Entscheidungsstichwort (Thema)
Sachaufklärungspflicht bei Feststellung der Erwerbsunfähigkeit
Orientierungssatz
Zur Begründung der Feststellung, daß ein Versicherter seine geminderte Arbeitskraft nicht mehr nutzbar verwerten kann, genügt es nicht, daß die Arbeitsverwaltung erklärt, sie sehe für den Versicherten keine Vermittlungsmöglichkeit (vgl BSG 1969-12-11 GS 2/68 = BSGE 30, 192; BSG 1973-08-16 4 RJ 361/72 = SozR Nr 114 zu § 1246 RVO).
Normenkette
RVO § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2, § 103
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 11.10.1972) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 11. Oktober 1972 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Klägerin war, ohne eine Abschlußprüfung abgelegt zu haben, vorwiegend als Schneiderin, außerdem als Näherin, Poliererin, Montagearbeiterin beschäftigt. Sie ist 1917 geboren. Ihr körperliches Leistungsvermögen ist hauptsächlich wegen Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule und arthrotischer Formveränderungen der Hüft- und Kniegelenke eingeschränkt. Sie wird nur noch für fähig gehalten, körperlich wenig anstrengende Tätigkeiten im Sitzen oder wechselnd im Sitzen und Stehen höchstens für fünf bis sechs Stunden täglich unter Ausschluß von Zeitdruck und länger anhaltendem gleichmäßigem Arbeitsrhythmus zu verrichten.
Den Antrag auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hat die Beklagte abgelehnt. Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat ihr stattgegeben. Es bejaht die Erwerbsunfähigkeit der Klägerin (§ 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), weil sie für den ihr verbliebenen Wirkungsbereich eine angemessene Lohnarbeit nicht mehr finden werde. Auf den Nachweis einer erfolgversprechenden Stellensuche komme es an, weil die Gesamtlage auf dem Teilzeitarbeitsmarkt nicht zu ermitteln sei.
Das für die Beurteilung eines offenen oder geschlossenen Teilzeitarbeitsmarktes von dem Großen Senat (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) aufgestellte Zahlenverhältnis von 75:100 in bezug auf die Menge vorhandener Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten (BSG 30, 167,192) lasse sich bis auf weiteres nicht herausfinden. Die Klägerin gehöre wegen ihrer gesundheitlichen Behinderung auch nicht zu dem Kreis von Teilzeitarbeiterinnen, für den ein offener Markt unterstellt werden könne. Gehe man die für die Klägerin in Frage kommenden Erwerbsbereiche durch, so schieden Dienstleistungsberufe und der Einsatz in der Fertigungsindustrie wegen der Schwere der körperlichen Kraftanforderungen und wegen fehlender Belastbarkeit aus, ebenso Büroberufe wegen mangelnder Kenntnisse.
Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie beantragt, das Berufungsurteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen. Sie beanstandet, daß das Berufungsgericht nicht konkret durch Einzelnachforschungen geprüft hat, ob die Klägerin noch Arbeitsplätze betriebsüblicher Art auszufüllen vermag. Sie meint, das LSG hätte sich zur Sachermittlung gedrängt fühlen müssen, weil ihm aus der Vergangenheit greifbare Resultate solcher Beweisbemühungen bekanntgeworden seien.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision der Beklagten hat Erfolg.
Die Annahme des Berufungsgerichts, daß der Arbeitsmarkt für die Klägerin "praktisch verschlossen" sei, leidet an unzureichender Sachaufklärung. Zur Begründung der Feststellung, daß ein Versicherter seine geminderte Arbeitskraft nicht mehr nutzbar verwerten kann, genügt es nicht, daß die Arbeitsverwaltung erklärt, sie sehe für den Versicherten keine Vermittlungsmöglichkeit. Eine Rechtsauffassung, die sich allein oder auch nur vorwiegend von einer solchen Erklärung leiten ließe und auf ein genaueres, ins einzelne gehendes Eindringen in die Wirklichkeit des Teilzeitarbeitsfeldes verzichtete, würde die Verantwortlichkeit der Rentenversicherung in denjenigen Aufgabenbereich vorverlegen, der von der Arbeitsverwaltung wahrzunehmen ist. Die Rentenversicherung hat nicht schon dort mit ihren Leistungen einzutreten, wo die Arbeitsbeschaffung auf Schwierigkeiten stößt. Für die Abgrenzung der Funktionsgebiete hat der GS des BSG (BSG 30, 167, 192) - wie nicht übersehen werden darf - mit einer erheblichen Arbeitslosigkeitsquote gerechnet. Die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze darf nur 25 % geringer sein als die Zahl der - beschäftigten und nichtbeschäftigten - Teilzeitarbeitsinteressenten, ohne daß der Arbeitsmarkt "praktisch" als "verschlossen" zu gelten hat. Der GS hat einen Verhältniswert genommen, der "eindeutig außerhalb des Bereichs der Arbeitslosigkeit liegt" (BSG 30, 184). Von dieser Kompetenz- und Risikoverteilung her ist der Umfang der entscheidungs- und damit beweiserheblichen Tatsachen bestimmt. Zwar sind die Fakten, die das Feld der Teilzeitbeschäftigungen betreffen und die nach der Grenzziehung des GS noch nicht in die Zuständigkeitssphäre der Rentenversicherung fallen, nicht einfach zu durchschauen. Ein statistischer Überblick, wie er dem GS vorschwebt, fehlt und ist wohl auch - jedenfalls vorerst - nicht zu beschaffen. Das entbindet aber den Tatsachenrichter nicht von der Pflicht, wenigstens Teilkomplexe soweit wie möglich zu erforschen, Teilbereiche, die wertvolle Aufschlüsse liefern und den Einblick in allgemeinere Zusammenhänge eröffnen können. Davon darf er um so weniger Abstand nehmen, wenn ihm aus früheren Aufklärungsbemühungen wertvolle Erkenntnisquellen bekannt sind oder bekannt sein müssen.
Im übrigen wird auf die Ausführungen in der Parallelentscheidung vom 16. August 1973 - 4 RJ 361/72 - Bezug genommen.
Um dem Berufungsgericht Gelegenheit zur weiteren Sachaufklärung zu geben, wird das Berufungsurteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen.
Dem LSG bleibt die Kostenentscheidung vorbehalten.
Fundstellen