Leitsatz (amtlich)
Die Änderung des AVG § 42 durch das RVÄndG hat nicht zur Folge, daß die 3 Alternativen des 1. Satzes dieser Vorschrift erneut überprüfbar sind; die Prüfung ist auf die Alternative des neu angefügten 2. Satzes beschränkt. Für die Prüfung dieser Alternative sind jedoch die für eine Verneinung der 3 Alternativen des 1. Satzes maßgebend gewesenen Gründe einer früheren ablehnenden Entscheidung nicht bindend.
Normenkette
AVG § 42 S. 2 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1265 S. 2 Fassung: 1965-06-09, S. 1 Alt. 3 Fassung: 1957-02-23, S. 1 Alt. 1 Fassung: 1957-02-23, S. 1 Alt. 2 Fassung: 1957-02-23; RVÄndG Art. 5 § 6 S. 1; AVG § 42 S. 1 Alt. 3 Fassung: 1957-02-23; AVG § 42 S. 1 Alt. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 42 S. 1 Alt. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. Februar 1972 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur neuen Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über den Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente nach § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG).
Die 1903 geborene Klägerin flüchtete 1950 in die Bundesrepublik. Sie arbeitete hier bis 1958 als Küchenhilfe. Ihre 1924 geschlossene Ehe mit dem in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) verbliebenen Versicherten Karl J wurde 1956 durch ein dortiges Kreisgericht aufgrund der damals geltenden Eheverordnung vom 24. November 1955 ohne Schuldausspruch geschieden. Eine Verpflichtung zur Unterhaltsleistung nach § 13 Eheverordnung wurde nicht ausgesprochen. Beide Ehegatten haben nicht wieder geheiratet; der geschiedene Ehemann ist am 16. November 1957 in der DDR gestorben.
Im April 1958 beantragte die Klägerin die Gewährung der sogenannten Geschiedenenwitwenrente. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 19. Juni 1958 ab. Die Klage hatte keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) verneinte in den Gründen seines rechtskräftig gewordenen Urteils vom 24. Januar 1961 die Voraussetzungen des § 42 AVG in der damals geltenden Fassung. Hinsichtlich der Unterhaltspflicht des Versicherten (Ehemannes) nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) bleibe es letztlich gleich, ob sie nach den Vorschriften des EheG von 1946 oder über Art. 17 EGBGB nach § 13 Eheverordnung von 1955 beurteilt werde. Die Unterhaltspflicht des Versicherten sei außer von seiner Leistungsfähigkeit jeweils davon abhängig gewesen, ob die Klägerin außerstande gewesen sei, ihren Unterhalt aus eigenen Einkünften zu bestreiten. Es könne aber kein Zweifel darüber bestehen, daß sie infolge ihres durch zumutbare Erwerbstätigkeit erzielten Einkommens auf eine Unterhaltsleistung nicht angewiesen gewesen sei. Da Bedürftigkeit Voraussetzung des Unterhaltsanspruchs sei, entfalle damit dieser dem Grunde nach, ohne daß es darauf ankomme, ob der Versicherte nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen Unterhalt habe leisten können. Eine Unterhaltsverpflichtung aus sonstigen Gründen habe nicht bestanden; eine tatsächliche Unterhaltsleistung sei nicht nachgewiesen. Geschiedenenwitwenrente stehe der Klägerin mithin nicht zu.
Im Februar 1969 wiederholte die Klägerin ihren Rentenantrag. Die Beklagte beschränkte sich bei der Prüfung des Antrages auf die durch das RVÄndG vom 9. Juni 1965 erfolgte Änderung des § 42 AVG. Sie lehnte mit Bescheid vom 2. Mai 1969 eine Rentengewährung abermals ab; die Anwendung des neu eingefügten Satzes 2 in § 42 AVG sei nicht möglich, wenn eine mangelnde Unterhaltsbedürftigkeit der Grund für die fehlende Unterhaltspflicht des Versicherten nach dem EheG gewesen sei. Auch jetzt hatte die Klage keinen Erfolg. Das LSG hielt es für rechtskräftig entschieden, daß die Klägerin Geschiedenenwitwenrente nach § 42 Satz 1 AVG (idF des RVÄndG) nicht verlangen kann. Sie stütze ihren Anspruch auch nur auf § 42 Satz 2 AVG. Danach sei Voraussetzung, daß die Vermögens- und Einkommensverhältnisse des Versicherten die alleinige Ursache für das Nichtbestehen einer Unterhaltspflicht gewesen seien. Die Unterhaltspflicht des Versicherten sei jedoch an der fehlenden Unterhaltsbedürftigkeit der Klägerin gescheitert; sie sei imstande gewesen, sich selbst zu unterhalten. An diese Feststellung im Urteil vom 24. November 1961 sei das LSG auch für den gegenwärtigen Anspruch gebunden; sie nehme an der Rechtskraftwirkung teil. Die Rechtskraft erfasse zwar grundsätzlich nicht die Entscheidungsgründe und Urteilselemente. Das gelte aber nicht, wenn der gleiche Anspruch, wenn auch aufgrund modifizierter Voraussetzungen, erneut zu beurteilen sei. Dann schließe die Rechtskraft auch eine Änderung der Entscheidungsgründe aus. Das ergebe sich aus dem geltenden Recht, das nur in Ausnahmefällen (Berichtigung offensichtlicher Unrichtigkeiten, Wiederaufnahmeklage) derartige Änderungen zulasse. Soweit die früher getroffenen Feststellungen auch die Voraussetzungen des erweiterten Anspruchs beträfen, handele es sich um den gleichen Streitgegenstand; die damaligen Feststellungen seien daher zur Vermeidung einer nachträglich gegenteiligen Beurteilung einer nach § 42 Satz 1 AVG maßgebenden Anspruchsvoraussetzung zu beachten. Art. 5 § 6 RVÄndG habe keine Möglichkeit zur erneuten Überprüfung der gesamten Anspruchsvoraussetzungen eröffnet. Das ergebe sich sowohl aus seinem Wortlaut als auch aus seinem Sinn und Zweck; eine erneute sachlich-rechtliche Würdigung sei danach bei denjenigen Voraussetzungen ausgeschlossen, die bereits früher Anspruchsvoraussetzungen waren und auch tatsächlich oder rechtlich im Sinne der Bejahung oder Verneinung beurteilt worden seien.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Klägerin,
die vorinstanzlichen Urteile sowie den angefochtenen Bescheid aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Geschiedenenwitwenrente zu gewähren.
Sie meint, wenn nach der Neufassung des § 42 AVG die Leistungsfähigkeit ihres geschiedenen Mannes zur Zeit seines Todes fingiert werde, dann müsse auch ihre Unterhaltsbedürftigkeit neu überprüft werden; Leistungsfähigkeit und Bedürftigkeit seien insoweit keine voneinander unabhängigen Größen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist insofern begründet, als der Rechtsstreit zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Zunächst ist zu prüfen, ob die Klägerin aufgrund des RVÄndG vom 9. Juni 1965 einen Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente erworben hat. Nach § 42 AVG in der bis dahin geltenden Fassung (jetzt § 42 Satz 1) stand ein solcher Anspruch zu, wenn eine der drei dort genannten Alternativen erfüllt war. Das RVÄndG vom 9. Juni 1965 hat den drei Alternativen in einem Satz 2 des § 42 AVG eine weitere hinzugefügt. Sofern keine Witwenrente zu gewähren ist, steht Geschiedenenwitwenrente danach auch dann zu, wenn eine Unterhaltsverpflichtung wegen der Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten nicht bestanden hat. Das gilt auch für einen im November 1957 eingetretenen Versicherungsfall.
Im vorliegenden Fall besteht Übereinstimmung, daß nicht mehr geprüft werden darf, ob eine der in § 42 Satz 1 AVG genannten drei Alternativen erfüllt ist. Dazu bedarf es aber nicht der Erwägung, inwieweit einer solchen Prüfung die Rechtskraft des Urteils vom 21. Januar 1961 entgegenstünde. Wenn der Gesetzgeber materielles Recht ändert, kann er bestimmen, inwieweit frühere Entscheidungen (Bescheide, Urteile) im Entscheidungssatz bindend bzw. rechtskräftig bleiben und/oder inwieweit auch die Entscheidungsgründe weiterhin zu beachten sind (vgl. z. B. § 85 BVG). Solche Bestimmungen haben den Vorrang vor Bindungen infolge rechtskräftiger Urteile.
Art. 5 § 6 RVÄndG vom 9. Juni 1965 bestimmt in Satz 1, daß Renten von Amts wegen unter Berücksichtigung der Vorschriften dieses Gesetzes neu festzustellen sind, wenn erst durch das RVÄndG ein Anspruch auf eine Leistung oder höhere Leistung begründet wird. Hieraus hat der 12. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) gefolgert (SozR Nr. 3 zu Art. 5 § 6 RVÄndG), daß bindend gewordene Rentenbescheide nur insoweit zu überprüfen sind, als es sich um die durch das RVÄndG eingeführten Leistungsverbesserungen handelt. Der Senat kann dahingestellt lassen, inwieweit er der Begründung des 12. Senats, insbesondere den Ausführungen zur Bindungswirkung früherer Bescheide, folgen kann; er stimmt der Auffassung des 12. Senats jedenfalls im Ergebnis zu. Sie entspricht dem Sinn und Zweck der Übergangsvorschrift. Mit dieser Vorschrift ist dem Versicherungsträger praktisch der gleiche Auftrag wie bei der Rentenreform von 1957 in Art. 2 § 43 Satz 2 AnVNG erteilt worden; er muß (damals: auf Antrag) prüfen, ob die neuen Vorschriften "günstiger" sind (zur Frage ob damit die Rechtskraft früherer Urteile eingeschränkt oder erweitert wurde, vgl. SozR Nr. 9 und 12 zu Art. 2 § 44 ArVNG).
Da das RVÄndG vom 9. Juni 1965 die Vorschrift des § 42 AVG nur um eine Alternative erweitert hat, ergibt sich daraus, daß die Prüfung auf diese Alternative beschränkt ist. Die ersten drei Alternativen dürfen dagegen nicht mehr neu überprüft werden. Sie sind als nicht erfüllt anzusehen. Eine darüber hinausgehende Wirkung haben jedoch frühere ablehnende Entscheidungen (Bescheide, Urteile) aufgrund des Art. 5 § 6 Satz 1 RVÄndG vom 9. Juni 1965 nicht. Entgegen der offenbaren Auffassung der Beklagten hat der Gesetzgeber nicht angeordnet, daß auch die Gründe für die Verneinung der ersten drei Alternativen bei der Beurteilung der hinzugefügten 4. Alternative eine Bindungswirkung entfalten. Die Möglichkeit zur Prüfung der 4. Alternative wäre damit in einer für die Beteiligten unzumutbaren Weise eingeengt. Für die Verneinung etwa der ersten Alternative konnten mehrere Gründe maßgebend gewesen sein; es war gesetzlich nicht - wie bei der 4. Alternative - geboten, einen maßgebenden Grund herauszustellen; die Begründungen konnten darum Haupt- und Hilfsgründe enthalten, Gründe dahingestellt lassen usw. Zu einem echten Streit der Beteiligten darüber, ob eine Unterhaltsverpflichtung ausschließlich wegen der Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des Versicherten nicht bestand, war es in vielen Fällen nicht gekommen. Den Beteiligten muß darum die Möglichkeit gegeben werden, den Streit nunmehr darauf zu konzentrieren.
Eine Bindung an die Gründe für die Verneinung der ersten beiden Alternativen ergibt sich entgegen der Auffassung des LSG ferner nicht aus der Rechtskraft früherer Urteile, die Anfechtungs- und Leistungsklagen abgewiesen haben. Die Darlegungen des LSG über die Erweiterung der Rechtskraftwirkung überzeugen nicht. Es ist schon zweifelhaft, inwieweit ein Urteil im Falle einer Rechtsänderung in der Entscheidung materiell rechtskräftig bleibt. Ein Fortbestand der Gründe für eine neue Entscheidung entspricht jedenfalls nicht dem geltenden Recht. Die Abänderbarkeit des ersten Urteils nach den §§ 138, 139 SGG hat mit Fragen der Rechtskraft nichts zu tun. Die Wiederaufnahmevorschriften besagen nichts darüber, wie weit frühere Entscheidungsgründe bindend sind oder geändert werden dürfen; sie regeln die Beseitigung von Entscheidungen. Im übrigen gilt hier, was schon zu Art. 5 § 6 RVÄndG ausgeführt ist. Gegen eine zu weite Rechtskrafterstreckung spricht, daß die Beteiligten dann häufig an Feststellungen gebunden würden, deren Bedeutung für künftige Prozesse im Zeitpunkt des ersten Verfahrens für sie unerkennbar war (Stein/Jonas, ZPO, Komm. 19. Aufl., Anm. VI, 1 zu § 322). Gerade die Erwägung, die Beteiligten vor unbewußten Folgen zu bewahren, ist aber der Grund gewesen, die Rechtskraft von Urteilen auf die getroffene Entscheidung zu beschränken.
Soweit dabei die Gründe einer neuen Entscheidung mit Gründen einer früheren Entscheidung in Widerspruch treten, ist das hinzunehmen. Problematischer wäre nur, wenn eine Prüfung der vierten Alternative das Ergebnis hätte, sie sei nicht erfüllt, weil eine Unterhaltspflicht nach dem EheG bestanden habe. In diesem Fall könnte jedoch der Versicherungsträger nach § 79 AVG die frühere Verneinung der ersten Alternative überprüfen.
Der Rechtsstreit ist daher, soweit der Anspruch der Klägerin aufgrund des § 42 Satz 2 AVG idF des RVÄndG zu beurteilen ist, zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Senat hatte allerdings noch zu berücksichtigen, daß § 42 Satz 2 AVG durch das Rentenreformgesetz vom 16. Oktober 1972 (RRG; BGBl I S. 1965) eine neue Fassung erhalten hat, die für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch ab 1. Januar 1973 zu beachten ist (Art. 2 § 18 AnVNG idF des RRG). Von den neuen Anspruchsvoraussetzungen des § 42 Satz 2 AVG sind zwar die in den beiden letzten Ziffern dieses Satzes genannten erfüllt (die Klägerin hatte im Zeitpunkt der Scheidung das 45. Lebensjahr vollendet und ist jetzt bereits 70 Jahre alt, hat also auch das 60. Lebensjahr vollendet). Die notwendigen tatsächlichen Feststellungen hinsichtlich der in der ersten Ziffer genannten Anspruchsvoraussetzungen kann das Revisionsgericht jedoch nicht selbst treffen.
Nach alledem muß das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit insgesamt zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).
Bei der neuen Entscheidung hat das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden.
Fundstellen