Leitsatz (amtlich)
Wie der Senat bereits entschieden hat (BSG 1973-02-23 3 RK 82/72 = SozR Nr 56 zu § 182 RVO), kann sich die Behandlung der Zahnfehlstellungs- und Kieferanomalie eines Kindes auch dann als notwendig erweisen, wenn bei Beginn der Behandlung keine nennenswerten Funktionsstörungen vorliegen und eine Verschlimmerung nur möglich, nicht aber wahrscheinlich ist. Die Gefahr der späteren Irreparabilität rechtfertigt es, schon bei einem geringeren Grad der Gefährdung Behandlungsbedürftigkeit anzunehmen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn nach dem Ergebnis von Diagnose und Prognose von verantwortungsbewußten Eltern erwartet werden kann, daß sie die Behandlung veranlassen.
Normenkette
RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1967-12-21
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 21. August 1972 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger begehrt die Übernahme der vollen Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung seiner 1960 geborenen Tochter.
Die Beklagte gewährte einen Zuschuß von 410,- DM zu den Kosten der geplanten Behandlung. Die Übernahme der vollen Kosten in Höhe von voraussichtlich 1.100,- DM lehnte sie mit dem Hinweis ab, es läge eine Anomalie ohne Krankheitswert vor und die geplante Regulierung geschehe nur zur Verhütung von möglicherweise in der Zukunft eintretenden Erkrankungen (Bescheid vom 23. November 1970, Widerspruchsbescheid vom 3. Juni 1971). Klage (Urteil des Sozialgerichts vom 6. Januar 1972) und Berufung (Urteil des Landessozialgerichts - LSG - vom 21. August 1972) waren ohne Erfolg. Das LSG hat die Kiefer- und Zahnfehlstellung des Kindes des Klägers als relativ geringfügig angesehen. Gestützt auf die gutachtlichen Stellungnahmen von Dr. M und Prof. Dr. Dr. R, die eine kieferorthopädische Behandlung als nicht notwendig, jedoch wünschenswert bezeichnet hatten, ist das LSG zu dem Schluß gekommen, bei dem Kind liege keine behandlungsbedürftige Krankheit im Sinne des § 182 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) vor.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger die - vom LSG zugelassene - Revision eingelegt mit dem Antrag,
die Urteile der Vorinstanzen sowie die ablehnenden Bescheide der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die vollen Behandlungskosten für die kieferorthopädische Behandlung seines Kindes zu übernehmen.
Er macht geltend, auch wenn ärztlicherseits die kieferorthopädische Behandlung eines Kindes nur als wünschenswert bezeichnet werde, sei die Behandlung - unter Berücksichtigung der Verantwortung der Eltern - als notwendig zu beurteilen. Denn niemand könne das von den Ärzten nicht ausgeschlossene Risiko eingehen, daß sich beim Abschluß der unbehandelten Kieferentwicklung eine dann nicht mehr zu korrigierende Mißbildung des Kiefers herausstelle.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die hier vorliegende bloße Möglichkeit, daß sich die geringfügige Kiefer- und Zahnstellungsanomalie zu einer Krankheit entwickele, reiche nicht aus, einen Fall von Krankheit anzunehmen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision ist begründet; denn die Frage, ob die kieferorthopädische Behandlung notwendig ist, konnte aufgrund der von dem LSG bisher getroffenen Feststellungen nicht abschließend beantwortet werden.
Die Gegebenheiten des vorliegenden Rechtsstreits unterscheiden sich rechtlich nicht von dem durch Urteil des erkennenden Senats vom 23. Februar 1973 - 3 RK 82/72 in SozR Nr. 56 zu § 182 RVO - entschiedenen Fall. Fest steht auch hier, daß - in Bezug auf den Beginn der Behandlung - die gegenwärtige Gebißsituation keine beachtlichen Funktionsstörungen bewirkt, daß ohne Behandlung sowohl eine Verbesserung als auch eine Verschlimmerung mit einer dann erheblichen Funktionsstörung auftreten kann und daß bei rechtzeitiger Behandlung eine Verbesserung gewährleistet erscheint. Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die Entwicklung des Gebisses nur in bestimmten Phasen des Frühstadiums günstig beeinflußt werden kann, ist der Senat der Auffassung, daß Behandlungsbedürftigkeit nicht nur und erst dann vorliegt, wenn sich die Gefahr einer Verschlimmerung als wahrscheinlich herausstellt. Die Schwere der drohenden Gesundheitsstörung und die Verringerung der Chancen, diese zu beheben, können geeignet sein, die Notwendigkeit der Behandlung auch bei einem geringeren Grad der Gefährdung zu begründen. Das ist dann der Fall, wenn aufgrund von Diagnose und Prognose von einem verantwortungsbewußten Elternteil erwartet werden muß, daß er die Gefahr der Verschlimmerung und der etwaigen Irreparabilität nicht in Kauf nimmt, sondern die Behandlung seines Kindes rechtzeitig durchführen läßt. Da in dem angefochtenen Urteil geeignete Feststellungen hierzu fehlen, muß der Rechtsstreit an das ISG zurückverwiesen werden.
Über die Kosten ist in der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung zu befinden.
Fundstellen