Leitsatz (redaktionell)
Ähnlich wie die KÄV eine fehlende oder mangelhafte Begründung des Honorarbescheides noch im gerichtlichen Verfahren "nachschieben" darf (vergleiche BSG 1962-05-29 6 RKa 24/59 = BSGE 17, 79, 83 f), hat auch der betroffene Arzt grundsätzlich das Recht, für ihn günstige Tatsachen bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung des Berufungsgerichts vorzubringen (vgl ZPO § 278 Abs 1).
Das LSG darf den Antrag des Klägers, ihm Gelegenheit zur Einzelbegründung seiner Honorarforderungen zu geben, nicht deswegen ablehnen, weil der Kläger im Verwaltungsverfahren versäumt habe, die Berechtigung seiner Honorarforderungen im einzelnen darzutun.
Normenkette
SGG § 62 Fassung: 1953-09-05, § 202 Fassung: 1953-09-05; ZPO § 278 Abs. 1 Fassung: 1950-09-12
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 10. Juni 1965 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Kläger, der in W als Röntgenfacharzt niedergelassen und zur Kassenpraxis (mit Ersatzkassen) zugelassen ist, wendet sich gegen Honorarkürzungen in mehreren Abrechnungsvierteljahren (IV/1958 bis II/1960).
Die Prüfungsinstanzen der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) beanstandeten vor allem, daß der Kläger bei Magenuntersuchungen fast nur zwei oder drei Durchleuchtungen mit drei oder mehr Filmaufnahmen abgerechnet habe, ohne Rücksicht auf die Besonderheiten des einzelnen Falles; diese Abrechnungsweise stehe in krassem Gegensatz zu der aller übrigen unterfränkischen Röntgenologen und könne nicht als wirtschaftlich angesehen werden (Entscheidung des Beschwerdeausschusses für die RVO-Kassenpraxis vom 16. November 1960, mit der Entscheidungen des Prüfungsausschusses vom 14. September und 27. September 1960 bestätigt wurden). Ähnliche Beanstandungen erhoben die Prüfungsinstanzen auch für die Ersatzkassenpraxis des Klägers (Entscheidungen des Prüfungsausschusses vom 14. und 30. September 1960 sowie des Beschwerdeausschusses vom 16. November 1960). Der Kläger hatte gegen die Honorarkürzungen durch den Prüfungsausschuß - bei den RVO-Kassen über 7000,- DM, bei den Ersatzkassen über 700,- DM - eingewandt, sie widersprächen den Erkenntnissen, die im röntgenologischen Fachschrifttum der letzten dreißig Jahre niedergelegt seien; würde er sich bei (Krebs-) Ausschlußuntersuchungen auf die von der KÄV vorgeschriebenen Filmzahlen beschränken, würde er einen ärztlichen Kunstfehler begehen.
Die - im wesentlichen mit derselben Begründung erhobene - Klage wurde vom Sozialgericht (SG) München abgewiesen (Urteil vom 15. Juni 1961). Auch die Berufung des Klägers blieb erfolglos. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) führte im Urteil vom 10. Juni 1965 aus, der Kläger habe in den streitigen Quartalen bei Magenuntersuchungen die Vergleichszahlen seiner Arztgruppe um etwa 60 % bei den RVO-Kassen und um etwas mehr als 40 % bei den Ersatzkassen überschritten. Dieses "offensichtliche Mißverhältnis" lasse sich nicht durch Besonderheiten der Praxis des Klägers erklären, sondern beruhe auf der - vom LSG nicht auf ihre Richtigkeit zu prüfenden - ärztlichen Auffassung des Klägers, nur bei seiner umfangreichen Röntgendiagnostik sei die Versorgung der Patienten gewährleistet, würde er die Röntgenuntersuchungen oder auch Nachbestrahlungen bei Krebs einschränken, würde er sich eines ärztlichen Kunstfehlers schuldig machen. Eine sachliche, aus dem Einzelfall sich ergebende Begründung für seine Behandlungsweise habe der Kläger bislang nicht gegeben. Seinem Antrag, ihm Gelegenheit zum Nachweis von Einzelfällen zu geben, sei nicht zu entsprechen, weil er gegenüber den Prüfungsinstanzen versäumt habe, in Einzelfällen die Berechtigung seiner Honorarforderungen darzutun.
Der Kläger rügt mit der - vom LSG nicht zugelassenen - Revision vor allem, das LSG habe zu Unrecht den von ihm benannten Sachverständigen Dr. E nicht zu der entscheidenden Frage vernommen, ob seine Untersuchungsmaßnahmen nach der ärztlichen Berufspflicht notwendig gewesen seien; dieser Gutachter hätte für mindestens 90 % aller Kürzungen die Einzelbegründung gegeben. Im übrigen hätte er, der Kläger, zu den Kürzungen nur anhand der Überweisungsscheine näher Stellung nehmen können, die erbetene Akteneinsicht sei ihm aber bisher insoweit nicht gewährt worden. Er sei deshalb in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG nicht in der Lage gewesen, "die vom LSG gewünschten sofortigen Einzelbeweise vorzulegen", und habe deswegen um Vertagung gebeten. Diesem Antrag sei nicht entsprochen worden, so daß er nicht die Möglichkeit gehabt habe, "Einzelbeweise zu führen". Der Kläger beantragt,
die Urteile des Bayerischen LSG vom 10. Juni 1965 und des SG München vom 15. Juni 1961 aufzuheben und die Beklagte entsprechend den Klageanträgen zu verurteilen.
Die beklagte KÄV und der beigeladene Verband der Angestellten-Krankenkassen e. V. beantragen,
die Revision des Klägers als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beklagte meint, das LSG habe von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus keinen Anlaß gehabt, einen Sachverständigen zu hören; im übrigen habe der Kläger im Verwaltungsverfahren weitgehend unterlassen, seiner Mitwirkungspflicht zu genügen. Der Beigeladene ist der Ansicht, die Rügen des Klägers entsprächen nicht den formellen Erfordernissen des § 164 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
II
Die Revision des Klägers ist trotz Nichtzulassung durch das LSG statthaft. Wie er - mit einer den Vorschriften des § 164 Abs. 2 SGG genügenden Begründung - zutreffend rügt, leidet das Verfahren des Berufungsgerichts insofern an einem wesentlichen Mangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, als das LSG seinen Antrag, ihm durch Vertagung des Rechtsstreits "Gelegenheit zum Nachweis von Einzelfällen zu geben", aus rechtsirrtümlichen Erwägungen abgelehnt hat. Die Begründung des LSG, der Kläger habe gegenüber den Prüfungsinstanzen versäumt, in Einzelfällen die Berechtigung seiner Honorarforderungen darzutun, rechtfertigt die Ablehnung des Antrags nicht.
Der Arzt, dessen Honorarabrechnung überprüft wird, hat allerdings, wie im Urteil des Senats vom 27. November 1959 (BSG 11, 102) näher ausgeführt ist, schon im Verwaltungsverfahren eine Mitwirkungspflicht in dem Sinne, daß er auf solche Besonderheiten seiner Praxis hinweisen muß, die nicht aus den Abrechnungsunterlagen ersichtlich oder sonst erkennbar sind und die eine Abweichung von den Prüfrichtzahlen rechtfertigen können. Das bedeutet, daß die Prüfungsinstanzen mangels diesbezüglicher Hinweise des Arztes etwaigen Besonderheiten seiner Praxis in der Regel nicht von sich aus nachzugehen brauchen, sondern bei ihrer Entscheidung davon ausgehen können, daß solche Besonderheiten nicht vorliegen. Insoweit ist also die Verantwortung für die Aufklärung der für die Honorarprüfung maßgebenden Umstände zwischen den Beteiligten - den Prüfungsinstanzen und dem zu prüfenden Arzt - in der Tat geteilt (BSG aaO 115 f). Entsprechendes gilt grundsätzlich für das sozialgerichtliche Verfahren. Damit ist den Gerichten indessen nicht die Befugnis verliehen, einen Arzt, der im Verwaltungsverfahren versäumt hat, auf Besonderheiten seiner Praxis oder der zu prüfenden Fälle hinzuweisen, dies aber im Gerichtsverfahren nachholen will, davon auszuschließen. Ähnlich wie die KÄV eine fehlende oder mangelhafte Begründung des Honorarbescheides noch im gerichtlichen Verfahren "nachschieben" darf (BSG 17, 79, 83 f), hat auch der betroffene Arzt grundsätzlich das Recht, für ihn günstige Tatsachen bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung des Berufungsgerichts vorzubringen (vgl. § 278 Abs. 1 ZPO). Verursacht er durch eine solche Prozeßführung den anderen Beteiligten sonst nicht entstandene Kosten, können ihm diese unter den Voraussetzungen des § 192 SGG (Mutwillen, Verschleppung, Irreführung) ganz oder teilweise auferlegt werden (vgl. § 278 Abs. 2 ZPO).
Ob ausnahmsweise auch im sozialgerichtlichen Verfahren nachträglich vorgebrachte Angriffs- oder Verteidigungsmittel zurückgewiesen werden dürfen, wenn durch ihre Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und sie nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, den Prozeß zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden sind (vgl. § 279 Abs. 1 ZPO und § 109 Abs. 2 SGG), kann hier unentschieden bleiben. Das LSG hat den Antrag des Klägers, ihm Gelegenheit zur Einzelbegründung seiner Honorarforderungen zu geben, nicht deswegen abgelehnt, weil es insoweit Verschleppungsabsicht oder grobe Nachlässigkeit des Klägers angenommen hat; es hat dazu auch keine - vom Revisionsgericht nachprüfbaren - Tatsachen festgestellt (vgl. SozR SGG § 109 Nr. 29 sowie Nr. 19, 24 u. 27). Das LSG hat vielmehr die Ablehnung damit begründet, daß der Kläger im Verwaltungsverfahren versäumt habe, die Berechtigung seiner Honorarforderungen im einzelnen darzutun. Mit dieser Begründung durfte der Antrag des Klägers jedoch nicht abgelehnt werden, so daß das Verfahren des LSG an einem wesentlichen Mangel leidet, der die Revision statthaft macht. Da nicht auszuschließen ist, daß das LSG bei Vermeidung des Verfahrensfehlers dem Vertagungsantrag des Klägers entsprochen und ihm dadurch Gelegenheit zur Nachholung einer Einzelbegründung gegeben hätte und nach deren Prüfung zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, ist die Revision auch begründet und das angefochtene Urteil aufzuheben.
In der Sache selbst kann der Senat nicht entscheiden, weil die erforderlichen Tatsachenfeststellungen fehlen. Das LSG wird zu prüfen haben, ob die ärztliche Auffassung des Klägers richtig ist, daß nur bei seiner umfangreichen Röntgendiagnostik die Versorgung der Patienten gewährleistet sei und daß er sich eines ärztlichen Kunstfehlers schuldig machen würde, wenn er die Röntgenuntersuchungen oder Nachbestrahlungen bei Krebs einschränken würde. Sollte diese Auffassung tatsächlich zutreffen, der Kläger also durch Einschränkung seiner Untersuchungs- oder Behandlungsmaßnahmen einen ärztlichen Kunstfehler begehen, so müßten ihm selbstverständlich alle von ihm abgerechneten Leistungen ohne Rücksicht darauf, ob und in welcher Höhe sie die Prüfrichtzahlen überschreiten, ungekürzt vergütet werden. Denn die Versicherten haben einen Anspruch auf alle nach den Regeln der ärztlichen Kunst notwendigen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen (§§ 182 Abs. 2, 368 e RVO). Das LSG wird deshalb, soweit es nicht selbst die erforderliche Sachkunde besitzt (vgl. § 244 Abs. 4 StPO), über die genannte Frage Beweis erheben müssen. Außerdem wird es, sofern nicht ausnahmsweise ein Zurückweisungsgrund vorliegt, das vom Kläger zur Einzelbegründung seiner Honorarforderungen angekündigte Vorbringen würdigen müssen. Um dem Berufungsgericht hierzu die Möglichkeit zu geben, hat der Senat den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das LSG zurückverwiesen.
Fundstellen