränderungen am 4. und 5. Lendenwirbelkörper als Schädigungsfolgen anzuerkennen und Rente nach einer MdE. um 50 v. H. zu gewähren.
In der am 17. Oktober 1956 eingegangenen Revisionsbegründung rügt der Kläger mangelnde Sachaufklärung und fehlerhafte Beweiswürdigung durch das LSG. Der ärztliche Gutachter des VersorgA. habe die von den behandelnden Ärzten festgestellten Veränderungen der Wirbelsäule nach der Arbeitsaufnahme nicht berücksichtigt. Das LSG. habe keinen Beweis darüber erhoben, ob es sich tatsächlich um eine erbmäßig bedingte Bandscheibendegeneration auf dem Boden einer allgemeinen Bindegewebeschwäche handele. Es habe die Feststellung des Dr. W über die Verletzung der Halswirbelsäule nicht damit abtun dürfen, dass er nur einen Tag arbeitsunfähig gewesen sei; es hätte vielmehr auf die späteren Diagnosen, insbesondere des Dr. L der mit der Bezeichnung Arthrosis den unfallbedingten Charakter der Verletzung der Wirbelsäule habe ausdrücken wollen, eingehen müssen. Die Amputation des Oberschenkels sei eine Folge des Unfalles vom November 1943. Durch diese Mängel sei auch das Gesetz bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs der Gesundheitsstörungen mit einer Schädigung im Sinn des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) verletzt.
Der Beklagte hat Verwerfung der Revision beantragt.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Die Revisionsfrist betrug nach § 66 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Jahr ab Zustellung des angefochtenen Urteils, da die Rechtsmittelbelehrung des LSG. unvollständig ist. Es fehlt der Hinweis, dass die Revisionsbegründung die verletzte Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen und Beweismittel bezeichnen muß, die den Mangel ergeben (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG). Die Notwendigkeit hierauf hinzuweisen, ergibt sich aus der umfassenden Bedeutung einer "Belehrung über den Rechtsbehelf", wie sie § 66 SGG vorschreibt (vgl. BSG. 1 S. 254 und "Wege zur Soz. Vers." 1954 S. 373). Die Rechtsmittelbelehrung muss den Beteiligten instandsetzen, die Entscheidung in der gesetzlich vorgeschriebenen Form anzufechten, ohne sich die Kenntnisse hierfür erst durch außerhalb des Verfahrens liegende, möglicherweise umständliche Erkundigungen beschaffen zu müssen. Welche Erfordernisse im einzelnen zur "Belehrung über den Rechtsbehelf" gehören, ist in § 66 Abs. 1 SGG nicht aufgeführt. Da sich diese Vorschrift auf alle Rechtsbehelfe des SGG bezieht und die Formalien für die Rechtsbehelfe der einzelnen Instanzen verschieden sind, hängt Umfang und Inhalt der Belehrung von dem Rechtsbehelf ab, über den jeweils zu belehren ist (vgl. für die Revisionsbegründungsfrist BVerwG in DVBl. 57 S. 644 mit Anmerkung von Haueisen). Die Devolutiv- und Suspensivwirkung der Revision tritt zwar bereits mit der Einlegung der Revision und nicht erst mit ihrer Begründung ein, doch wird die mit dem Rechtsmittel bezweckte Nachprüfung des angefochtenen Urteils erst möglich, wenn die Revision gemäß §§ 164, 166 SGG formgerecht begründet ist. Deshalb ist ein Hinweis in der Rechtsmittelbelehrung auf das, was die Revisionsbegründung enthalten muss, unerlässlich. Da somit die Revisionsfrist gewahrt ist, war eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht erforderlich.
Die Revision ist nicht zugelassen; sie findet daher nur statt, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird und vorliegt, oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs von Gesundheitsstörungen mit einer Schädigung im Sinn des BVG das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 SGG, BSG. 1 S. 150, 254 und 268). Die Revision ist statthaft, da der gerügte Verfahrensmangel vorliegt.
Der Kläger wendet sich mit seinen Ausführungen gegen die Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung durch das LSG. Nach § 103 SGG hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Nach § 128 SGG entscheidet es nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das Revisionsgericht prüft nur, ob die Vorinstanz hierbei gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen hat, indem sie etwa Lücken im Sachverhalt nicht aufgeklärt und ihre Beweiswürdigung auf unvollständige oder nicht schlüssige Gutachten aufgebaut hat. Das LSG. hat lediglich die ärztlichen Feststellungen des Beklagten im Verfahren vor den Versorgungsbehörden übernommen. Es hat keine eigenen Ermittlungen angestellt und nicht selbst medizinische Sachverständige gehört. Hierzu hätte es hier Anlaß gehabt; denn die Erhebungen des Beklagten sind nicht frei von Widersprüchen. Dr. W, der den Kläger anschließend an den Unfall am 23. November 1943 behandelte, hat eine Verletzung der Halswirbelsäule festgestellt und bescheinigt. Dass er den Kläger nur für einen Tag arbeitsunfähig geschrieben hat, kann zwar Aufschluß über die Schwere der Verletzung geben, beseitigt aber die Tatsache nicht, dass eine Verletzung der Halswirbelsäule ärztlicherseits bestätigt ist. Die versorgungsärztliche Untersuchung vom 18. Juni 1952, die Röntgenuntersuchungen und das Zeugnis des behandelnden Arztes Dr. F befassen sich nur mit der Lendenwirbelsäule. Der Kläger hat in seinem Einspruch eine Verletzung des Halswirbels und des Lendenwirbels erwähnt. Wenn er in der Folgezeit nur noch über Lendenwirbelschmerzen klagte, so durfte dies für das LSG. kein Grund sein, von einer Untersuchung der Halswirbel überhaupt abzusehen; denn bei dem engen Zusammenhang von Hals- und Lendenwirbelsäule ist es möglich, dass subjektive Beschwerden ihren Ursprung an anderen Stellen der Wirbelsäule haben, als sie von dem Kläger als Laien angegeben werden. Das LSG. hätte sich zu einer fachärztlichen Untersuchung der Halswirbelsäule umso mehr veranlasst sehen müssen, weil der Kläger weder im Verwaltungsverfahren noch im Verfahren vor dem SG. orthopädisch untersucht worden ist und die von ihm vorgelegten Bescheinigungen aus 1947, 1948 und 1951 und die versorgungsärztliche Untersuchung 1952 in der Diagnose nicht übereinstimmen. Das Zeugnis des Dr. W und das versorgungsärztliche Gutachten weichen insofern voneinander ab, als sich Dr. W über den Zustand der Halswirbelsäule äußert, während das versorgungsärztliche Gutachten nur die Lendenwirbelsäule behandelt. Das versorgungsärztliche Gutachten ist deshalb unvollständig. Dies hat das LSG. nicht beachtet. Es konnte die Feststellung des Dr. W nicht mit dem versorgungsärztlichen Gutachten entkräften, sondern hätte, um die Bestätigung des Dr. W zu überprüfen, eine fachärztliche Untersuchung und Begutachtung auch der Halswirbelsäule zur Feststellung von Folgen etwaiger Beschädigungen an dieser durchführen lassen müssen. Dabei hätte es weiter prüfen müssen, ob eine Halswirbelschädigung den Zustand der Lendenwirbelsäule beeinflußt hat, so dass Erkrankungen der Lendenwirbelsäule möglicherweise als mittelbar durch die Halswirbelverletzung verursacht - etwa infolge Schonhaltung - anzusehen wären. Das LSG. hat den Sachverhalt insoweit nur unvollständig erforscht, da das versorgungsärztliche Gutachten keine für die Überzeugungsbildung nach § 128 SGG ausreichende Grundlage bot. Die auf den unvollständig erhobenen Sachverhalt gestützte Überzeugungsbildung des LSG. verstößt gegen das Gesetz.
Auf dieser Gesetzesverletzung beruht das angefochtene Urteil (§ 162 Abs. 2 SGG); denn das LSG. hätte möglicherweise anders entschieden, wenn es den Sachverhalt vollständig aufgeklärt und erschöpfende Gutachten beigezogen hätte (vgl. BSG. 2 S. 197). Die Revision ist demnach auch begründet. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben.
Da zur Entscheidung weitere Ermittlungen tatsächlicher Art erforderlich sind, konnte das BSG. nicht selbst entscheiden. Die Sache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung gemäß § 170 Abs. 2 SGG an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen