Leitsatz (amtlich)
Begehrt ein Kläger mit der Klage gegen einen Rentenbescheid die zusätzliche Anrechnung von Beitragszeiten vor 1924 und die Berechnung der Rente nach AnVNG Art 2 § 41 (sogenannte Vergleichsberechnung) und erklärt er nach Einlegung der Berufung gegen das klageabweisende erstinstanzliche Urteil, daß die Berufung "bezüglich der Vergleichsberechnung nicht weiter verfolgt" werde, so liegt darin eine teilweise Berufungsrücknahme (oder ein teilweiser Berufungsverzicht) und ist eine spätere sachliche Entscheidung über den Anspruch auf Vergleichsberechnung nicht mehr möglich.
Normenkette
SGG § 156 Fassung: 1953-09-03; AnVNG Art. 2 § 41 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1249 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 42 Fassung: 1957-02-23; AVG § 26 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Juni 1961 wird aufgehoben.
Außergerichtliche Kosten sind im gesamten Rechtsstreit nicht zu erstatten.
Gründe
I
Durch Bescheid vom 6. Mai 1958 bewilligte die Beklagte dem Ehemann der Klägerin ab August 1957 eine nach neuem Recht berechnete Rente wegen Berufsunfähigkeit in Höhe von monatlich 24,90 DM. Gegen diesen Bescheid erhob der Ehemann Klage vor dem Sozialgericht (SG) Köln; er beantragte nach der Sitzungsniederschrift die zusätzliche "Anrechnung der bis 1919 geleisteten Beiträge und Anerkennung der Vergleichsberechnung". Die Beklagte hatte die vor 1924 geleisteten Beiträge nicht berücksichtigt, weil zwischen dem 1. Januar 1924 und dem 30. November 1948 kein Beitrag entrichtet (§ 26 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -), die nächste Beitragsentrichtung vielmehr erst im Jahre 1949 erfolgt war; die "Vergleichsberechnung", d. h. die Berechnung der Rente nach Art. 2 § 41 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG), hatte sie nicht vorgenommen, weil beim Inkrafttreten des AnVNG (1. Januar 1957) die Anwartschaft aus den bis dahin geleisteten Beiträgen nicht erhalten war. Der Ehemann der Klägerin begehrte demgegenüber die Anrechnung der Beitragszeiten vor 1924, weil ein Teil der 1949 entrichteten Beiträge für die Zeit von Juli bis November 1948 bestimmt gewesen war; den Anspruch auf die Vergleichsberechnung begründete er damit, daß er die am 31. Dezember 1956 zur Erhaltung der Anwartschaft fehlenden Beiträge im Jahre 1957 nachentrichtet habe. Das SG wies die Klage als unbegründet ab. Der Ehemann legte dagegen Berufung ein, sein Prozeßbevollmächtigter begründete sie mit Schriftsatz vom 10. Februar 1960. In diesem Schriftsatz legte er zunächst die Gründe für die begehrte Anrechnung der Beitragszeiten vor 1924 dar und fuhr dann fort: "Bezüglich der Vergleichsberechnung des § 41 Art. 2 wird die Berufung nicht weiter verfolgt". Am 26. Februar 1960 verstarb der Ehemann. Die Klägerin setzte als seine Rechtsnachfolgerin das Verfahren fort. Ihr Prozeßbevollmächtigter erklärte in der mündlichen Verhandlung des Landessozialgerichts (LSG), "daß er die Überprüfung der Sache unter Berücksichtigung des Art. 2 § 41 AnVNG entgegen früherer schriftsätzlicher Erklärung wünsche", während er hinsichtlich der Beitragszeiten vor 1924 den bisherigen Standpunkt nicht mehr aufrechterhalte. Gemäß seinem in dieser Verhandlung gestellten Antrag entschied das LSG:
"Das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 28. Oktober 1959 wird abgeändert. Die Beklagte ist verpflichtet, der Klägerin einen neuen Bescheid zu erteilen, in dem sie die Rente nach den bis zum 31. Dezember 1956 geltenden Vorschriften berechnet (Art. 2 § 41 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes). Insoweit wird der angefochtene Bescheid aufgehoben.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten zur Hälfte zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen."
Zur Begründung führte das LSG aus: Die Berufung sei bei ihrer Einlegung zulässig gewesen und zulässig geblieben. Durch die Erklärung in der Berufungsbegründung zur Vergleichsberechnung sei weder die Klage noch die Berufung teilweise zurückgenommen worden. Klageantrag sei das Begehren gewesen, die Beklagte zum Erlaß eines neuen Bescheides über die Gewährung einer höheren Rente zu verurteilen; den Klagegrund hierfür hätten die Beitragsleistungen in den Jahren 1949 und 1957 gebildet; die Rechtsfolgen beider Beitragsleistungen - das LSG spricht auch von zwei verschiedenen Tatsachengruppen - ließen sich zwar insofern unabhängig voneinander feststellen, als die erste nur für die Anrechnung der Beitragszeiten vor 1924 und die zweite nur für die Durchführung der Vergleichsberechnung bedeutsam sei; aus der Beitragsentrichtung 1949 allein lasse sich aber nicht ermitteln, in welcher Weise die Beklagte die vor 1924 geleisteten Beiträge bei der Rentenberechnung berücksichtigen müsse (mit Steigerungsbeträgen oder innerhalb der persönlichen Bemessungsgrundlage); das hänge von der Durchführung der Vergleichsberechnung und demnach von der Beitragsentrichtung im Jahre 1957 ab; für die Feststellung der Gesamthöhe der Rente griffen sonach beide Tatsachengruppen derart untrennbar ineinander über, daß nicht von zwei getrennten Klagegründen gesprochen werden könne. Schon aus diesen Erwägungen bedeute die Er-Klärung in der Berufungsbegründung weder eine teilweise Klagerücknahme durch Änderung des Klagegrundes noch eine teilweise Berufungsrücknahme durch Beschränkung der Berufung auf einen abtrennbaren, für sich rechtskraftfähigen Teil des erstinstanzlichen Urteils; im übrigen bringe sie ihrem Inhalt nach einen Rücknahmewillen auch nicht eindeutig zum Ausdruck. Die Berufung sei hinsichtlich der Vergleichsberechnung begründet; da die zur Erhaltung der Anwartschaft bis zum 31. Dezember 1956 fehlenden Beiträge im Jahre 1957 zulässigerweise nachentrichtet worden seien, müsse die Beklagte nach dem Sinn und Zweck des Art. 2 § 41 AnVNG die Vergleichsberechnung durchführen.
Mit der Revision beantragte die Beklagte,
in Abänderung des Urteils des LSG die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Sie rügte die Verletzung des Art. 2 § 41 AnVNG.
Die Klägerin beantragte die Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.
Bei jeder zulässigen Revision hat das Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen, ob die unverzichtbaren Voraussetzungen für die Einleitung und die Fortsetzung des Verfahrens bis in die Revisionsinstanz erfüllt sind. Deshalb ist hier zu fragen, ob einer sachlichen Entscheidung des Revisionsgerichts eine Rücknahme der Klage oder der Berufung vor dem LSG entgegensteht. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Satz 2 SGG); die Rücknahme der Berufung führt zum Verlust der Berufung schlechthin (§ 156 Abs. 2 Satz 1 SGG; vgl. SozR Nr. 4 zu § 156 SGG); sie steht im sozialgerichtlichen Verfahren einem nach der Einlegung der Berufung dem Gericht erklärten Berufungsverzicht gleich; in allen Fällen ist eine spätere Entscheidung in der Sache nicht mehr möglich. Die Rücknahme der Klage und der Berufung kann sich auch auf einen Teil des Streitgegenstandes beschränken, dann treten die bezeichneten Wirkungen hinsichtlich dieses Teiles ein. Bei der Beurteilung einer Erklärung als Klage- oder Berufungsrücknahme ist das Revisionsgericht weder an die Auslegung des Berufungsgerichts noch an die ihr zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen gebunden (BSG 17, 125 f; SozR Nr. 1 zu § 514 der Zivilprozeßordnung - ZPO -).
Hiervon ausgehend ist der Senat - anders als das LSG - der Überzeugung, daß die Erklärung in der Berufungsbegründung, es werde die Berufung bezüglich der Vergleichsberechnung nicht weiter verfolgt, einer sachlichen Entscheidung über die streitige Vergleichsberechnung entgegensteht. Die Erklärung bezieht sich auf die Berufung und nicht auf die Klage; sie ist ihrem Inhalt nach eindeutig. Gerade in dem Absehen von der weiteren Verfolgung eines Rechtsmittels liegt das kennzeichnende Merkmal der Rechtsmittelrücknahme und des nach Einlegung des Rechtsmittels erklärten Rechtsmittelverzichts (RGZ 161, 350, 356; Schönke, ZPO, S. 377); die Erklärung bedeutet daher ohne Zweifel die Preisgabe des Rechts auf Nachprüfung und Abänderung des erstinstanzlichen Urteils hinsichtlich der Vergleichsberechnung. Ihre Wertung als teilweise Berufungsrücknahme oder teilweiser Berufungsverzicht hängt daher allein noch davon ab, ob die Berufung in diesem beschränkten Umfang rücknahme- oder verzichtsfähig gewesen ist. Entgegen der Meinung des LSG ist auch das zu bejahen.
Eine Berufung ist teilweise rücknahme- und verzichtsfähig, soweit die Rücknahme und der Verzicht entweder einen von mehreren Klageansprüchen oder einen abtrennbaren Teil eines Klageanspruchs betreffen. Unter dem Klageanspruch ist der prozessuale, nicht der materiell-rechtliche Anspruch zu verstehen; er deckt sich mit dem Streitgegenstand und richtet sich nach dem Ziel der Klage, nicht nach ihrem prozessualen Gewand und auch nicht nach dem tatsächlichen und rechtlichen Klagegrund; Klageanspruch ist daher das Begehren auf rechtskräftigen Ausspruch bestimmter Rechtsfolgen (BSG 18, 266, 267), die sich nach Meinung des Klägers aus einem Sachverhalt ergeben.
Ziel der Klage ist im vorliegenden Falle nicht ein allgemeines Begehren, den Rentenanspruch "höher" festzustellen als es die Beklagte getan hat - ob ein derartiges Klagebegehren überhaupt zulässig ist, kann hier dahingestellt bleiben -; das Klageziel war vielmehr konkretisiert und begrenzt; nach den ursprünglichen Klageanträgen und nach dem ihnen zugrunde liegenden Sachverhalt ist die zusätzliche Berücksichtigung der vor 1924 geleisteten Beiträge bei der Rentenberechnung und die Vergleichsberechnung nach Art. 2 § 41 AnVNG begehrt; dabei ist zu bedenken, daß die Beklagte bereits eine Rente bewilligt und diese nach neuem Recht berechnet hatte; auch die Art und Weise, in der die Vergleichsberechnung durchgeführt wird, ist für die Feststellung des Klagebegehrens von Bedeutung; nach Art. 2 § 41 AnVNG ist die Rente aus den bis zum 31. Dezember 1956 zurückgelegten Versicherungszeiten nach altem Recht - einschließlich eines Sonderzuschusses - zu berechnen, wenn dies für den Versicherten gegenüber der Berechnung nach neuem Recht günstiger ist.
Angesichts dieser Umstände sind demnach folgende Klagebegehren anzunehmen:
Erstrebt wird einmal eine erneute Berechnung der Rente nach neuem Recht unter zusätzlicher Anrechnung der vor 1924 geleisteten Beiträge und die sich hieraus ergebende Rentenerhöhung; dabei kann und soll die Anrechnung dieser Beiträge nur nach neuem Recht erfolgen.
Begehrt wird außerdem die Vergleichsberechnung nach Art. 2 § 41 AnVNG und die hieraus folgende Rentenerhöhung; auch bei dieser Rentenberechnung sollen zusätzlich die vor 1924 geleisteten Beiträge berücksichtigt werden; ihre Anrechnung kann und soll insoweit jedoch nur nach altem Recht stattfinden.
Im Laufe des Prozesses ist dann durch die Erklärung in der Berufungsbegründung, daß die Berufung hinsichtlich der Vergleichsberechnung nicht weiter verfolgt werde, das gesamte (zweite) sich auf die Vergleichsberechnung beziehende Klagebegehren - also einschließlich der gewünschten Anrechnung der Beiträge vor 1924 nach altem Recht - fallengelassen worden; dieses Begehren ist aber jedenfalls gegenüber dem verbliebenen Begehren auf zusätzliche Anrechnung der Beitragszeiten vor 1924 nach neuem Recht ein selbständiger prozessualer Anspruch gewesen. Wenn ein Kläger einen Rentenbescheid anficht, weil er eine ihm günstigere Rentenberechnung und eine höhere Rente will, so macht er nicht immer nur einen prozessualen Anspruch geltend, der schlechthin auf Neuberechnung und Rentenerhöhung gerichtet wäre. Es kommt vielmehr darauf an, welche Rechtsfolgen der Kläger im einzelnen festgestellt haben will und inwieweit sich diese voneinander abgrenzen und für sich selbständig betreiben und feststellen lassen. Ergibt das Klagevorbringen, daß der Kläger bestimmte Änderungen der Rentenberechnung will, die jeweils genau festlegbare Rentenerhöhungen ergeben, so handelt es sich in der Regel um verschiedene prozessuale Ansprüche, die gegebenenfalls auch - wie die Praxis bestätigt - von den Beteiligten gesondert betrieben (zurückgenommen, anerkannt) und von den Gerichten getrennt voneinander behandelt und entschieden werden können. In diesem Sinne sind auch im vorliegenden Falle die Klagebegehren zwei selbständige prozessuale Ansprüche gewesen; jedes von ihnen hat auf der Grundlage des angefochtenen Rentenbescheids selbständig durchgeführt werden können; jedes hat eine bestimmte andere Rentenberechnung und eine genau festlegbare Rentenerhöhung ausgelöst; die jeweiligen Rechtsfolgen sind auch deutlich voneinander abgrenzbar gewesen; die mit jedem Begehren verbundenen Rentenerhöhungen haben sich zwar nicht summiert, weil die Vergleichsberechnung, wenn sie gegenüber der Rentenberechnung nach neuem Recht günstiger ist, an deren Stelle tritt; diese - durch die Vorschrift des Art. 2 § 41 AnVNG bedingte - Besonderheit hindert jedoch nicht, daß im vorliegenden Fall jedes Klagebegehren einen besonderen prozessualen Anspruch verkörpert hat und darum auch einer getrennten Behandlung und Entscheidung zugänglich gewesen ist, wie nicht zuletzt das wechselhafte Verhalten der Klagepartei und übrigens auch das angefochtene Urteil zeigt, das tatsächlich allein über das zweite Klagebegehren - die Vergleichsberechnung - entschieden hat.
Ist aber das Begehren hinsichtlich der Vergleichsberechnung ein selbständiger prozessualer Anspruch gewesen, so ist die Erklärung in der Berufungsbegründung, daß die Berufung insoweit nicht weiter verfolgt werde, eine teilweise Berufungsrücknahme oder - was in der Wirkung gleichbedeutend ist - ein teilweiser Berufungsverzicht gewesen. Das hat das LSG verkannt; da der Rechtsstreit in diesem Teil vor seiner Entscheidung bereits erledigt gewesen ist, hat das LSG über die begehrte Vergleichsberechnung sachlich nicht mehr entscheiden dürfen. Sein Urteil ist daher aufzuheben. Bei Erlaß des angefochtenen Urteils ist der Rechtsstreit darüber hinaus im ganzen erledigt gewesen, da die Klägerin in der mündlichen Verhandlung des LSG die Berufung im verbliebenen Teil ebenfalls zurückgenommen hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen