Entscheidungsstichwort (Thema)
Freiwillige Krankenversicherung. Beitragsbemessung
Leitsatz (redaktionell)
Wird einem freiwillig Versicherten einer Ersatzkasse vorzeitiges Altersruhegeld zugebilligt, kann die Beitragseinstufung in eine höhere Beitragsklasse erst mit Wirkung für die Zukunft vorgenommen werden, wenn der Versicherte der Ersatzkasse die Information über den Rentenbezug nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig vorenthalten hat.
Orientierungssatz
1. Die in § 16 SGB 4 enthaltene Definition des Gesamteinkommens kann nicht auf das Beitragsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung übertragen werden (vergleiche BSG vom 9.12.1981 12 RK 29/79 = SozR 2200 § 180 Nr 8). In der Grundlohnvorschrift des § 180 RVO kommt das - die gesamte gesetzliche Krankenversicherung beherrschende - Prinzip der Beitragsbemessung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Versicherten und damit das der Sozialversicherung eigene Solidarprinzip zum Ausdruck. Diese Grundsätze können daher auch bei den der Satzungsautonomie der Ersatzkassen vorbehaltenen Beitragsregelungen, zumindest bei deren Auslegung, nicht unbeachtet bleiben.
2. Für die Berücksichtigung von Vermögen im Rahmen der Beitragsbemessung ist in der gesetzlichen Krankenversicherung kein Raum (vergleiche BSG vom 26.11.1984 12 RK 32/82 = SozR 2200 § 180 Nr 19).
Normenkette
RVO § 180 Abs. 4 Fassung: 1978-07-25, § 507 Abs. 4 Fassung: 1969-07-27; SGB 4 § 16 Fassung: 1976-12-23
Verfahrensgang
LSG für das Saarland (Entscheidung vom 22.09.1983; Aktenzeichen L 1 K 12/81) |
SG für das Saarland (Entscheidung vom 06.07.1981; Aktenzeichen S 1 K 4/81) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die beitragsrechtliche Einstufung des Klägers ab 1. Dezember 1980.
Der Kläger ist freiwillig bei der beklagten Ersatzkasse weiterversichert. Bislang war er durch Bescheid der Beklagten vom 26. März 1979 auf der Grundlage seiner durch die Einkommensteuerbescheide nachgewiesenen Einkünfte in die Beitragsklasse 626 eingestuft. Nachdem die Beklagte im November 1980 erfahren hatte, daß ihm ab 1. August 1980 vorzeitiges Altersruhegeld von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte in Höhe von 1.196,60 DM (ab 1. Januar 1981 in Höhe von 1.244,-- DM) gewährt wurde, gruppierte sie ihn mit Bescheid vom 18. Dezember 1980 ab 1. Dezember 1980 in die Beitragsklasse 602 ein. Diese Beitragsklasse galt nach § 8 Abs 8 der Versicherungsbedingungen (VB) in der damaligen Fassung für Versicherungsberechtigte und weiterversicherte Mitglieder mit einem über der Beitragsbemessungsgrenze der Krankenversicherung liegenden Gesamteinkommen. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 10. März 1981). Auf seine Klage hob das Sozialgericht (SG) für das Saarland die Bescheide der Beklagten auf (Urteil vom 6. Juli 1981). Das Landessozialgericht (LSG) für das Saarland hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 22. September 1983). Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Die Beklagte sei nach ihrer Satzung nicht berechtigt gewesen, den Kläger in die Beitragsklasse 602 einzustufen. Sie habe im Rahmen ihrer Satzungsautonomie für die Mitglieder der Gruppe N die Beitragsklassen von der Höhe des monatlichen Bruttogesamteinkommens abhängig gemacht. Eine Regelung über die Beitragseinstufung nach dem Grundlohn wie in § 385 der Reichsversicherungsordnung (RVO) habe sie nicht in ihre Satzung aufgenommen. Was unter Bruttogesamteinkommen zu verstehen sei, habe der Gesetzgeber heute in § 16 des Sozialgesetzbuches - Gemeinsame Vorschriften - (SGB IV) geregelt. Da hiernach das Gesamteinkommen im Sinne des Sozialversicherungsrechts die Summe der Einkünfte im Sinne des Einkommensteuerrechts sei, umfasse es Renten nur in ihrem Ertragsanteil. Dieser habe 1980 299,15 DM und ab 1. Januar 1981 311,-- DM betragen. Zusammen mit den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung (monatlich 2.344,-- DM) habe das monatliche Gesamteinkommen unter der Beitragsbemessungsgrenze gelegen. Daß die Beklagte ab 1. Juli 1981 den Begriff "Bruttogesamteinkommen" in der Satzung durch den Begriff "Gesamteinkommen und ihre sonstigen Einnahmen zum Lebensunterhalt" ersetzt habe, spreche dafür, daß die Definition des § 16 SGB IV auch Grundlage für die Auslegung des "Bruttogesamteinkommens" sei. Durch die zusätzliche Formulierung könnten nicht Rentenanteile erfaßt werden, die nach § 16 SGB IV ausdrücklich nicht hätten erfaßt werden sollen, da sonst die Begriffsbestimmung dieser Vorschrift praktisch wieder aufgehoben würde.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision wendet sich die Beklagte gegen diese Rechtsauffassung. Sie bringt vor, die Beitragsregelung für freiwillig weiterversicherte Mitglieder trage dem Bruttoprinzip im Beitragsrecht der Sozialversicherung Rechnung und gewährleiste, daß die betroffenen Mitglieder entsprechend ihrem Gesamteinkommen und damit nach ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zur Beitragszahlung herangezogen würden. Dies entspreche auch dem für die gesetzliche Krankenversicherung geltenden Solidarprinzip. Die Gleichstellung der Begriffe "Bruttogesamteinkommen" im Sinne der VB und "Gesamteinkommen" iS von § 16 SGB IV sei ein nicht zulässiger Eingriff in ihre Satzungsautonomie und verstoße damit gegen die Zwölfte Aufbauverordnung. Ein Eingriff in die Satzungsautonomie sei allenfalls denkbar, wenn die Regelung in den VB gegen höherrangiges Recht verstoßen würde. § 16 SGB IV sei aber insoweit kein höherrangiges Recht. Diese Vorschrift sei als Grundlage für die Bemessung von Beiträgen nicht geeignet und vom Gesetzgeber aus guten Gründen nicht als Beitragsvorschrift geschaffen worden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG und das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er vertritt wie das LSG die Auffassung, daß der Begriff "Bruttogesamteinkommen" nach § 16 SGB IV auszulegen sei. Die Gleichstellung der beiden Begriffe sei kein unzulässiger Eingriff in die Satzungsautonomie. Diese könne nur so weit gehen, wie sie nicht durch höherrangiges Recht eingeschränkt werde. § 16 SGB IV stelle aber insoweit höherrangiges Recht dar, als die Definition des Begriffs "Gesamteinkommen" für alle Zweige der Sozialversicherung vor allem eine Klarstellungsfunktion habe, um eine Einheitlichkeit der Begriffe für alle Gebiete der Sozialversicherung zu gewährleisten. Im übrigen weist der Kläger auf eine am 22. März 1979 mit der Beklagten getroffene Vereinbarung über seine Beitragseinstufung hin, die nach seiner Meinung der angefochtenen Entscheidung der Beklagten entgegensteht.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist im wesentlichen begründet.
Die Beklagte hat den Kläger zu Recht in die höhere Beitragsklasse 602 eingestuft, nachdem sich dessen für die Beitragsfestsetzung maßgebliches Einkommen durch die Bewilligung des vorzeitigen Altersruhegeldes ab 1. August 1980 erhöht hatte. Allerdings durfte sie die - im Bescheid vom 18. Dezember 1980 erfolgte - Neueinstufung zu Ungunsten des Klägers erst mit Wirkung für die Zukunft, also vom 1. Januar 1981 ab, vornehmen. Da kein Anhalt dafür besteht, daß der Kläger die Tatsache des Rentenbezuges der Beklagten vorsätzlich oder grob fahrlässig vorenthalten hat, konnte der bis dahin rechtmäßige Beitragsbescheid vom 26. März 1979 nicht für die Vergangenheit korrigiert werden (vgl hierzu das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des Senats vom 27. November 1984 - 12 RK 70/82 -).
Bei ihrem neuen Bescheid hatte die Beklagte nach § 8 Abs 8 der VB das dem Kläger gewährte Altersruhegeld in voller Höhe als beitragsrelevantes Einkommen zu berücksichtigen; dieses lag danach zusammen mit den übrigen nicht streitigen Einkünften über der Beitragsbemessungsgrenze. Der gegenteiligen Auffassung des LSG, die davon ausgeht, der von der Beklagten in den VB verwendete Begriff "Bruttogesamteinkommen" sei dem Begriff "Gesamteinkommen" iS des § 16 SGB IV gleichzuachten, kann der erkennende Senat nicht folgen. Gegen eine solche Gleichstellung spricht schon die von der Beklagten gewählte Formulierung "Bruttogesamteinkommen", denn darunter ist allgemein das dem Versicherten zufließende Einkommen ohne steuerliche und sonstige Abzüge zu verstehen. Inhaltlich ist dieser umfassende Begriff dem Gesamteinkommen iS der Vorschrift des § 313a RVO aF vergleichbar, die bis zum 30. Juni 1977 galt. Dieser Einkommensbegriff war aber von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) in Übereinstimmung mit dem Schrifttum als die "gesamte wirtschaftliche Lage" des Versicherten verstanden worden, für die der steuerrechtliche Begriff des Einkommens nicht maßgeblich war (vgl BSGE 7, 167; 10, 178, 180; BSG SozR 2200 § 313a Nr 6; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 57. Nachtrag, S 346 c). Daß darunter auch Renten und Pensionen fielen, hatte bereits das frühere Reichsversicherungsamt klargestellt (AN 1941 II 415).
Abgesehen davon, daß sich schon vom Wortlaut und Sinngehalt her das Bruttogesamteinkommen nach § 8 der VB mit dem Gesamteinkommen iS von § 16 SGB IV nicht gleichsetzen läßt, fehlt es der Vorschrift des § 16 SGB IV entgegen der Meinung des LSG auch an der Eigenschaft einer höherrangigen Norm gegenüber den satzungsrechtlichen Beitragsvorschriften der Beklagten. Wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat, kann die in § 16 SGB IV enthaltene Definition des Gesamteinkommens auf das Beitragsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung nicht übertragen werden. Diese aus dem Gesetzgebungsgang bei der Neufassung des § 180 Abs 4 RVO und dem zeitgleichen Inkrafttreten des § 16 SGB IV (1. Juli 1977) gezogene Folgerung (vgl Urteil vom 9. Dezember 1981 - SozR 2200 § 180 Nr 8 -) trifft nicht nur für die RVO-Kassen zu, die § 180 Abs 4 RVO unmittelbar anzuwenden haben, sondern auch für die Ersatzkassen (die einschlägigen Urteile des Senats vom 25. August 1982 - SozR 2200 § 180 Nr 12 -, vom 24. April 1983 - 12 RK 60/81 - und vom 28. Februar 1984 - SozR 2200 § 180 Nr 16 - betrafen Fälle mit Ersatzkassen). In der Grundlohnvorschrift des § 180 RVO kommt das - die gesamte gesetzliche Krankenversicherung beherrschende - Prinzip der Beitragsbemessung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Versicherten und damit das der Sozialversicherung eigene Solidarprinzip zum Ausdruck. Diese Grundsätze können daher auch bei den der Satzungsautonomie der Ersatzkassen vorbehaltenen Beitragsregelungen, zumindest bei deren Auslegung, nicht unbeachtet bleiben. Den Gesamtumständen und insbesondere auch dem Vorbringen der Beklagten in diesem Verfahren kann aber entnommen werden, daß mit der Beitragsvorschrift des § 8 Abs 8 der VB von jeher die freiwillig Versicherten nach Maßgabe ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu Beiträgen herangezogen werden sollten.
Die Beklagte hat sonach zutreffend mit ihrem Bescheid vom 18. Dezember 1980 den Beitrag des Klägers unter Berücksichtigung des mit der Rentengewährung hinzugekommenen weiteren Einkommens neu festgesetzt und das vorzeitige Altersruhegeld in seinem vollen Zahlbetrag herangezogen; denn es ist in seiner vollen Höhe dem Lebensunterhalt zu dienen bestimmt und prägt die wirtschaftliche Situation des Versicherten. Auch der Gesetzgeber ist bei der Einfügung der Absätze 5 bis 8 des § 180 RVO zum 1. Januar 1983 von dieser Betrachtungsweise ausgegangen und rechnet ausdrücklich den Zahlbetrag der Renten der gesetzlichen Rentenversicherung dem Grundlohn zu. Die Entscheidung des Senats vom 25. August 1982 (SozR 2200 § 180 Nr 12), wonach bei einer Veräußerungsleibrente nur der Ertragsteil des Zahlbetrages als Einnahme zum Lebensunterhalt iS des § 180 Abs 4 RVO anzusehen ist, steht dem nicht entgegen. Eine Veräußerungsleibrente ist im Gegensatz zur Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung nicht in vollem Umfang, sondern nur in ihrem Ertragsteil eine dem Arbeitseinkommen vergleichbare Einnahme zum Lebensunterhalt. In ihrem Kapitalanteil ist sie dagegen Umschichtung von Kapital und damit Vermögensverzehr. Für die Berücksichtigung von Vermögen im Rahmen der Beitragsbemessung ist aber in der gesetzlichen Krankenversicherung kein Raum (Urteil des Senats vom 26. November 1984 - 12 RK 32/82 -).
Die Urteile der Vorinstanzen sind sonach aufzuheben und die Klage ist in dem aufgezeigten Umfange abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen