Orientierungssatz
Die KK hat einem Rentner die Kosten für Beinprothesen in Höhe des satzungsmäßigen Zuschusses für Hilfsmittel (RVO § 187 Nr 3) zu ersetzen. Wie der Senat schon im Urteil vom 1971-12-15 (3 RK 35/70) entschieden hat, darf Rentnern die Gewährung eines Zuschusses für Hilfsmittel nicht deshalb versagt werden, weil bei ihnen das Hilfsmittel nicht mehr dazu dient, ?die Arbeitsfähigkeit herzustellen oder zu erhalten" (RVO § 187 Nr 3). Nach der Eingliederung der Rentner in die gesetzliche Krankenversicherung als deren "vollwertige Mitglieder" muß es bei der gebotenen sinngemäßen Anwendung der genannten Vorschrift auf sie genügen, daß ihnen das Hilfsmittel die Teilnahme am Leben der Gemeinschaft ermöglicht oder erleichtert (vgl BSHG § 39 Abs 3).
Normenkette
RVO § 187 Nr. 3 Fassung: 1924-12-15; BSHG § 39 Abs. 3
Tenor
Auf die Sprungrevision des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 26. Februar 1970 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für die von ihm übernommenen Kosten zweier Kunstbeine Ersatz in Höhe des satzungsgemäßen Zuschusses für Hilfsmittel zu gewähren.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die beklagte Krankenkasse verweigerte einem bei ihr versicherten Rentner, dem 1957 der linke Unterschenkel und 1968 das rechte Bein im Oberschenkel amputiert worden war, die Gewährung von Zuschüssen zur Beschaffung einer Oberschenkelprothese und zur Reparatur der Unterschenkelprothese, weil der Versicherte wegen seiner doppelseitigen Amputation dauernd arbeitsunfähig und darüber hinaus pflegebedürftig sei; Zuschüsse für Hilfsmittel könnten nach der Kassensatzung nur zur Herstellung oder Erhaltung der Arbeitsfähigkeit gewährt werden (Bescheid vom 24.2.1969). Daraufhin übernahm der klagende Landeswohlfahrtsverband die für die Beschaffung bzw. Reparatur der Prothesen erforderlichen Kosten, meldete jedoch im Mai und Juni 1969 seinen Ersatzanspruch bei der Beklagten an. Das Sozialgericht (SG) hat die - nach Ablehnung des Ersatzanspruchs erhobene - Klage abgewiesen: Nach § 187 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) dürften Hilfsmittel nur zur Wiederherstellung oder Erhaltung der Arbeitsfähigkeit gewährt werden; nicht mehr arbeitsfähige und arbeitswillige Rentner wie der Kläger seien deshalb nicht anspruchsberechtigt (Urteil vom 26.2.1970, gegen das die Berufung zugelassen worden ist).
Der Kläger hat mit Einwilligung der Beklagten Sprungrevision eingelegt und geltend gemacht, auch die Vorschrift über die Gewährung von Hilfsmitteln sei entsprechend der gewandelten Auffassung über die Aufgaben der sozialen Krankenversicherung auszulegen; die Krankenversicherung habe nicht nur der Volkswirtschaft Arbeitskräfte zu erhalten, sondern diene in erster Linie der Betreuung der Versicherten im Krankheitsfall, selbst wenn, wie bei Rentnern, eine Eingliederung in das Arbeitsleben nicht mehr möglich sei. Auch erwerbsunfähige Rentner sollten nach dem Willen des Gesetzgebers vollen Versicherungsschutz genießen, was nicht der Fall wäre, wenn sie von der Versorgung mit Hilfsmitteln ausgeschlossen blieben. Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte zum Ersatz der Kosten zweier Kunstbeine in Höhe des satzungsgemäßen Zuschusses für Hilfsmittel zu verurteilen.
Die Beklagte ist der Revision mit eingehenden Ausführungen entgegengetreten und hat an ihrer Ansicht auch festgehalten, nachdem der Senat mit Urteil vom 15. Dezember 1971 den Anspruch einer Altersrentnerin auf einen Zuschuß zur Beschaffung eines Hörgerätes als begründet anerkannt hat: Jener Fall unterscheide sich, so meint die Beklagte, von dem vorliegenden dadurch, daß hier der Versicherte durch die Prothesen weder in seinem Lebensbereich irgendwie arbeitsfähig gemacht noch seine Pflegebedürftigkeit beseitigt werde. Die Beklagte beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
II
Die Sprungrevision des Klägers ist begründet. Er kann nach §§ 1531, 1533 Nr. 3 Satz 1 RVO Ersatz der von ihm übernommenen Kosten für die Beschaffung bzw. Reparatur zweier Prothesen in Höhe des satzungsgemäßen Zuschusses der Beklagten für Hilfsmittel verlangen; denn der versicherte Rentner hatte selbst einen solchen Anspruch gegen die Beklagte.
Die Beklagte gewährt - entsprechend der gesetzlichen Ermächtigung in § 187 Nr. 3 RVO - ihren Mitgliedern als Mehrleistung Hilfsmittel gegen Verunstaltung und Verkrüppelung, die nach beendigtem Heilverfahren nötig sind, um die Arbeitsfähigkeit herzustellen oder zu erhalten. Zu den Hilfsmitteln in diesem Sinne gehören auch Prothesen. Das gilt jedenfalls dann, wenn sie nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Heilbehandlung stehen vgl. den in BSG 30, 151 entschiedenen Fall), sondern - wie hier - nach Abschluß der Behandlung beschafft werden und dem Ersatz fehlender oder in ihrer Funktion beeinträchtigter Körperorgane dienen (so für Hörgeräte das schon genannte Urteil des Senats vom 15.12.1965, 3 RK 35/70).
In diesem Urteil hat der Senat ferner entschieden, daß Hilfsmittel auch nicht mehr erwerbstätigen Rentnern gewährt werden können. Für sie muß - jedenfalls seitdem sie das Gesetz über Krankenversicherung der Rentner vom 12. Juni 1956 als "vollwertige Mitglieder" in die gesetzliche Krankenversicherung einbezogen hat - der in § 187 Nr. 3 RVO verwandte Begriff der "Arbeitsfähigkeit" sinngemäß abgewandelt werden, wenn das Ziel des Gesetzes von 1956 - Gleichstellung der Rentner mit den im Arbeitsleben stehenden Versicherten - auch hinsichtlich der Gewährung von Zuschüssen zu größeren Heil- und Hilfsmitteln erreicht werden soll. Der Senat hat es deshalb in der erwähnten Entscheidung für ausreichend gehalten, daß das Hilfsmittel den Rentner befähigt, am allgemeinen gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Diese Voraussetzung war in dem damals entschiedenen Fall mit der Beschaffung eines Hörgerätes erfüllt. Ob sie auch bei einem Versicherten erfüllt werden kann, der, wie im vorliegenden Fall, nach doppelseitiger Amputation erwerbsunfähig und pflegebedürftig geworden ist, kann offen bleiben. Selbst wenn nämlich ein solcher Versicherter in Einzelfall am Leben der Gemeinschaft auch mit Hilfe von Prothesen im wesentlichen Beziehungen nicht mehr teilnehmen könnte, so würde doch seine - besonders schwere - Behinderung mindestens durch die Prothesenversorgung gemildert und die Teilnahme am Gemeinschaftsleben, soweit möglich, gefördert und erleichtert werden. Das allein muß schon genügen, um ihm einen Anspruch auf einen Zuschuß für Hilfsmittel zu geben, wie es ähnlich für die Annahme von Behandlungsbedürftigkeit ausreicht, daß bei nicht mehr besserungsfähigen Leiden die Beschwerden durch ärztliche Behandlung gelindert werden können (vgl. BSG 28, 199, 201 und BSHG § 39 Abs. 3).
Hatte hiernach auch im vorliegenden Fall der versicherte Rentner trotz seiner Erwerbsunfähigkeit und Pflegebedürftigkeit einen Anspruch auf die streitigen Zuschüsse, so hat die Beklagte dem Kläger die übernommenen Kosten in dem beantragten Umfange zu ersetzen.
Die Entscheidung über die Verfahrenskosten ergibt sich aus § 193 SGG.
Fundstellen