Entscheidungsstichwort (Thema)
Entscheidung der Widerspruchsstelle anstelle der Verwaltungsbehörde. Anwendung des AFG § 151 bei Gesetzesänderungen. Verfassungsmäßigkeit der Herabsetzung des Unterhaltsgeldes. unechte Rückwirkung und Vertrauensschutz
Orientierungssatz
1. Solange der Widerspruchsbescheid nicht an einem so wesentlichen und eindeutig erkennbaren Mangel leidet, daß er als nichtig angesehen werden muß, kann ihm nicht entgegengehalten werden, es fehle an dem gemäß SGG § 78 Abs 1 erforderlichen Vorverfahren.
Hat die Widerspruchsstelle anstelle der Verwaltungsbehörde entschieden, handelt es sich hierbei um eine funktionale Unzuständigkeit; diese begründet keinen besonders schwerwiegenden Fehler, der bei besonderer Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist (vgl BSG vom 1965-12-14 2 RU 113/63 = BSGE 24, 165).
2. AFG § 151 Abs 1 findet auch bei Änderungen von Voraussetzungen des Leistungsanspruchs durch gesetzliche Regelung Anwendung.
3. SGG § 77 sichert den Bestand bindender Verwaltungsakte nur soweit, als durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist. Im Bereich des AFG enthält aber AFG § 151 Abs 1 eine solche - abweichende - gesetzliche Bestimmung. Er wird ergänzt durch die Regelungen in AFG § 152, wodurch der Vertrauensschutz in die Bestandskraft von Verwaltungsakten hier auf bestimmte Fälle der Rückforderung zu Unrecht erbrachter Leistungen beschränkt ist (vgl Urteile des BSG vom 1974-08-07 7 RAr 30/73 = BSGE 38, 63, 68 und vom 1976-03-25 12/7 RAr 135/74 = BSGE 41, 260, 261).
4. Die Regelungen des AFGHStruktG über die Herabsetzung des Unterhaltsgeldes verstoßen nicht gegen GG Art 12 Abs 1, Art 14 Abs 1, Art 20 Abs 1 und 3.
5. Aus den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes ergeben sich verfassungsrechtliche Grenzen auch für Gesetze mit unechter Rückwirkung, also für Normen, die zwar unmittelbar nur auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte für die Zukunft einwirken, damit aber zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich im ganzen entwerten.
Eine solche unechte Rückwirkung ist aber nur dann verfassungswidrig, wenn sie in einen Vertrauenstatbestand eingreift und die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für die Allgemeinheit das Interesse des Einzelnen am Fortbestand des bisherigen Zustandes nicht übersteigt (vgl BVerfG vom 1973-10-03 1 BvL 30/71 = BVerfGE 36, 73, 82).
Normenkette
GG Art 12 Abs 1 Fassung: 1968-06-24; GG Art 14 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; GG Art 20 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; GG Art 20 Abs 3 Fassung: 1949-05-23; AFGHStruktG Art 1 § 2 Abs 3 Fassung: 1975-12-18; AFG § 44 Abs 2 Fassung: 1975-12-18, § 151 Abs 1 Fassung: 1969-06-25, § 152 Abs 1 Fassung: 1969-06-25; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03, § 78 Abs 1 Fassung: 1974-07-30
Verfahrensgang
Fundstellen