Leitsatz (amtlich)
Der RAMErl 1942-02-18 (AN 1942, 2, 148) ist weiterhin gültig (örtliche Zuständigkeit der AOK des Betriebssitzes bei Baubetrieben mit zentraler Lohnabrechnung).
Normenkette
RVO § 234 Abs 1 Fassung: 1972-08-10, § 153; SGB 4 § 9 Fassung: 1976-12-23; SGB 4 § 10 Fassung: 1976-12-23; SGB 4 Art 2 § 21 Fassung: 1976-12-23; NotdienstV 1939 § 9 Fassung: 1939-02-13; RAMErl 1942-02-18
Verfahrensgang
SG Itzehoe (Entscheidung vom 23.09.1980; Aktenzeichen S 5 Kr 3/80) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin oder die Beklagte für die Krankenversicherung der bei der Beigeladenen zu 1) beschäftigten Beigeladenen zu 2) und 3) örtlich zuständig ist.
Die Beigeladene zu 1) ist ein Montageunternehmen, das hauptsächlich Rohrleitungen montiert. Der gerichtlich eingetragene Sitz ist N. Die Beigeladene zu 1) unterhält insgesamt 13 Zweigstellen oder Baustellen, unter anderem ein Baubüro in B, das für drei große Baustellen im Bereich B, die teilweise auch im Bereich der AOK für den Kreis S liegen, zuständig ist. Für die Lohnabrechnung werden in B die Arbeitsstundennachweise aufgestellt, die sodann an die Zweigstelle W bei K weitergeleitet werden. In dem dortigen Hauptwerk der Beigeladenen zu 1) werden diese "EDV-gerecht" aufbereitet und zum Betriebssitz nach N gesandt. Dort erfolgt in einer EDV-Anlage die Verarbeitung der Arbeitsstundennachweise, die Berechnung der Löhne und Gehälter sowie die Auszahlung an die Arbeitnehmer. In N werden auch die wesentlichen Personalentscheidungen getroffen.
Seit 1971 führt die beklagte AOK D die gesetzliche Krankenversicherung für alle versicherungspflichtigen Arbeitnehmer aller Zweigstellen der Beigeladenen zu 1) durch. Sie leitet ihre Zuständigkeit aus dem Erlaß des Reichsarbeitsministers vom 18. Februar 1942 (Reichsarbeitsblatt Teil II - Amtliche Nachrichten für die Reichsversicherung - 1942, S 148) her. Sie weigert sich gegenüber der Klägerin, die von der Zweigstelle B aus tätigen Arbeitnehmer der Beigeladenen zu 1) an die Klägerin zu überweisen. Die Klägerin hat daraufhin Feststellungsklage gegen die Beklagte mit dem Antrag erhoben, festzustellen, daß für die Durchführung der gesetzlichen Krankenversicherung der bei der Beigeladenen zu 1) beschäftigten Beigeladenen zu 2) und 3) die Klägerin und nicht die Beklagte zuständig sei. Sie meint, der genannte Erlaß des Reichsarbeitsministers sei spätestens durch Art II § 21 Abs 1 des Sozialgesetzbuches - Gemeinsame Vorschriften (SGB IV) aufgehoben worden. §§ 9 und 10 SGB IV regelten den Begriff des "Beschäftigungsorts" und damit letztlich die Zuständigkeit der einzelnen Ortskrankenkassen untereinander abschließend, so daß der genannte Erlaß nicht mehr geltendes Recht sei. Nach § 9 SGB IV seien aber die von der Zweigstelle B der Beigeladenen zu 1) aus tätigen versicherungspflichtigen Arbeiter wie die Beigeladenen zu 2) und 3) bei ihr zu versichern.
Das Sozialgericht Itzehoe (SG) hat die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 23. September 1980). Es hält den Erlaß des Reichsarbeitsministers vom 18. Februar 1942 weiterhin für gültig, so daß die Beklagte der zuständige Krankenversicherungsträger für die Beigeladenen zu 2) und 3) sei.
Die Klägerin hat mit schriftlicher Zustimmung der Beklagten Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 234 der Reichsversicherungsordnung (RVO) iVm § 9 SGB IV und beanstandet die Anwendung des Erlasses des Reichsarbeitsministers vom 18. Februar 1942.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 23. September 1980
aufzuheben und festzustellen, daß für die Durchführung der
Versicherung nach § 165 Abs 1 Nr 1 RVO der Beigeladenen zu 2) und 3)
die Klägerin zuständig ist.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladenen sind im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die (Sprung-) Revision der Klägerin ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.
Die Feststellungsklage, mit der die Klägerin die Feststellung ihrer Zuständigkeit für die Krankenversicherung der Beigeladenen zu 2) und 3) begehrt, ist zulässig. Mit einer Klage kann auch die Feststellung begehrt werden, welcher Versicherungsträger der Sozialversicherung zuständig ist (§ 55 Abs 1 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Das gilt ua auch für Streitigkeiten von Versicherungsträgern untereinander (BSGE 15, 52; 18, 190, 193; SozR 1500 § 55 Nr 4; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, Stand 15. August 1981, S 240m II; Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 2. Aufl 1981, § 55 RdNr 12).
Zutreffend hat das SG entschieden, daß die für die Krankenversicherung der Beigeladenen zu 2) und 3) örtlich zuständige Ortskrankenkasse die Beklagte und nicht die Klägerin ist. Nach § 234 Abs 1 RVO sind Versicherungspflichtige, die keiner der dort genannten besonderen Krankenkassen angehören, Mitglieder der Allgemeinen Ortskrankenkasse ihres Beschäftigungsortes. Der Begriff des Beschäftigungsortes ist seit dem Inkrafttreten des SGB IV am 1. Juli 1977 (Art II § 21 SGB IV) in dessen §§ 9 und 10 gesetzlich umschrieben. Grundsätzlich ist danach Beschäftigungsort der Ort, an dem die Beschäftigung tatsächlich ausgeübt wirt (§ 9 Abs 1 aaO). In den folgenden Absätzen 2 bis 6 des hier allein in Betracht kommenden § 9 SGB IV sind Einzelregelungen darüber getroffen, welcher Ort als Beschäftigungsort gilt, wenn die Arbeit nicht an einer festen Arbeitsstätte geleistet wird (Abs 2), der Versicherte an mehreren festen Arbeitsstätten beschäftigt ist (Abs 3), sich eine feste Arbeitsstätte über den Bezirk mehrerer Gemeinden erstreckt (Abs 4), eine feste Arbeitsstätte nicht vorhanden ist (Abs 5) und schließlich für die Fälle der Ausstrahlung (Abs 6).
Der Beschäftigungsort der Beigeladenen zu 2) und 3) ist und war danach B., denn dort unterhält ihr Arbeitgeber, die Beigeladene zu 1), ein Baubüro (Außenstelle), von dem aus die Arbeiten unmittelbar geleitet werden (§ 9 Abs 5 Satz 2 SGB IV). Für B. ist die Klägerin die örtlich zuständige Ortskrankenkasse. Sollten die Baustellen oder nur eine Baustelle, auf der die Beigeladenen zu 2) und 3) beschäftigt sind oder waren, feste Arbeitsstätten iS von § 9 Abs 2, 3 und 4 SGB IV sein, wäre ebenfalls die Klägerin örtlich zuständig. Darüber besteht offenbar unter den Beteiligten auch kein Streit.
Die örtliche Zuständigkeit der Ortskrankenkassen ist jedoch in § 234 RVO iVm §§ 9 und 10 SGB IV nicht abschließend geregelt. Abweichend davon bestimmt nämlich der Erlaß des Reichsarbeitsministers vom 18. Februar 1942 (AN 1942, 148):
"Die Krankenversicherung der versicherungspflichtig Beschäftigten
von Baubetrieben mit zentraler Lohnabrechnung wird auf Antrag des
Betriebsführers abweichend von den Allgemeinen Vorschriften
der Reichsversicherungsordnung von der für den Betriebssitz
zuständigen Allgemeinen Ortskrankenkasse durchgeführt.
Die Zuständigkeit einer Betriebskrankenkasse (Innungskrankenkasse)
und einer Ersatzkasse bleibt unberührt."
Dieser Erlaß ist auf § 9 Satz 2 der Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung vom 13. Februar 1939 (RGBl I 206) gestützt. Aus diesem Erlaß leitet die Beklagte zu Recht ihre Zuständigkeit her. Die tatsächlichen Voraussetzungen sind, was auch von der Klägerin nicht ernsthaft bestritten wird, erfüllt. Die Beigeladene zu 1) - der Arbeitgeber der Beigeladenen zu 2) und 3) - ist ein Bauunternehmen mit zentraler Lohnabrechnung. Sie hat ihren Sitz in N, wo sie auch handelsrechtlich eingetragen ist. Der genannte Erlaß ist weiterhin geltendes Recht. Er ist rechtmäßig zustandegekommen und bisher weder ausdrücklich noch durch eine Generalklausel aufgehoben worden. Lediglich in den Ländern der früheren französischen Besatzungszone (Württemberg-Hohenzollern-Baden und Rheinland-Pfalz) ist er 1946 außer Kraft gesetzt worden (vgl Brackmann, aaO, S 328e mwN aus Rechtsprechung und Schrifttum; Krauskopf/Schroeder-Printzen, Soziale Krankenversicherung, 2. Aufl Stand Januar 1981, § 234 Anm 1.2; Erlaß des Bundesarbeitsministers vom 16. Dezember 1951 in DOK 1952 S 35; Besprechung der Landesverbände vom 10./11. Oktober 1967 in DOK 1968 S 122). Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits mehrfach entschieden (vgl BSGE 12, 157, 18, 122; SozR Nr 5 zu § 216 RVO), daß sowohl die Ermächtigung des § 9 der Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung vom 13. Februar 1939 als auch die darauf gestützten Erlasse des Reichsarbeitsministers rechtswirksam zustandegekommen sind und auch nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches und der Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland als weiter geltendes vorkonstitutionelles Recht anzuwenden sind. Insbesondere sind die auf die Ermächtigung des § 9 Abs 2 aaO gestützten Erlasse nicht durch die Aufhebung dieser Verordnung durch Art X § 10 (Abs 2 Nr 9, Abs 2 letzter Satz) des Änderungsgesetzes zum AVAVG vom 23. Dezember 1956 (BGBl I. 1018) außer Kraft gesetzt worden, soweit sie nicht das Recht der Arbeitslosenversicherung betrafen (vgl hierzu auch Brackmann, aaO, § 426b, 427 mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Der Erlaß vom 18. Februar 1942 enthält kein nationalsozialistisches Gedankengut und widerspricht nicht zwingenden Grundsätzen des Rechts der sozialen Krankenversicherung. Er vermag zwar durch die damaligen kriegsbedingten Umstände veranlaßt worden sein, seine Begründung findet jedoch auch weiterhin bis heute in den tatsächlichen Verhältnissen ihre Rechtfertigung. Die ausdrücklich genannten Motive bestanden darin, daß zahlreiche Baubetriebe mit zentraler Lohnabrechnung Baustellen in den Bezirken verschiedener Ortskrankenkassen hätten und für diese Baubetriebe die Berechnung der Beiträge zur Krankenversicherung vereinfacht und die Abführung der Beiträge erleichtert werden sollte.
Die §§ 9 und 10 SGB IV sind an die Stelle der §§ 153 bis 156 und 575 abs 1 Sätze 2 bis 4 RVO getreten. Eine sachliche Änderung der Legaldefinition des "Beschäftigungsorts" sollte damit nicht herbeigeführt werden. Die Neuformulierung sollte vielmehr nur eine Zusammenfassung der bisherigen Vorschriften in sprachlich überarbeiteter und gestraffter Form darstellen und einige bisher bestehende Gesetzeslücken schließen (BR-Drucks 300/75 S 31 zu §§ 9 und 10). Wie schon in früheren Gesetzen ist auch in Art II § 21 Abs 1 Satz 2 SGB IV der Erlaß vom 18. Februar 1942 nicht als "insbesondere außer Kraft getreten" genannt. Er ist aber auch nicht deshalb außer Kraft getreten, weil er Neuregelungen des SGB IV entgegensteht oder gleichlautende Vorschriften enthält (Art II § 21 Abs 1 Satz 2 erster Satzteil SGB IV). §§ 9 und 10 SGB IV füllen, wie bisher die §§ 153 bis 156 RVO, den § 234 Abs 1 RVO aus, regeln aber nicht selbst die örtliche Zuständigkeit der Ortskrankenkassen. Sie erfassen nicht den in dem Erlaß vom 18. Februar 1942 umschriebenen Sachverhalt. Dieser stellt weiterhin eine besondere von dem Beschäftigungsort unabhängige Zuständigkeitsregelung dar. Abgesehen davon, daß die §§ 9 und 10 SGB IV eine sachlich-rechtliche Änderung der Begriffsbestimmung des Beschäftigungsortes nicht enthalten und nicht enthalten sollten, ergibt sich aus der Neufassung nicht, daß sich damit die örtliche Zuständigkeit der Ortskrankenkassen des § 234 Abs 1 RVO nunmehr ausschließlich allein nach dem Beschäftigungsort richtet und andere Zuständigkeitsregelungen unzulässig sind. Zwar liegt dem § 234 Abs 1 RVO der Gedanke der Ortsnähe zwischen Krankenkasse und Versichertem zugrunde. Dieser Grundsatz ist aber schon im Gesetz selbst nicht ausnahmslos verwirklicht. So haben etwa Ersatzkassen einen überregionalen, zum Teil bundesweiten Zuständigkeitsbereich, und auch sogenannte gesetzliche Krankenkassen (§ 225 RVO), wie etwa die in § 234 Abs 1 erster Satzteil genannte Seekrankenkasse, besondere Orts- oder Betriebs- oder Innungskrankenkassen, knüpfen ihre Zuständigkeit nicht an den Beschäftigungsort. Die besondere Zuständigkeit für Beschäftigte von Baubetrieben mit zentraler Lohnabrechnung im Erlaß vom 18. Februar 1942 hält sich also durchaus im System der Zuständigkeitsregelungen in der gesetzlichen Krankenversicherung. Selbst in den §§ 9 und 10 SGB IV finden sich Umschreibungen fiktiver Beschäftigungsorte, die an den Sitz des Unternehmens anknüpfen (vgl etwa § 9 Abs 5 Satz 1; Abs 6 Satz 2; § 10 Absätze 1 und 2). Im übrigen erscheint es auch tatsächlich sinnvoll, wenn Beschäftigte im Baugewerbe nicht beim Wechsel von Baustelle zu Baustelle jedesmal ihre Mitgliedschaft in der Ortskrankenkasse wechseln müssen, auch wenn das nur bei einem entsprechenden Antrag des Arbeitgebers möglich ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen