Leitsatz (amtlich)
1. Eine Widerklage, mit der der Beklagte das Gegenteil einer vom Kläger begehrten Feststellung festgestellt wissen will, ist zulässig, wenn der Widerkläger ein eigenes berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat.
2. § 5 der Rahmenvereinbarung zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung Nordwürttemberg und dem Landesverband der Ortskrankenkassen Baden-Württemberg vom 1967-09-19 ist irrevisibles Recht. Die genannte Bestimmung verstößt nicht gegen Bundesrecht.
Normenkette
SGG § 55 Fassung: 1953-09-03; KÄV/LdORahmenVbg § 5 Fassung: 1967-09-19
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. April 1971 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten mit Feststellungs- und Feststellungswiderklage über die anläßlich einer Einzelabrechnung der Beklagten für die Ärztin Dr. G. zwischen ihnen allgemein streitig gewordenen Frage, ob bei der Berechnung der Gesamtvergütung für die kassenärztliche Versorgung nach Einzelleistungen (§ 368 f Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Reichsversicherungsordnung - RVO -) neben den auf Mutterschaftsvorsorgeschein abzurechnenden Leistungen eine Beratung oder eingehende Untersuchung auf Krankenschein dann abgerechnet werden kann, wenn neben Leistungen nach den Mutterschaftsvorsorgerichtlinien gleichzeitig eine Beratung oder eingehende Untersuchung auf dem Gebiet der kurativen Behandlung erfolgt. Die Klägerin hält dies im Gegensatz zur Beklagten und Widerklägerin nicht für zulässig.
Das Sozialgericht Stuttgart (SG) hat der Feststellungswiderklage stattgegeben (Urteil vom 6. März 1970). Die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) mit der Maßgabe zurückgewiesen, die Urteilsformel werde dahin neugefaßt, daß neben der Berechnung einer Beratung (Nr. 1 GOÄ oder einer eingehenden Untersuchung (Nr. 25 GOÄ) auf Mutterschaftsvorsorgeschein die Berechnung einer Beratung oder einer eingehenden Untersuchung auf Krankenschein dann erfolgen kann, wenn neben der Mutterschaftsvorsorgeleistung (präventive Leistung) eine Leistung der Krankenhilfe (kurative Leistung) erbracht wird und diese Leistung "über die Vorsorgemaßnahmen hinaus zum Zwecke der Erkennung oder Behandlung von Krankheiten" (§ 5 der Rahmenvereinbarung zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung Nordwürttemberg und dem Landesverband der Ortskrankenkassen Württemberg-Baden vom 19. September 1967 notwendig ist (Urteil vom 21. April 1971). Das LSG ist davon ausgegangen, der Vergütungsanspruch sei aufgrund der zwischen den Beteiligten abgeschlossenen Verträge (Rahmen-Gesamtvertrag vom 29. April 1969, Rahmenvereinbarung vom 19. September 1967) nach der Gebührenordnung für Ärzte vom 18. März 1965 (GOÄ) zu beurteilen; hiernach sei die auf Mutterschaftsvorsorgeschein abzurechnende "ärztliche Betreuung" (§ 196 RVO) als eine selbständige, von der "ärztlichen Behandlung" (§ 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO) zu unterscheidende Sonderleistung gesondert abrechnungsfähig. Das LSG hat außerdem angenommen, die Zulässigkeit einer Doppelabrechnung ergebe sich gemäß § 5 der Rahmenvereinbarung vom 19. September 1967 auch aus dem die Beteiligten bindenden Vertragsrecht.
Mit der - zugelassenen - Revision hält die Klägerin daran fest, daß nicht nebeneinander abgerechnet werden könne, weil der Wortlaut der GOÄ und der Grundsatz der Einheit der Untersuchung auf dem Gebiete der kassenärztlichen Versorgung dies ausschließe. Etwas anderes könne auch § 5 der Rahmenvereinbarung vom 9. September 1967 nicht entnommen werden.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 26. April 1971 und das Urteil des SG Stuttgart vom 6. Mai 1970 aufzuheben und festzustellen, daß neben der Berechnung einer Beratung (Nr. 1 GOÄ) oder eingehenden Untersuchung (Nr. 25 GOÄ) auf Mutterschaftsvorsorgeschein die Berechnung einer Beratung (Nr. 1 GOÄ) oder eingehenden Untersuchung (Nr. 25 GOÄ) auf Krankenschein bei derselben Inanspruchnahme auch dann nicht abgerechnet werden kann, wenn neben der Präventivbehandlung auch eine Kurativbehandlung erfolgt.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision ist unbegründet; sie ist daher zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist das LSG - wie der Senat bei der Prüfung der Sachurteilsvoraussetzungen von Amts wegen zu untersuchen hatte - zutreffend davon ausgegangen, daß die nach § 100 SGG mögliche und in den Vorinstanzen erfolgreiche Feststellungswiderklage zulässig ist. Der in der Abrechnungspraxis der Beteiligten entstandene Streit über die Berechnung der Gesamtvergütung betrifft Rechte und Pflichten aus den zwischen ihnen geltenden Verträgen und kann deshalb - anders als in den nachstehend aufgeführten Fällen, in denen Dritte eine abstrakte Normenkontrolle anstrebten - Gegenstand einer Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG sein (vgl. Urteile des erkennenden Senats: BSG 28, 224, 225; Urteil vom 30. Mai 1969 - 6 RKa 13/67 - in SozR Nr. 6 zu § 368 g RVO). Da die Beteiligten für die Zukunft bei ihren entgegengesetzten Auffassungen bleiben wollen, haben sie - jeder - ein berechtigtes Interesse an der baldigen Bereinigung des Streites (§ 55 Abs. 1 SGG letzter Satzteil). Dieses Feststellungsinteresse ist auch der Beklagten für ihre (positive) Feststellungswiderklage zuzubilligen, obwohl sie damit den mit der (negativen) Feststellungsklage erhobenen Anspruch lediglich verneint. Zwar fehlt es für eine verneinende Feststellungswiderklage in der Regel am Rechtsschutzbedürfnis, weil der Widerkläger seine rechtlichen Interessen mit dem Antrag auf Abweisung der gegen ihn gerichteten Klage sichern kann (vgl. PETERS-SAUTTER-WOLFF, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 7. Nachtrag, § 100 SGG, Anm. 2; EYERMANN-FRÖHLER, Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), 4. Aufl., § 89 VwGO, Anm. 1; KLINGER, Kommentar zur VwGO, 2. Aufl., § 89 VwGO, Anm. C 6; ROSENBERG, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 9. Aufl., § 92 II 1, Seite 450). Dies ist aber nicht ausreichend gewährleistet, wenn - wie hier - der Widerkläger ein eigenes Interesse an der Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens des Rechtsverhältnisses hat und sein schutzwürdiges Vertrauen auf Bereinigung des Streites durch die gemäß § 102 SGG bis zum Schluß der letzten mündlichen Verhandlung mögliche Rücknahme der Klage - etwa erst im Berufungs- oder Revisionsverfahren (BSG, SozR Nr. 4 zu § 102 SGG) - enttäuscht werden kann. Dem Beklagten bei solcher Sachlage anheimzustellen, erst nach Rücknahme der gegen ihn gerichteten Klage den Streit mit eigener Klage von vorn zu beginnen, würde nicht nur seinen berechtigten Interessen widerstreiten, sondern könnte auch zur Häufung von Prozessen führen und eine sachgemäße, weil einfachere Erledigung des aufgetretenen Streitpunktes hindern (vgl. hierzu: RGZ 71, 68, 76; 151, 65, 66, 69; BGH LM Nr. 84 zu § 256 ZPO; WIECZOREK, Zivilprozeßordnung, § 256 ZPO, Anm. C II c 2; C III b mit Nachweisen; aber auch C IV a 2).
In der Sache selbst kann die Revision mit dem Verlangen, anstelle der Feststellungswiderklage müsse der Feststellungsklage der Klägerin stattgegeben werden, nicht durchdringen. Das LSG hat das angefochtene Urteil nicht nur auf die unter Heranziehung der §§ 182 Abs. 1 Nr. 1, 196 RVO ausgelegte GOÄ gestützt, sondern seine Entscheidung ausdrücklich zusätzlich damit begründet, aus § 5 der Rahmenvereinbarung vom 19. September 1967 ergebe sich, daß die Klägerin die mit der Feststellungswiderklage geltend gemachte Doppelabrechnung auf Krankenschein und Mutterschaftsvorsorgeschein schon nach dem für die Beteiligten bindenden Vertragsrecht vornehmen könne. Ob das LSG § 5 der Rahmenvereinbarung vom 19. September 1967 unrichtig angewendet hat - wie die Revision rügt -, kann der Senat nicht überprüfen, weil die Entscheidung des LSG insoweit eine nicht revisible Bestimmung betrifft (§ 162 Abs. 2 SGG). Da der räumliche Geltungsbereich der Rahmenvereinbarung auf Nordwürttemberg beschränkt ist und damit nicht über den Bezirk des Berufungsgerichts hinausgeht (§ 1 der Rahmenvereinbarung, vgl. § 28 SGG iVm § 2 des Baden-Württembergischen Ausführungsgesetzes zum SGG vom 21. Dezember 1953, GBl. für Baden-Württemberg 1953, 235), stellt ihr § 5 weder eine Vorschrift des Bundesrechts noch sonstiges revisibles Recht im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG dar. Die Vorschrift des § 5 Rahmenvereinbarung ist nicht etwa als Wiederholung einer bundesmantelvertraglichen Regelung, an die die Beteiligten über §§ 368 Abs. 2, 414 b Abs. 2 RVO gebunden wären, revisibel. Im Bundesmantelvertrag ist eine § 5 der Rahmenvereinbarung gleichende Vorschrift nicht enthalten. Allerdings entspricht § 5 der Rahmenvereinbarung fast wörtlich Nr. 4 der Vereinbarung, die die Kassenärztliche Bundesvereinigung, KdöR und u. a. der Bundesverband der Ortskrankenkassen am 8. März 1966 "über die Abrechnung von ärztlichen Leistungen im Rahmen der Betreuung während der Schwangerschaft und nach der Entbindung" getroffen haben (abgedruckt in OKK 1966, S. 228 f). Hierbei handelt es sich jedoch um eine Empfehlungsvereinbarung, an die sich die Partner der Rahmenvereinbarung nicht zu halten brauchen (PETERS, Handbuch der Krankenversicherung II, 16. Nachtrag, § 368 g, Anm. 10 b, S. 17/1688). Dies gilt auch für die Nr. 4 der Vereinbarung, obwohl darin im Unterschied zu den übrigen Punkten der Vereinbarung - sprachlich gesehen ("Werden ..., so sind...") - keine Empfehlung ausgesprochen worden ist. Daß es sich gleichwohl nur um eine nicht verbindliche Empfehlung handelt, ergibt sich aus der Tatsache, daß die Partner der Vereinbarung unabhängig davon am gleichen Tage den Bundesmantelvertrag ergänzt haben (siehe OKK 1966, S. 227).
Die Bestimmung des § 5 Rahmenvereinbarung ist auch nicht wegen bewußter und im offensichtlichen Streben nach Rechtsvereinheitlichung gewollter Übereinstimmung mit dem Recht anderer LSG-Bezirke als eine sonstige, über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus geltende revisible Vorschrift im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG anzusehen (vgl. hierzu: BSG 2, 106, 110 mit Nachweisen; BSG 8, 142, 144; 13, 189, 191; 13, 196 f). Aus der Übernahme der Empfehlungsvereinbarung vom 8. März 1966 zu Nr. 4 kann nicht auf ein Streben nach Rechtsvereinheitlichung geschlossen werden. Hierfür ist - im Unterschied zu dem vom 2. Senat des BSG entschiedenen Fall der Übernahme einer berufsgenossenschaftlichen Mustersatzung (BSG 13, 189, 192) - schon wegen der Vielzahl der nach § 368 g Abs. 2 Satz 1 RVO mit jeder einzelnen RVO-Kasse abzuschließenden Gesamtverträge und ihrer begrenzten und voneinander unterschiedlichen Laufzeit kein Raum. Es stand den Vertragsschließenden frei, der Empfehlungsvereinbarung bei der für ihren Bereich gedachten - und damit grundsätzlich eigenständigen - Gestaltung ihrer Rechtsbeziehungen zu folgen. Als wesentlich eigenständige Regelung ist § 5 Rahmenvereinbarung selbst dann nicht revisibel, wenn er inhaltlich mehr oder minder stark mit im Bezirke anderer LSG'e geltenden Verträgen übereinstimmt (vgl. Urteil des erkennenden Senats, BSG 2, 201, 204).
Dahinstehen kann, ob - wie das LSG meint und die Revision bestreitet - das angefochtene Urteil in Übereinstimmung mit den Vorschriften der GOÄ steht. Zwar ist das Revisionsgericht berechtigt und verpflichtet nachzuprüfen, ob die Anwendung einer irrevisiblen Vorschrift Bundesrecht verletzt (Urteil des erkennenden Senats in BSG 2, 201, 205). Eine Verletzung der GOÄ als übergeordneten Bundesrechts scheidet aber aus, weil die GOÄ zwischen den Beteiligten nur gilt, soweit sie von ihnen für anwendbar erklärt und vertraglich nichts anderes vereinbart ist (PETERS, aaO, 16. Nachtrag, § 368 f Anm. 8). Entscheidend ist deshalb, welche vertraglichen Vereinbarungen zwischen den Beteiligten nach § 5 Rahmenvereinbarung bestehen. Da die Rechtsanwendung des LSG insoweit gemäß § 162 Abs. 2 SGG unantastbar ist, muß das angefochtene Urteil unabhängig davon bestehen bleiben, wie die streitige Frage nach der GOÄ zu beurteilen ist.
Aufgrund dessen kann die Klägerin mit ihrer Feststellungsklage keinen Erfolg haben. Wenn auch ein - an sich erforderlicher - Ausspruch über deren Abweisung im - insoweit vom LSG nicht neu gefaßten - Urteilstenor des SG fehlt, so wird doch aus den Gründen des SG-Urteils hinreichend deutlich, daß in der Stattgabe der Widerklage die Abweisung der entgegengesetzten Klage liegt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1, 4 SGG.
Fundstellen