Entscheidungsstichwort (Thema)
Wehrdienst im Anschluß an die Überführung aus der Landespolizei
Leitsatz (redaktionell)
Angehörige der Landespolizei, die aufgrund des LPolÜberfG in die Wehrmacht überführt worden sind, haben den Dienst in der Wehrmacht nicht aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht geleistet.
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; WehrG Fassung: 1935-05-21; RKErl 1935-05-22; LPolÜberfG Fassung: 1935-07-03
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 26. Januar 1976 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der im Jahr 1910 geborene Kläger trat am 1. April 1935 als Freiwilliger in die Landespolizei ein, wurde mit dieser am 1. August 1935 in die Wehrmacht überführt und am 30. September 1936 nach Ablauf der Dienstzeit entlassen. Für die Dienstzeit in der Landespolizei vom 1. April bis 31. Juli 1935 gilt er nach § 99 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes als nachversichert. In dem Bescheid vom 27. November 1974, mit dem ihm das flexible Altersruhegeld gewährt wurde, hat die Beklagte die Zeit vom 1. August 1935 bis 30. September 1936 nicht berücksichtigt.
Auf die Klage hat das Sozialgericht Hamburg mit Urteil vom 26. Januar 1976 den Bescheid geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger in einem neuen Bescheid die streitige Zeit als Ersatzzeit anzurechnen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Nach § 4 des Wehrgesetzes vom 21. Mai 1935 (RGBl I 609) habe die Wehrpflicht vom vollendeten 18. Lebensjahr bis zu dem auf die Vollendung des 45. Lebensjahres folgenden 31. März gedauert. Es sei also rechtlich möglich gewesen, den Kläger zur Erfüllung der aktiven Dienstpflicht heranzuziehen. Das aber genüge, um die Dienstzeit des Klägers als Ersatzzeit anzusehen.
Mit der zugelassenen Sprungrevision rügt die Beklagte die unrichtige Anwendung des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO). Die abstrakte Möglichkeit der Heranziehung zur Dienstpflicht reicht nach ihrer Ansicht nicht aus, um eine freiwillige Dienstzeit als Ersatzzeit zu qualifizieren.
Sie beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 27. November 1974 ist entgegen der Ansicht des Sozialgerichts (SG) rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erhöhung des Altersruhegeldes unter Berücksichtigung einer von August 1935 bis September 1936 andauernden Ersatzzeit.
Nach § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO werden für die Erfüllung der Wartezeit als Ersatzzeiten - die nach § 1255 a Satz 1 RVO bei der Ermittlung der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage berücksichtigt werden - u. a. angerechnet Zeiten des militärischen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 Bundesversorgungsgesetz (BVG), der aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht geleistet worden ist. Die Dienstzeit des Klägers von August 1935 bis September 1936 war militärischer Dienst im Sinne des § 2 Abs. 1 BVG, denn sie wurde nach Wehrrecht als Soldat geleistet. Die Dienstleistung erfolgte jedoch nicht aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht.
Der 5. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat in dem - zur Veröffentlichung vorgesehenen - Urteil vom 29. September 1976 - 5/12 RJ 160/75 - für den Fall eines im Jahr 1909 geborenen, im Oktober 1935 von der Landespolizei in die Wehrmacht überführten und zum 1. Oktober 1936 zur Schutzpolizei zurückversetzten Versicherten entschieden: Weder sei der Grund für die Ableistung des militärischen Dienstes die gesetzliche Dienst- oder Wehrpflicht gewesen noch sei durch die Ableistung des Dienstes eine sonst später eintretende Dienst- oder Wehrpflicht erloschen. Das Gesetz über die Überführung von Angehörigen der Landespolizei in die Wehrmacht vom 3. Juli 1935 (RGBl I 851), das Rechtsgrundlage für die Überführung gewesen sei, habe kein Wehrgesetz dargestellt, sondern ein Gesetz, das den im öffentlichen Dienst gewählten Beruf des Klägers verändert und diesen zu einem Berufssoldaten gemacht habe. Ein solcher Versicherter könne nicht anders als andere Berufssoldaten behandelt werden; er habe die diesem Personenkreis zustehenden Versorgungsansprüche, jedoch sei für ihn die Wehrdienstzeit keine Ersatzzeit. Dieser Rechtsauffassung schließt sich der erkennende Senat an.
Zu Unrecht beruft sich das SG auf das Urteil des 12. Senats des BSG in SozR Nr. 54 zu § 1251 RVO. Damals handelte es sich um einen im Jahr 1916 geborenen Mann, der mit der Einberufung zur Erfüllung der aktiven Dienstpflicht für November 1936 zu rechnen hatte, sich aber schon ein Jahr früher meldete, um zum Ingenieurstudium zugelassen zu werden. Diese Dienstzeit hat das BSG als Ersatzzeit angesehen, weil auch die vorzeitige Ableistung der aktiven Dienstpflicht ausschließlich auf der gesetzlichen Wehrpflicht beruht habe.
Bei dem Kläger des vorliegenden Falles war jedoch die wehrrechtliche Lage anders. Zwar war damals jeder deutsche Mann wehrpflichtig (§ 1 Abs. 2 des Wehrgesetzes vom 21. Mai 1935, RGBl I 609). Die Wehrpflicht dauerte vom vollendeten 18. Lebensjahr bis zu dem auf die Vollendung des 45. Lebensjahres folgenden 31. März (§ 4 aaO). Sie wurde durch den Wehrdienst, nämlich den aktiven Wehrdienst und den Wehrdienst im Beurlaubtenstande erfüllt (§ 7). Im aktiven Wehrdienst standen die Wehrpflichtigen während der Erfüllung der aktiven Dienstpflicht (§ 7 Abs. 1 Buchst. a Nr. 1), deren Dauer durch den Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Dauer der aktiven Dienstpflicht in der Wehrmacht vom 22. Mai 1935 (RGBl I 614) auf ein Jahr festgesetzt war. Aber die Wehrpflichtigen wurden in der Regel in dem Kalenderjahr, in dem sie das 20. Lebensjahr vollendeten, zur Erfüllung der aktiven Dienstpflicht einberufen; ein freiwilliger Eintritt in die Wehrmacht war schon früher möglich (§ 8 Abs. 2). Zur Erfüllung der aktiven Dienstpflicht wurden erstmals herangezogen die Dienstpflichtigen des Jahrgangs 1914, in Ostpreußen auch die des Jahrgangs 1910 (§ 1 Abs. 2 der Verordnung über die Musterung und Aushebung 1935 vom 29. Mai 1935, RGBl I 697). Daraus folgt, daß der Kläger zwar vom Inkrafttreten des Wehrgesetzes (22. Mai 1935) an bis auf weiteres wehrpflichtig war, aber, da er in Ostpreußen weder geboren war noch wohnte, eine aktive Dienstpflicht weder erfüllen mußte noch im Wege des freiwilligen Eintritts konnte.
Wenn das SG ausführt, damals habe jeder Deutsche vom 18. bis zum 45. Lebensjahr einer aktiven Dienstpflicht von einem Jahr unterlegen, so ist dies mindestens mißverständlich. Nach der Rechtslage des Jahres 1935, auf die es hier ankommt, war der deutsche Mann nur wehrpflichtig, konnte aber, soweit er nicht den Geburtsjahrgängen 1914 und später (in Ostpreußen 1910 und später) angehörte, zur Erfüllung der aktiven Dienstpflicht nicht herangezogen werden. Entgegen der Ansicht des SG genügt es auch nicht, daß es nach dem Wehrgesetz rechtlich möglich war, auch die älteren Männer einer aktiven Dienstpflicht zu unterstellen. Hierzu hat der 12. Senat (aaO) ausgeführt, daß die gesamte Ersatzzeitenregelung an tatsächlich Geschehenes und nicht an Denkmöglichkeiten anknüpft (ähnlich für den Fall der Ableistung des Arbeitsdienstes: BSG SozR 2200 § 1251 Nr. 19).
Dem Umstand, daß der Kläger für die Zeit in der Wehrmacht nicht nachversichert worden ist, kommt entgegen der Meinung der Revision keine Bedeutung zu. Selbst wenn, was der Senat nicht nachprüfen kann, die Nachversicherung zu Unrecht unterlassen worden wäre, könnte das nicht in einer Art von Folgenbeseitigung zur Anrechnung dieser Zeit als Ersatzzeit führen.
Auf die Revision war das angefochtene Urteil aufzuheben. Die Klage war abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen