Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachentrichtung von Beiträgen nach WGSVG § 10. Auswanderung von Rumänien nach Israel. Nötigungszusammenhang. Vereinsamung. Spätaussiedler. deutscher Sprach- und Kulturkreis
Orientierungssatz
Bei Spätaussiedlern iS des § 1 Abs 2 Nr 3 des Bundesvertriebenengesetzes, die als Verfolgte und Angehörige des deutschen Sprach- und Kulturkreises erst nach dem 30.9.1953 in ein nichtdeutschsprachiges Land ausgewandert sind (hier aus Rumänien nach Israel, kann ein - für die Anwendung des § 20 WGSVG zu fordernder - Zusammenhang der Auswanderung mit ihrer Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis nicht ohne weiteres unterstellt werden. Es genügt für die Annahme eines solchen Zusammenhangs uU schon die Feststellung, daß der Spätaussiedler sich nach Abwanderung seiner deutschsprachigen Bekannten und Verwandten in seiner Umgebung vereinsamt gefühlt habe, sofern die Vereinsamung das ausschlaggebende Motiv für die eigene Auswanderung gewesen ist (Fortführung von BSG 1980-11-05 11 RA 74/79 = BSGE 50, 279).
Normenkette
WGSVG § 10 Abs 1 Fassung: 1970-12-22, § 20 Fassung: 1970-12-22; BVFG § 1 Abs 2 Nr 3 Fassung: 1971-09-03
Verfahrensgang
SG Berlin (Entscheidung vom 19.01.1982; Aktenzeichen S 10 An 1911/78) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der 1959 aus Rumänien nach Israel ausgewanderte Kläger zur Beitragsnachentrichtung gemäß §§ 9, 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) berechtigt ist.
Der 1912 geborene Kläger war bis Juli 1941 in Cernowitz (Bukowina) als Tapezierer beschäftigt, danach arbeitslos und von Oktober 1941 bis März 1944 in einem Getto inhaftiert. Für die Zeit seiner Freiheitsentziehung hat er als anerkannter Verfolgter eine Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) erhalten. Von April 1944 bis zu seiner Auswanderung nach Israel im März 1959 war er zunächst wieder als Tapezierer und danach - überwiegend - als Angestellter beschäftigt.
Den Ende 1975 gestellten Antrag des Klägers, ihn zur Beitragsnachentrichtung nach §§ 9, 10 WGSVG zuzulassen, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 27. Dezember 1977 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Juli 1978 mit der Begründung ab, der Kläger sei kein Vertriebener im Sinne des § 1 des Fremdrentengesetzes (FRG). Mangels hinreichender Glaubhaftmachung seiner Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis stehe er auch nicht gemäß § 20 WGSVG einem Vertriebenen gleich.
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat mit Urteil vom 19. Januar 1982 die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte antragsgemäß verurteilt: Der Kläger sei zur Beitragsnachentrichtung nach § 10 WGSVG berechtigt. Er habe glaubhaft gemacht, daß er dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört habe, so daß die von ihm zur rumänischen und russischen Rentenversicherung entrichteten Beiträge als Beitragszeiten iS des § 15 FRG anzusehen seien. Entgegen der vom Bundessozialgericht -BSG- (BSGE 50, 279) vertretenen Ansicht sei ein Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und dem späteren Verlassen des Vertreibungsgebietes nicht erforderlich.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Sprungrevision der Beklagten. Sie hält die von der Rechtsprechung des BSG abweichende Rechtsauffassung des SG nicht für zutreffend.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. Januar 1982 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Urteil des SG ist aufzuheben. Der Rechtsstreit ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen; dabei hat der Senat von der Möglichkeit der Zurückverweisung an das Landessozialgericht (LSG) Gebrauch gemacht (§ 170 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Gemäß § 10 Abs 1 Satz 1 WGSVG steht das Recht zur Nachentrichtung von Beiträgen Verfolgten iS des BEG (vgl § 1 Abs 1 WGSVG) zu, die nach § 9 WGSVG zur Weiterversicherung berechtigt sind; das sind Verfolgte mit einer Versicherungszeit von mindestens 60 Kalendermonaten, deren rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aus Verfolgungsgründen unterbrochen oder beendet worden ist oder die bis zum Beginn der Verfolgung eine Ausfallzeit zurückgelegt haben. Da der Kläger - bisher - keine Versicherungszeiten in der deutschen Rentenversicherung zurückgelegt hat (von der von ihm ebenfalls beantragten und von der Beklagten zugelassenen Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 49a des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes -AnVNG hat er bisher offenbar keinen Gebrauch gemacht), kann das Erfordernis der Vorversicherungszeit nach § 9 Satz 1 WGSVG nur durch Zeiten, die nach den §§ 15, 16 FRG anrechenbar sind, erfüllt werden, was entweder die Anwendung des FRG unmittelbar oder über § 20 WGSVG voraussetzt. Die unmittelbare Anwendung des FRG ist hier ausgeschlossen, weil der Kläger kein anerkannter Vertriebener ist (§ 1 Buchstabe a FRG).
Nach § 20 Satz 1 WGSVG in der - ab 1. Juli 1977 geltenden und auf den vorliegenden Fall anwendbaren (vgl BSGE 50, 279, 280) - Fassung des 20. Rentenanpassungsgesetzes stehen jedoch bei Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) vertriebene Verfolgte gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Nach § 19 Abs 2 Buchst a 2. Halbsatz WGSVG, der gemäß § 20 Satz 2 WGSVG entsprechend anzuwenden ist, genügt es, soweit es auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, wenn die Verfolgten im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört haben.
Diese Sonderregelung für vertriebene Verfolgte gilt auch für Verfolgte, die Vertriebene im Sinne des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG sind; nach dieser Vorschrift gehört zu den Vertriebenen auch, wer als deutscher Volkszugehöriger nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen die in dieser Vorschrift genannten Gebiete - ua Rumänien - verlassen hat oder verläßt, es sei denn, daß er, ohne aus diesen Gebieten vertrieben und bis zum 31. März 1952 dorthin zurückgekehrt zu sein, nach dem 8. Mai 1945 einen Wohnsitz in diesen Gebieten begründet hat (Aussiedler). Als deutscher Volkszugehöriger ist dabei gemäß § 6 BVFG anzusehen, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird. An die Stelle des so umschriebenen Begriffs der deutschen Volkszugehörigkeit tritt bei vertriebenen Verfolgten nach der bereits erwähnten Sonderregelung in § 20 iVm § 19 Abs 2 Buchst a 2. Halbsatz WGSVG die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis. Ob verfolgte Aussiedler iS des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG, um die Vergünstigungen des FRG in Anspruch nehmen zu können, außer der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis, die das SG beim Kläger unangefochten festgestellt hat, noch weitere Voraussetzungen erfüllen müssen, ob insbesondere der Begriff der Aussiedlung einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Verlassen der Heimat und der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis erfordert, hängt von der Auslegung des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG und der genannten Vorschriften des WGSVG ab.
Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), das über die Anwendung des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG vor allem in Streitigkeiten über die Erteilung eines Vertriebenenausweises zu entscheiden hat, hatte früher einen solchen Zusammenhang mit Rücksicht auf den Gesetzeswortlaut (".... verlassen hat oder verläßt") nicht gefordert. Demgegenüber hat der Bundesgerichtshof (BGH) im Entschädigungsrecht, soweit dieses auf § 1 BVFG und damit auch auf dessen Absatz 2 Nr 3 verweist (so § 4 Abs 1 Nr 1 Buchst e BEG, früher auch § 150 Abs 1 BEG), stets die positive Feststellung eines Kausalzusammenhangs (Nötigungstatbestand) für erforderlich gehalten, an dessen Voraussetzungen dabei allerdings nur geringe Anforderungen gestellt (vgl die Nachweise in BSGE 50, 279, 282 f). Seit 1977 hat sich das BVerwG dieser Auffassung insofern genähert, als es nunmehr ebenfalls verlangt, daß auch Aussiedler noch von den Nachwirkungen der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen gegen die deutsche Bevölkerung betroffen gewesen sein und aus diesem Grunde die Heimat verlassen haben müssen; der fortdauernde Vertreibungsdruck, der sich vor allem in der Vereinsamung derjenigen niederschlage, die in dem von Deutschen weitgehend entvölkerten Gebiet zurückgeblieben seien, habe bei ihnen "die Funktion einer Vertreibungsmaßnahme"; eine solche fortdauernde Bedrückung könne im Regelfall unterstellt werden; wenn jedoch eindeutige Anhaltspunkte dafür vorlägen, daß der Aussiedler die Heimat aus vertreibungsfremden Gründen verlassen habe (zB aus politischen oder kriminellen Gründen oder zum Zwecke einer Familienzusammenführung), so sei diesen nachzugehen (so zuletzt Urteil vom 4. Februar 1981, Buchholz 412.3 § 1 BVFG Nr 25).
Der Senat hat in zwei Urteilen vom 16. Februar 1982 (12 RK 71/80 und 80/80) - da damals nicht streitentscheidend - offen gelassen, ob für das FRG der weniger strengen Auffassung des BVerwG zu folgen sei, also entgegen der Rechtsprechung des BGH und dem Urteil des 11. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 5. November 1980 (BSGE 50, 279) für verfolgte Aussiedler nicht die positive Feststellung eines Zusammenhangs zwischen der Aussiedlung und der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis zu fordern sei, sondern dieser in der Regel unterstellt werden könne. Die für eine solche Auffassung sprechenden und in den genannten Urteilen des Senats mehr im bejahenden Sinne erörterten Gründe erscheinen dem Senat jedoch bei nochmaliger Prüfung und bei der nunmehr erforderlichen Entscheidung der Frage nicht als so zwingend, daß sie ein Abweichen von der Rechtsprechung des BGH und des 11. Senats des BSG rechtfertigen. Der Senat hat dabei vor allem berücksichtigt, daß es in den vom BVerwG entschiedenen Fällen (vgl auch BVerwGE 52, 167 und 55, 40) um die Ausstellung eines Vertriebenenausweises für Verfolgte ging, die ihren Wohnsitz in die Bundesrepublik Deutschland verlegt, sich also in den Kernbereich des deutschen Sprach- und Kulturkreises begeben hatten. Daß in Fällen dieser Art die Umsiedlung mit der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis ursächlich zusammenhängt, liegt so nahe, daß es gerechtfertigt erscheint, hier den Zusammenhang mit dem BVerwG im Regelfall zu unterstellen und nur dann eine Ausnahme zu machen, wenn eindeutige Anhaltspunkte für anderweitige Gründe der Umsiedlung nach Deutschland ersichtlich sind. Ist der Verfolgte dagegen nach Israel oder in ein anderes nicht-deutschsprachiges Land ausgewandert, so kann nicht ohne weiteres vermutet werden, daß die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis (auch in der Form der Vereinsamung oder des Unbehagens in der nicht mehr deutschsprachigen Umgebung) die wesentliche Ursache für die Auswanderung war. Ähnliches muß nach Auffassung des Senats auch für volksdeutsche Spätaussiedler, die in ein nicht-deutschsprachiges Land auswandern, hinsichtlich des Zusammenhanges der Auswanderung mit ihrer deutschen Volkszugehörigkeit gelten, so daß eine - vom Kläger geltend gemachte - "Diskriminierung" der vertriebenen Verfolgten gegenüber diesem Personenkreis nicht vorliegt.
Der Senat teilt im Ergebnis auch nicht die weiteren Bedenken, die vor allem das SG gegen das genannte Urteil des 11. Senats des BSG erhoben hat. Richtig ist allerdings, daß, wie gerade dieser Senat entschieden hat, ein vertriebener Verfolgter iS von § 20 WGSVG dem deutschen Sprach- und Kulturkreis beim Verlassen des Vertreibungsgebiets nicht mehr anzugehören braucht, wenn er sich wegen der Verfolgungsmaßnahmen vom deutschen Volkstum abgewandt hatte (SozR 5070 § 20 WGSVG Nr 2). Daß in einem solchen Falle ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer - nicht (mehr) bestehenden - Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und der Auswanderung nicht gefordert werden kann, ist klar. Ob deshalb insoweit auf die Prüfung der Zusammenhangsfrage zu verzichten ist oder ob, wie der 11. Senat in dem erwähnten Urteil erwogen hat, bei eindeutigen Anhaltspunkten für das Vorliegen von vertreibungsfremden Gründen für die Auswanderung diesen nachzugehen ist (aaO S 6), läßt der Senat unentschieden; denn im Falle des Klägers ist nichts für dessen verfolgungsbedingte Abwendung vom deutschen Sprach- und Kulturkreis ersichtlich, der Kläger hat im Gegenteil seine Zugehörigkeit zu diesem Kreis stets behauptet, das SG hat sie auch festgestellt.
Läßt sich - wie häufig - nicht ausschließen, daß der Auswanderung mehrere Motive zugrundeliegen, so würde es der Lebenserfahrung widersprechen, denjenigen Gründen, die mit der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis nichts zu tun haben (vertreibungsfremde Gründe), gegenüber möglichen anderen - vertreibungsbedingten - Gründen von vornherein ein geringeres Gewicht zuzubilligen, diese anderen Gründe also im Zweifel als ausschlaggebend anzusehen, zumal wenn der Verfolgte nach dem Ende der Verfolgung noch jahrzehntelang in seinem Heimatland verblieben war; deshalb kann in diesen Fällen ohne Verletzung des im Sozialgerichtsverfahren geltenden Ermittlungsprinzips auf die Feststellung etwaiger von der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis unabhängiger Gründe für die Auswanderung nicht verzichtet werden. Insoweit ist allerdings zu berücksichtigen, daß es für den Nachweis der rechtserheblichen Tatsachen lediglich der Glaubhaftmachung bedarf (§ 3 Abs 1 WGSVG). Welchen Umständen dabei im vorliegenden Fall nach Feststellung aller erheblichen Tatsachen, zu denen auch eine vom Kläger behauptete Vereinsamung in einer nicht-deutschsprachigen Umgebung gehört (vgl BGH in RzW 1978, 174, 175 mwN), die wesentliche ursächliche Bedeutung zukommt, wird noch vom LSG in freier Beweiswürdigung abzuwägen sein.
Da die tatsächlichen Feststellungen des LSG für eine abschließende Entscheidung durch das Revisionsgericht nicht ausreichen, ist der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen worden, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mitzuentscheiden haben wird.
Fundstellen