Leitsatz (amtlich)

Wenn Tenor und Gründe des angefochtenen Urteil sich wesentlich widersprechen, so liegt ein Verstoß gegen SGG § 128 vor.

 

Normenkette

SGG § 128 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 2. Juni 1959 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Durch Bescheid vom 30. November 1950 bewilligte die Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein - Außenstelle Heide - dem Kläger wegen

1) Herzmuskelschädigung nach Typhus und Dystrophie,

2) geringer Durchblutungsstörung der linken Hand,

3) bedeutungsloser Narben am linken Unterschenkel und Nacken,

4) geringer Brustfellschwarte links

Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H.; die Leiden wurden auf Schädigungen zurückgeführt, die der Kläger in russischer Gefangenschaft in den Jahren 1945/50 erlitten hatte. In dem Bescheid vom 10. März 1951 (Umanerkennung) wurde ohne ärztliche Nachuntersuchung diese Leidensbezeichnung übernommen und auch nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) Rente nach einer MdE um 30 v.H. weiterbewilligt. Nach einer Nachuntersuchung im März 1953 stellte das Versorgungsamt Heide durch Bescheid vom 18. Mai 1953 "unter Wegfall der bisherigen Bezeichnung" als Schädigungsfolgen fest,

1) abklingender Eiweißmangelschaden,

2) geringe Zwerchfellverwachsung links;

die Rente wurde weiterhin nach einer MdE um 30 v.H. gewährt; in dem Bescheid heißt es, klinisch und röntgenologisch sowie im EKG seien eine Herzmuskelschädigung und eine Durchblutungsstörung der linken Hand nicht mehr feststellbar; diesen Bescheid focht der Kläger nicht an. Durch Bescheid vom 2. Juni 1954 entzog das Versorgungsamt auf Grund verschiedener ärztlicher Gutachten nach § 62 Abs. 1 BVG mit Ende Juli 1954 die Rente, da Schädigungsfolge nur noch die "geringe Zwerchfellverwachsung links" sei; Zeichen eines Eiweißmangelschaden und seiner Folgen seien nicht mehr vorhanden; die jetzt bestehende "generalisierte Fettsucht" sei keine Schädigungsfolge. Den Widerspruch wies das Landesversorgungsamt am 11. Januar 1955 zurück. Auf die Klage erließ das Sozialgericht (SG) Schleswig am 24. Mai 1957 folgendes Urteil:

1) Der Widerspruchsbescheid vom 11. Januar 1955 wird aufgehoben und der Bescheid des Versorgungsamts Heide vom 2. Juni 1954 wird geändert.

2) Die Beklagte wird verurteilt, weiterhin "bedeutungslose Narben linker Unterschenkel und Nacken" und zusätzlich "Fettsucht" als Schädigungsfolge im Sinne des § 1 BVG anzuerkennen und dem Kläger über den 31. Juli 1954 hinaus Rente nach einer MdE von 30 v.H. zu zahlen.

Gegen dieses Urteil legte der Beklagte Berufung ein. Das Landessozialgericht (LSG) Schleswig erließ am 2. Juni 1959 folgendes Urteil:

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil der 14. Kammer des SG Schleswig vom 24. Mai 1957 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Anerkennung der Fettsucht als Schädigungsfolge im Sinne des BVG entfällt. Insoweit wird die Klage abgewiesen.

Es führte aus, mit der Leidensbezeichnung "abklingender Eiweißmangelschaden" in dem Bescheid vom 18. Mai 1953 sei nicht auch die "Fettsucht" rechtsverbindlich anerkannt worden, es sei nach den ärztlichen Gutachten auch nicht wahrscheinlich, daß die Fettsucht Schädigungsfolge sei, sie habe eine endogene Ursache und hänge nicht mit dem Typhus oder anderen Erkrankungen während der Gefangenschaft zusammen. Die Entziehung der Rente in dem Bescheid vom 2. Juni 1954 sei jedoch nicht gerechtfertigt; eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen, die nach der Untersuchung im März 1953 zur "Anerkennung" des "abklingenden Eiweißmangelschadens" in dem Bescheid vom 18. Mai 1953 geführt haben, sei bei Vergleich mit den Befunden der Nachuntersuchung im Mai 1954, die dem angefochtenen Bescheid zugrunde liege, nicht eingetreten; auch bei den übrigen als Schädigungsfolgen in Betracht kommenden Gesundheitsstörungen habe sich nichts geändert. Das Urteil wurde dem Beklagten am 21. August 1959 zugestellt.

Am 19. September 1959 legte der Beklagte Revision ein. Er beantragte,

das Urteil des LSG Schleswig vom 2. Juni 1959 abzuändern, soweit die Berufung der Beklagten zurückgewiesen wurde, das Urteil des SG Schleswig vom 24. Mai 1957 in vollem Umfange aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Am 24. September 1959 begründete der Beklagte die Revision: Das LSG habe gegen § 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verstoßen. Nach dem Tenor des Urteils des LSG habe es - neben der Nichtanerkennung der Fettsucht als Schädigungsfolge - dabei bleiben sollen, daß der "abklingende Eiweißmangelschaden" zu Recht in dem Bescheid vom 2. Juni 1954 nicht mehr als Schädigungsfolge anerkannt werde; das LSG habe aber in den Gründen ausgeführt, daß in diesem "abklingenden Eiweißmangelschaden" eine Besserung nicht eingetreten und deshalb der Bescheid vom 2. Juni 1954 rechtswidrig sei, insofern stimmten der Urteilstenor und die Gründe nicht überein. Wenn aber nach dem Urteilstenor nur noch "geringe Zwerchfellverwachsung links" und "bedeutungslose Narben am linken Unterschenkel und Nacken" Schädigungsfolge seien, sei eine MdE um 30 v.H. und die Gewährung der Rente über den 31. Juli 1954 hinaus nicht zu rechtfertigen; das LSG habe zu Unrecht darauf abgehoben, daß auch die Befunde, die im März 1953 noch einen geringen Eiweißmangelschaden ergeben haben, sich bis zu dem Gutachten vom Mai 1954, auf das der angefochtene Bescheid sich stütze, nicht geändert haben, es habe zu Unrecht die Gutachten aus der Zeit vom November 1954 bis April 1959 außer acht gelassen; da der Kläger eine "kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage" erhoben habe, sei es für die Frage, ob eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen gegenüber dem Bescheid vom 18. Mai 1953 eingetreten sei, auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des LSG angekommen; das LSG hätte aus den späteren Gutachten ersehen müssen, daß schon Ende 1954 oder spätestens im Jahre 1956 alle Reste eines Eiweißmangelschadens abgeklungen seien. Das LSG habe auch nicht nur auf die Verhältnisse, die dem Bescheid vom 18. Mai 1953 zugrunde gelegen haben, abheben dürfen; für die Frage, ob eine Änderung in den Verhältnissen (§ 62 BVG) eingetreten sei, sei es auf den "Umanerkennungsbescheid" vom 10. März 1951 angekommen, das LSG habe daher die diesem Bescheid zugrunde liegenden Befunde mit den Befunden der späteren Gutachten vergleichen müssen, auch insoweit habe es die Beweise unzutreffend gewürdigt.

Am 9. Januar 1960 rügte der Beklagte noch, das LSG sei in der Sitzung am 2. Juni 1959 nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, der erkennende Senat des LSG tage seit 1956 mit häufig wechselnder Besetzung und unter wechselndem Vorsitzenden; damit sei die Stetigkeit der Rechtsprechung nicht gewährleistet, dieser Verfahrensmangel sei von Amts wegen zu berücksichtigen.

Der Kläger beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist statthaft, der Beklagte rügt zu Recht, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).

Zwar greift die Rüge, das LSG sei am 2. Juni 1959 nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, schon deshalb nicht durch, weil sie der Beklagte erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist (§ 164 SGG) geltend gemacht hat; von Amts wegen hat der Senat bei einer nicht zugelassenen Revision/nicht zu prüfen, ob das LSG vorschriftsmäßig besetzt gewesen ist (BSG 14, 298 ff). Die Revision ist auch nicht etwa deshalb statthaft, weil das LSG für die Frage, ob eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen gegenüber dem Bescheid vom 18. Mai 1953 eingetreten und der Bescheid vom 2. Juni 1954 deshalb rechtmäßig ist, nicht die Gutachten berücksichtigt hat, die nach dem Bescheid vom 2. Juni 1954 erstattet worden sind; wenn das LSG § 62 BVG unrichtig angewandt hat, so hat es gegen materielles Recht verstoßen, auf die unrichtige Anwendung materiellen Rechts kann aber die Statthaftigkeit der Revision, wenn die Revision nicht zugelassen ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und auch der Fall des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG nicht vorliegt, nicht gestützt werden; soweit das LSG Tatsachen, auf die es möglicherweise für die Frage, ob und von wann an die Voraussetzungen des § 62 BVG vorliegen, angekommen ist, nicht vollständig ermittelt und den Sachverhalt nicht erschöpfend gewürdigt hat, ist dies für die Frage, ob das Verfahren des LSG an einem Mangel leidet, im vorliegenden Fall deshalb unerheblich, weil das LSG materiell-rechtlich der Meinung gewesen ist, es komme für die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 2. Juni 1954 allein auf die Sach- und Rechtslage bei Erlaß dieses Bescheids an; von diesem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus hat es aber die Gutachten, die nach Erlaß des Bescheids ergangen sind, für seine Entscheidung nicht verwerten dürfen; es kommt für die Frage, ob das Verfahren des LSG an einem Mangel leidet, allein auf den sachlich-rechtlichen Standpunkt des LSG an (BSG 2, 84 ff).

Die Revision ist aber statthaft, weil der Beklage zu Recht rügt, daß Tenor und Gründe des angefochtenen Urteils sich wesentlich widersprechen; das LSG hat insoweit das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht "sachentsprechend" gewürdigt und damit gegen § 128 SGG verstoßen. Angefochten ist der Bescheid vom 2. Juni 1954, mit diesem Bescheid hat der Beklagte den Bescheid vom 18. Mai 1953 für die Zukunft insoweit zurückgenommen, als in diesem Bescheid der "abklingende Eiweißmangelschaden" als Schädigungsfolge festgestellt und Rente nach einer MdE um 30 v.H. bewilligt worden ist. Das SG hat auf die Klage den angefochtenen Bescheid "abgeändert"; es hat den Beklagten verurteilt, weiterhin - wie in dem Bescheid vom 10. März 1951 - "bedeutungslose Narben am linken Unterschenkel und Nacken" und zusätzlich eine "cerebrale Fettsucht" als Schädigungsfolge festzustellen und Rente nach einer MdE um insgesamt 30 v.H. weiter zu gewähren; dem Antrag des Klägers, den Widerspruchsbescheid vom 11. Januar 1955 aufzuheben und den Bescheid vom 2. Juni 1954 abzuändern, hat das SG insoweit nicht entsprochen, als in diesem Bescheid der "abklingende Eiweißmangelschaden" nicht mehr als Schädigungsfolge enthalten gewesen ist; insoweit hat es die Klage abgewiesen; dies steht zwar nicht ausdrücklich im Tenor des Urteils des SG, in den Gründen des Urteils ist aber ausgeführt, die Schädigungsfolge, die damals - in dem Bescheid vom 18. Mai 1953 - wegen verschiedener Symptome als "abklingender Eiweißmangelschaden" anerkannt worden sei, sei "nun auch weggefallen", nach der Untersuchung in der Medizinischen Universitätsklinik Kiel im März 1956 seien Dystrophiefolgen nicht mehr vorhanden, deshalb sei "die weitere Anerkennung als Schädigungsfolge ... mit Recht in den nachfolgenden Bescheiden (in dem angefochtenen Bescheid vom 2. Juni 1954 und dem Widerspruchsbescheid) entfallen"; das LSG hat deshalb auch im Urteilstenor - neben der unstreitigen Zwerchfellverwachsung links - nur die Narben und die Fettsucht als Schädigungsfolgen bezeichnet. Da der Kläger das Urteil des SG nicht angefochten hat, ist damit rechtskräftig festgestellt, daß der Bescheid vom 2. Juni 1954 nicht rechtswidrig ist, soweit darin die Anerkennung des "abklingenden Eiweißmangelschadens" zurückgenommen worden ist. Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG im Tenor seines Urteils "die Klage abgewiesen", soweit nach dem Urteil des SG "zusätzlich Fettsucht" als Schädigungsfolge festgestellt worden ist, im übrigen hat das LSG die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Nach dem Tenor des Urteils des LSG sind somit der Bescheid des Beklagten vom 2. Juni 1954 und das Urteil des SG dahin abgeändert worden, daß neben der "Zwerchfellverwachsung links" nur noch "bedeutungslose Narben am linken Unterschenkel und Nacken" als Schädigungsfolgen festgestellt sind; das LSG hat in den Urteilsgründen (2. Absatz der Entscheidungsgründe) auch zunächst zutreffend ausgeführt, der Beklagte wende sich mit der Berufung - nur - dagegen, daß das SG ihn verurteilt habe, die Fettsucht als Schädigungsfolge anzuerkennen und Rente zu gewähren. Im Widerspruch zum Urteilstenor hat das LSG dann aber weiter ausgeführt, der Bescheid vom 2. Juni 1954 sei deshalb rechtswidrig, weil in dem "abklingenden Eiweißmangelschaden" - und in der Zwerchfellverwachsung links - eine Besserung seit dem Bescheid vom 18. Mai 1953 nicht eingetreten sei, auch die Entziehung der Rente in dem angefochtenen Bescheid hat es nur deshalb für rechtswidrig gehalten. Dieser rechtliche Gesichtspunkt hat aber für das Urteil des LSG nicht erheblich sein können, denn die Frage, ob der "abklingende Eiweißmangelschaden" Schädigungsfolge sei, ist nicht mehr Gegenstand des Berufungsverfahrens gewesen; das LSG hat insoweit das Ergebnis des Verfahrens, wie es sich nach dem Urteil des SG, dem Vorbringen der Beteiligten im Berufungsverfahren und den weiteren Ermittlungen dargestellt hat, verkannt und damit die Grenzen seines Rechts, das Gesamtergebnis des Verfahrens frei zu würdigen, überschritten. Der Beklagte hat diesen Mangel zu Recht gerügt; die Revision, die er in gehöriger Form und Frist eingelegt hat, ist sonach zulässig.

Die Revision ist auch begründet. Das LSG hat die Berufung des Beklagten nicht deshalb zurückweisen dürfen, weil in dem "abklingenden Eiweißmangelschaden" eine Besserung nicht eingetreten sei. Das Urteil des LSG ist deshalb aufzuheben. Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden. Zwar kommt es - entgegen den Ausführungen des Beklagten in der Revisionsbegründung - für die Rechtsmäßigkeit des Bescheids vom 2. Juni 1954 und damit für die Frage, ob die Berufung begründet ist, nicht mehr darauf an, ob der "abklingende Eiweißmangelschaden" sich seit Erlaß des Bescheides vom 18. Mai 1953 gebessert habe; dies hat das SG bejaht und der Kläger hat gegen das Urteil des SG nicht Berufung eingelegt; insoweit ist das Urteil des SG rechtskräftig geworden. Das LSG hat allein noch darüber zu entscheiden gehabt, ob die Fettsucht weitere Schädigungsfolgen ist und ob wegen dieses Leidens, wegen der "Zwerchfellverwachsung links" und wegen der "bedeutungslosen Narben am linken Unterschenkel und Nacken" ein Anspruch auf Rente nach einer MdE um 30 v.H. gerechtfertigt ist; das LSG hat zwar verneint, daß die Fettsucht Schädigungsfolge sei, diese Feststellung ist auch für das Bundessozialgericht bindend (§ 163 SGG), das LSG hat aber keine Feststellungen darüber getroffen, ob Rente nach einer MdE um 30 v.H. vom 1. August 1954 an auch dann gerechtfertigt ist, wenn nur noch die Zwerchfellverwachsung und die bedeutungslosen Narben Schädigungsfolgen sind. Die Sache ist deshalb zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2277247

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