Leitsatz (amtlich)
Als Ausfallzeit iS von AVG § 36 Abs 1 Nr 4 ist auch die Zeit anzurechnen, die zwischen den Schulentlassung des Abiturienten und dem zum nächstmöglichen Termin aufgenommenen (später abgeschlossenen) Hochschulstudium liegt, soweit mit den Zeiten der Schulausbildung und der Hochschulausbildung die anrechenbare Höchstdauer von neun Jahren nicht erreicht wird.
Normenkette
AVG § 36 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 12. September 1963 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten über die Höhe des dem Kläger gewährten Altersruhegeldes; insbesondere geht es um die Frage, ob die zwischen dem Abitur und dem Beginn der Hochschulausbildung des Klägers liegende Zeit (August und September 1913) als Ausfallzeit nach den §§ 35, 36 Abs. 1 Nr. 4 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) zu berücksichtigen ist.
Der Kläger (geboren am 18.11.1895) bestand am 8. Juli 1913 das Abitur an dem Gymnasium in T.; im Anschluß an die vom 15. Juli bis 15. September - dem Ende des Schuljahres - dauernden großen Ferien nahm er am 1. Oktober 1913 das juristische Studium auf; dieses schloß er mit der Staatsprüfung im Jahre 1919 ab.
Die Beklagte rechnete im Rentenbescheid vom 8. August 1961 neben der Hochschulzeit auch die Schulzeit des Klägers, diese aber nur bis einschließlich Juli 1913 als Ausfallzeit an (§ 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG). Der Kläger begehrt - unter Hinweis auf ähnliche Regelungen im Steuer- und Kindergeldrecht - die Anrechnung auch der Monate August und September 1913 als Ausfallzeit. Dadurch würde sich seine Versicherungszeit um ein halbes Jahr erhöhen (§ 35 Abs. 3 AVG).
Das Landessozialgericht (LSG) entschied im Sinne des Klägers. Es ging davon aus, daß dieser die Schule bis zum 15. September 1913 besucht habe. In diesem Umfang sei die Schulzeit als Ausfallzeit anrechenbar, auch wenn die eigentliche Schulausbildung schon mit dem Ablegen der Reifeprüfung geendet habe; sei die Reifeprüfung vor dem offiziellen Ende des Schuljahres abgelegt, könne darin kein Abbruch der weiteren Schulausbildung innerhalb eines Schuljahres gesehen werden (Urteil vom 12. September 1963).
Mit der - zugelassenen - Revision beantragt die Beklagte, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.
Sie rügt die Verletzung von § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG. Nach ihrer Auffassung sind die streitigen Zeiten nicht mehr als solche einer weiteren Schulausbildung anzusehen, weil das Ausbildungsziel mit dem Ablegen der Reifeprüfung erreicht und mit diesem Zeitpunkt das rechtliche Band des Schülers zur Schule gelöst sei.
Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Revision.
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Das angefochtene Urteil ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Ob und in welchem Umfang die Ausbildungszeiten des Klägers als Ausfallzeiten anzurechnen sind, beurteilt sich im vorliegenden Fall nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG in der bis zum Inkrafttreten des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965 (RVÄndG) geltenden Fassung (vgl. Art. 1 § 2 Nr. 19 Buchst. d, Art. 5 §§ 3 und 10 Abs. 1 Buchst. e RVÄndG). Danach sind Ausfallzeiten unter anderem Zeiten einer nach Vollendung des 15. Lebensjahres liegenden weiteren Schulausbildung und die Zeiten einer abgeschlossenen Hochschulausbildung.
Der Beklagten ist zuzugeben, daß die eigentliche Schulausbildung, d. h. die wissens- und erziehungsmäßige Ausbildung eines Schülers, wie sie das Gesetz meint, abgeschlossen ist, wenn der Schüler das Ziel der höheren Schule erreicht, nämlich die Reifeprüfung abgelegt hat. Wenn er anschließend daran von der Schule entlassen wird, was bei den Abiturienten bald danach und in feierlicher Weise geschieht, so ist damit - wie auch bei einer sonstigen (z. B. vorzeitigen) Schulentlassung - der Status als Schüler beendet. Dieser kann ohne Rücksicht auf das etwa noch laufende Schuljahr seinen weiteren Werdegang bestimmen und alsbald nach der Entlassung ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis antreten oder eine selbständige Erwerbstätigkeit aufnehmen. In diesem Fall können keine nach der Schulentlassung liegende Zeiten als Ausfallzeiten nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG angerechnet werden, es sei denn, es handele sich um Lehrzeiten alter Art, die durch das RVÄndG ebenfalls in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG einbezogen worden sind.
Beim Kläger ist aber der Schulentlassung alsbald, d. h. zum nächstmöglichen Termin eine abgeschlossene Hochschulausbildung gefolgt. Es handelt sich deshalb in seinem Fall bei den Monaten August und September 1913 - um deren Berücksichtigung es hier geht - um einen kurzen Zeitabschnitt zwischen zwei anrechenbaren Ausbildungs- und Ausfallzeiten. Das Hochschulstudium in unmittelbarem Anschluß an die Reifeprüfung ist ein häufiger und typischer Sachverhalt. In einem solchen Fall ist die Schul- und die Hochschulausbildung als eine einheitliche, notwendig zusammenhängende Ausbildung anzusehen. Das zeigt sich u. a. darin, daß die Fünf- (früher Zwei-) Jahresfrist für die Aufnahme einer späteren versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit alsdann nicht nur für die Hochschulzeit, sondern auch für die Schulzeit erst mit dem Ende der Hochschulausbildung beginnt; die Schulausbildung und ihr Ende bleiben bei der Fristberechnung also außer Betracht. Die Bewertung als einheitlicher Ausbildungsgang hat aber auch noch eine weitere Folge. Weil die zwischen den beiden Ausbildungszeiten liegende unvermeidliche Zwischenzeit für die Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung und die Beitragsleistung zur Rentenversicherung regelmäßig ausfällt, muß sie ebenfalls als Ausfallzeit berücksichtigt werden; sie steht insoweit den zum Teil sogar länger dauernden Schul- und Semesterferien gleich. Eine Anrechnung als Ausfallzeit ist allerdings, weil jene Zwischenzeiten nicht mehr zur Schulausbildung rechnen und noch nicht Teil der Hochschulausbildung sind, nur möglich, soweit die Höchstdauer beider anrechenbaren Ausbildungszeiten nämlich die Schulzeit mit 4 Jahren und die Hochschulausbildung mit 5 Jahren, zusammen also 9 Jahren, noch für eine Anrechnung Raum läßt, die Zwischenzeiten also innerhalb dieses Höchstzeitraumes noch untergebracht werden können. Da beim Kläger diese Gesamtzeit mit den Ausbildungszeiten noch nicht erreicht wird und auch die übrigen gesetzlichen Voraussetzungen unstreitig erfüllt sind, müssen ihm somit auch die Zeit zwischen Abitur und Beginn des Hochschulstudiums, nämlich die Monate August und September 1913, als Ausfallzeiten angerechnet werden. Der Senat sieht sich bei dieser Auslegung in Übereinstimmung mit der Rechtsanwendung auf dem Gebiet des Steuerrechts und des Kindergeldrechts, wo - aus ähnlichen Erwägungen - die Zeiten zwischen zwei Ausbildungsabschnitten regelmäßig überbrückt werden (vgl. Blümich-Falter, Einkommensteuergesetz, 9. Auflage, Bd. II, Anm. zu § 32, S. 1832; Lenski in Hartmann-Böttcher-Grass, Anm. zu § 32 EStG, S. 6; Rundschreiben des BdF vom 30. September 1957 - MinBl. Fin 1957 Nr. 34 S. 1172, II Nr. 12 b; E des BVerwG vom 22. März 1962, FamRZ 1962 S. 306).
Die Revision der Beklagten muß demzufolge zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
Haufe-Index 2221046 |
BSGE, 241 |