Leitsatz (amtlich)
Die neue Ehe der Witwe eines Versicherten gilt - bindend für Versicherungsträger und Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit - iS des RKG § 83 Abs 3 als ohne überwiegendes Verschulden der Witwe aufgelöst, wenn sie aus beiderseitigem Verschulden geschieden und ein überwiegendes Verschulden der Witwe nicht ausgesprochen worden ist, weil die Parteien auf eine solche Entscheidung verzichtet haben.
Normenkette
RVO § 1291 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RKG § 83 Abs. 3 Fassung: 1957-05-21
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Januar 1966 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist das Wiederaufleben einer Witwenrente nach § 83 Abs. 3 Reichsknappschaftsgesetz - RKG - (§ 1291 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Die 1914 geborene Klägerin bezog von der Beklagten eine Witwenrente aus der knappschaftlichen Rentenversicherung nach ihrem für tot erklärten Ehemann, dem Bergmann R L. Diese Rente fiel weg, nachdem die Klägerin sich am 9. September 1952 mit dem Rentner E Sch verheiratet hatte. Diese Ehe wurde durch Urteil des Landgerichts Bochum vom 6. November 1962 geschieden; beide Parteien wurden für schuldig an der Scheidung erklärt. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt, der Klägerin fielen schwere unverziehene Eheverfehlungen zur Last, durch welche die Ehe der Parteien so tief zerrüttet sei, daß die Wiederherstellung einer dem Wesen der Ehe entsprechenden Lebensgemeinschaft nicht erwartet werden könne. An dieser Zerrüttung der Ehe sei aber nicht die Klägerin allein, sondern auch der Beklagte schuldig. Vorliegende schwere Verfehlungen des Beklagten, die zur Zerrüttung der Ehe mit beigetragen hätten, könne die Klägerin dem Beklagten wegen Verzeihung allerdings nicht entgegenhalten; jedoch könnten sie zur Begründung des Mitschuldantrages geltend gemacht werden. Da die Parteien in zulässiger Weise auf die Feststellung des überwiegenden Verschuldens einer Partei verzichtet hätten, seien sie gemäß § 52 Ehegesetz (EheG) beide in gleicher Weise für schuldig an der Scheidung zu erklären.
Am 6. November 1962 beantragte die Klägerin das Wiederaufleben der Witwenrente nach ihrem ersten Ehemann.
Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 24. April 1963 mit der Begründung ab, daß die Klägerin überwiegend schuld an der Scheidung sei.
Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin Widerspruch, der am 12. Juli 1963 zurückgewiesen wurde. Gegen diesen Bescheid richtet sich die Klage.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Es ist der Ansicht, daß die Klägerin überwiegend schuld an der Scheidung sei. Das ergebe sich aus den Gründen des Scheidungsurteils. Die Entscheidungsgründe dürften für die Feststellung des überwiegenden Verschuldens herangezogen werden, weil die Parteien des Eherechtsstreits auf die Feststellung des überwiegenden Verschuldens einer Partei verzichtet hätten.
Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 20. Januar 1966 die Entscheidung des SG abgeändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin die Witwenrente nach § 83 Abs. 3 RKG zu gewähren; es hat die Revision zugelassen. Das LSG hält den von der Klägerin erhobenen Anspruch für gerechtfertigt und hat dazu im wesentlichen ausgeführt: Bei der Frage des Verschuldens komme es nur auf den Tenor des Scheidungsurteils an. Die Gründe dieses Urteils seien nur dann heranzuziehen, wenn der Urteilstenor überhaupt keinen Schuldausspruch enthalte. Das Scheidungsurteil sei ein für und gegen jedermann wirkendes Gestaltungsurteil. Gestaltende Kraft habe grundsätzlich nur der Urteilstenor. Für Urteile, in denen ein Ausspruch des überwiegenden Verschuldens einer Partei wegen entsprechenden Verzichts beider Parteien unterbleibe, gelte nichts anderes. Durch diesen Verzicht sei die Entscheidungsbefugnis des Scheidungsgerichts dergestalt eingeschränkt, daß es im Falle der Scheidung nur gleichwertiges Verschulden beider Parteien aussprechen dürfe. Das Recht der Parteien, auf die Feststellung des überwiegenden Verschuldens einer Partei zu verzichten, habe aber nur dann Sinn, wenn die Parteien im Rechtsleben wie gleichschuldig geschiedene Parteien behandelt würden. Auf die Urteilsgründe könne auch deshalb nicht abgestellt werden, weil diese eine unterschiedliche Wertung des Verschuldengrades der Scheidungsparteien zulassen könnten. Die Gründe behandelten zudem nur das, was bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung in den Rechtsstreit eingeführt worden ist; sie ließen unberücksichtigt, was von den Parteien noch vorgetragen wäre, wenn sie nicht auf den Ausspruch des überwiegenden Verschuldens verzichtet hätten. Der Gesetzgeber habe mit § 83 Abs. 3 RKG kein "Nachverfahren" für Ehescheidungsstreitigkeiten eröffnen wollen. Die Klägerin, die eine Rente nach § 83 Abs. 3 RKG beanspruche, könne zudem alle ihr überwiegendes Verschulden möglicherweise ausräumenden Umstände vortragen und entsprechende Beweise antreten, während es praktisch unmöglich wäre, den Gegner des Scheidungsstreites mit entsprechender Prozeßrolle in das sozialgerichtliche Verfahren einzubeziehen. Ob neben dem Urteilstenor andere Umstände ausnahmsweise dann eine Rolle spielen könnten, wenn die Parteien des Scheidungsstreits im Hinblick auf rentenrechtliche Vorschriften arglistig gehandelt, z. B. ihr Vorbringen im Prozeß ausschließlich auf § 83 Abs. 3 RKG ausgerichtet hätten, könne hier dahinstehen; denn für ein solches Verhalten der Klägerin finde sich kein Hinweis.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie rügt die unrichtige Anwendung des § 83 Abs. 3 RKG und trägt dazu im wesentlichen vor: Die Ansicht des LSG, daß es hinsichtlich des Verschuldensgrades uneingeschränkt an den Tenor des Scheidungsurteils gebunden sei und demzufolge auch in einem Fall wie dem vorliegenden davon ausgegangen werden müsse, daß ein überwiegendes Verschulden der Witwe nicht vorliege, treffe nicht zu. Der Wortlaut des § 83 Abs. 3 RKG erfordere jeweils die Feststellung, wen die Schuld an der Auflösung der Ehe treffe. Fehle in dem Tenor des die Ehe auflösenden Urteils ein Schuldausspruch, so seien die Gründe des Scheidungsurteils für die notwendige Prüfung dieser Frage heranzuziehen. Das Bundessozialgericht (BSG) wolle nur dann ein alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe nicht gelten lassen, wenn weder im Tenor noch in den Gründen des Urteils ein Schuldausspruch zuungunsten der Witwe enthalten ist. Von einem solchen Fall könne aber dann nicht die Rede sein, wenn beide Ehegatten nur deshalb für schuldig erklärt worden seien, weil sie auf die Feststellung einer überwiegenden Schuld verzichtet haben. Dieser Verzicht laufe im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung dem erklärten Willen des Gesetzgebers zuwider. Wolle man daher beim Fehlen des Ausspruchs einer überwiegenden Schuld, die grundsätzlich von Amts wegen festgestellt werden müsse (§ 52 Abs. 2 Satz 2 EheG), unterschiedslos verfahren, einen Verzicht also außer acht lassen, so würde der Technik des Eherechtsstreits eine wesentliche Bedeutung für das Wiederaufleben der Witwenrente zukommen. Darüber hinaus widerspreche eine derartige Verfahrensweise dem Wortlaut des § 83 Abs. 3 RKG, der eine Feststellung der Schuld verlange. Es gehe deshalb nicht an, daß der Versicherungsträger den für diese Frage indifferenten Urteilstenor bei seiner Entscheidung verwerte. Er müsse vielmehr in eigener Zuständigkeit feststellen, wen die Schuld an der Auflösung der Ehe treffe. Andernfalls wäre der Versicherungsträger durch eine Manipulation in seiner Entscheidung über das Wiederaufleben des Anspruchs auf Witwenrente bereits gebunden. Gehe man bei der Feststellung des Verschuldensgrades im Sinne des § 83 Abs. 3 RKG von den Gründen des Scheidungsurteils aus, so könne im vorliegenden Fall nicht zweifelhaft sein, daß die Ehezerrüttung durch die Klägerin verursacht worden ist. Dies folge schon daraus, daß die Klägerin ihre Scheidungsklage zurückgenommen hat, nachdem unverziehene schwere Eheverfehlungen des geschiedenen Ehemannes nicht bewiesen werden konnten und die Ehescheidung auf die Widerklage des Mannes hin ausgesprochen wurde. Trage mithin die Klägerin zumindest die überwiegende Schuld an der Scheidung, so könne ein Anspruch aus § 83 Abs. 3 RKG nicht hergeleitet werden.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt im wesentlichen vor: Das LSG habe mit Recht ausgeführt, daß im Falle der Scheidung der Ehe ein im Tenor des Scheidungsurteils enthaltener Schuldausspruch für das Wiederaufleben der Witwenrente nach § 83 Abs. 3 RKG allein maßgebend ist. Der erkennende Teil des Scheidungsurteils einschließlich des Schuldausspruchs wirke konstitutiv, schaffe also eine neue Rechtslage, die bis dahin nicht vorhanden gewesen sei. Diese Gestaltungswirkung trete nach dem Willen des Gesetzes für und gegen jedermann ein, sei also für den gesamten Rechtsverkehr verbindlich. Die Frage des Verschuldens an der Ehescheidung könne deshalb nicht Gegenstand einer neuen Prüfung sein, vielmehr sei insoweit ausschließlich der im Tenor des Scheidungsurteils enthaltene Schuldausspruch maßgeblich und für jedermann, auch für das Gericht, verbindlich.
II
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Zu Recht hat das Berufungsgericht entschieden, daß die durch die zweite Eheschließung der Klägerin weggefallene Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes nach § 83 Abs. 3 RKG wiederaufgelebt ist. Nach dieser Vorschrift lebt der Anspruch auf Witwenrente wieder auf, wenn die zweite Ehe ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe ... aufgelöst wird. Die zweite Ehe der Klägerin ist durch Urteil des Landgerichts Bochum vom 6. November 1962 rechtskräftig geschieden worden; beide Parteien sind für schuldig erklärt worden. Daher ist diese Ehe ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Klägerin geschieden worden. Die Beklagte, die dies nicht verkennt, meint allerdings, daß die Versicherungsträger bzw. die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit in Fällen der vorliegenden Art, in welchen der Scheidungsrichter keine Entscheidung darüber getroffen hat, ob die eine oder die andere Partei überwiegend die Ehescheidung verschuldet hat, diese Entscheidung mit Wirkung für das Sozialverwaltungs- bzw. Sozialgerichtsverfahren nachholen könnten. Dem kann nicht gefolgt werden. Im vorliegenden Fall hat das Landgericht bewußt keine Entscheidung über ein überwiegendes Verschulden eines Ehegatten getroffen, weil die Parteien des Eherechtsstreits auf diese Entscheidung verzichtet haben und es in einem solchen Fall diese Entscheidung nicht treffen darf (Hoffmann/Stephan, Ehegesetz, Anm. 4 B zu § 52; Palandt, BGB, 26. Aufl. Anm. 4 zu § 52 EheG). Die Entscheidung über die Schuldfrage ist Teil der Scheidung und kann daher wie diese nur durch den Scheidungsrichter getroffen werden, sie kann also weder von dem Versicherungsträger noch von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit in einem Verfahren auf Zahlung der Witwenrente nach § 83 Abs. 3 RKG, wenn auch nur mit Wirkung für dieses Verfahren, nachgeholt werden. Das Scheidungsurteil ist zudem Gestaltungsurteil, so daß es für und gegen alle wirkt, also auch von den Behörden und Gerichten zu beachten ist. Sie müssen den Scheidungsausspruch ihren Entscheidungen zugrunde legen. Der Schuldausspruch ist untrennbarer Teil des Scheidungsurteils, so daß für ihn nichts anderes gelten kann als für den Scheidungsausspruch selbst (Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 8. Aufl., § 161 V 1 a); auch er wirkt daher für und gegen alle. Dies wird durch § 83 Abs. 3 RKG bestätigt; denn dort wird darauf abgestellt, ob die Ehe ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe oder des Witwers geschieden worden ist. Da die Scheidung, wie ausgeführt, allein Sache des Scheidungsrichters ist, kann hier nur die Entscheidung über das Verschulden durch den Scheidungsrichter gemeint sein. Die Versicherungsträger und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben also bei Entscheidungen über das Wiederaufleben eines Anspruchs nach § 83 Abs. 3 RKG die Entscheidung des Scheidungsgerichts in vollem Umfang, d. h. auch hinsichtlich des Schuldausspruchs, ihrer eigenen Entscheidung zugrunde zu legen. Dies hat mit der Frage, ob die Entscheidung über das Verschulden unbedingt im Tenor oder ob sie auch in den Entscheidungsgründen enthalten sein kann, ebensowenig etwas zu tun wie mit der Frage, ob die Entscheidungsgründe zur Klarstellung eines unklaren Urteilstenors herangezogen werden können. Denn keiner dieser Fälle liegt hier vor, da das Scheidungsgericht die Entscheidung über das Überwiegen des Verschuldens bewußt nicht getroffen hat, weil es sie wegen des Verzichts der Parteien nicht treffen durfte. In einem solchen Fall kann weder aus den Entscheidungsgründen eine Entscheidung dieser Art entnommen noch können diese zur Klarstellung des Tenors herangezogen werden. Ein Verfahren, in welchem die Versicherungsträger und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit die fehlende Entscheidung über das überwiegende Verschulden für das Verwaltungsverfahren und das sozialgerichtliche Verfahren nachholen könnten, wie es der Beklagten vorschwebt, wäre zudem nicht praktikabel. Abgesehen davon, daß vor allem die Versicherungsträger durch solche Entscheidungen überfordert wären, sind den Scheidungsakten nicht immer alle Umstände, die zur Zerrüttung der Ehe beigetragen haben, zu entnehmen, vor allem dann nicht, wenn die Parteien wegen des beiderseitigen Verzichts auf eine Entscheidung über das überwiegende Verschulden davon abgesehen haben, alle Gründe vorzutragen, auf denen die Zerrüttung der Ehe beruht. Ein Nachholen dieses Vortrags und die Prüfung der Wahrheit des Vorbringens kann aber auch deshalb nicht Sache des Verwaltungsverfahrens und des Sozialgerichtsverfahrens sein, weil die eine Partei des Scheidungsprozesses überhaupt nicht an diesem Verfahren beteiligt ist. Das Urteil des 4. Senats des BSG vom 30. November 1966 (SozR Nr. 17 zu § 1291 RVO) steht dieser Entscheidung nicht entgegen, da es einen anders gelagerten Fall betrifft, in welchem die Ehe nach ausländischem Recht aufgelöst wurde. Der 4. Senat hat die Entscheidung des Normalfalles, wie er hier vorliegt, ausdrücklich offengelassen.
Ob und unter welchen Umständen etwas anderes gelten würde, wenn die Parteien des Scheidungsprozesses rechtsmißbräuchlich auf die Feststellung des überwiegenden Verschuldens verzichtet haben, d. h. mit dem alleinigen Ziel, das Wiederaufleben der weggefallenen Witwenrente zu erreichen, obwohl die Frau tatsächlich die überwiegende Schuld an der Ehescheidung trifft, bedarf hier keiner Entscheidung. Denn ein derartiger Fall liegt hier nicht vor. Selbst der Schriftsatz der damaligen Prozeßbevollmächtigten der Klägerin vom 8. August 1962 (Bl. 42 der Akten des Landgerichts - 1 R 103/62 -) gibt keinen Anhalt dafür, daß auf diese Feststellung mißbräuchlich, d. h. ausschließlich deshalb verzichtet werden sollte, um die Witwenrente wiederaufleben zu lassen.
Da sich somit das Urteil des LSG als zutreffend erweist, ist die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen