Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 27.10.1988)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. Oktober 1988 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt höheres Arbeitslosengeld (Alg).

Der Kläger war vom 15. Februar 1982 bis 30. November 1984 Kranführer bei dem Bauunternehmen L. … F. … GmbH & Co KG in O. …. Im Oktober 1984 hat er in 24 Arbeitstagen und 268,5 bezahlten Arbeitsstunden ein Arbeitsentgelt von 4.900,38 DM erzielt. Die tarifliche Arbeitszeit betrug, wiederholten Angaben der Arbeitgeberin zufolge, 40 Stunden wöchentlich.

Die Beklagte bewilligte dem Kläger ab 1. Dezember 1984 Alg, dessen Höhe sie nach einem Arbeitsentgelt bestimmte, welches unter Zugrundelegung einer tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden ermittelt worden war (Bescheid vom 21. Dezember 1984, Widerspruchsbescheid vom 11. Januar 1985). Die tatsächliche Höhe des gewährten Alg und dessen weiteren Berechnungsmerkmale hat das LSG nicht festgestellt.

Mit der Klage beantragte der Kläger, das Alg unter Zugrundelegung seiner tatsächlichen Arbeitszeit, hilfsweise aber nach einer tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit von 44 Stunden gemäß § 3 Nr 1.2 des Bundesrahmentarifvertrages für das Baugewerbe (BRTV-Bau) zu zahlen. Das Sozialgericht (SG) hat – unter Zulassung der Berufung – die angefochtenen Bescheide geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Alg unter Zugrundelegung einer wöchentlichen Arbeitszeit von 44 Stunden zu zahlen; im übrigen hat das SG die Klage abgewiesen (Urteil vom 10. April 1986). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Oktober 1988).

Zur Begründung seines Urteils hat das LSG ausgeführt, nach § 112 Abs 2 Satz 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) sei nicht von der tatsächlichen Arbeitszeit, sondern, wie nicht mehr streitig sei, von der Zahl der Arbeitsstunden auszugehen, die sich als Durchschnitt der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit der Beschäftigungsverhältnisse im Bemessungszeitraum ergebe. Hiernach habe die Beklagte zutreffend eine Arbeitszeit von 40 Stunden zugrunde gelegt. Nach § 3 Nr 1.1 BRTV-Bau betrage die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit 40 Stunden. Für Maschinenpersonal, zu dem der Kläger gehört habe, dürfe diese wöchentliche Arbeitszeit um vier Stunden verlängert werden. Sei eine Verlängerung erfolgt, wäre dies zwar die tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit des Klägers. Eine wirksame Verlängerung liege indessen nicht vor. Anders als nach früherem Tarifrecht erfordere die Verlängerung nach § 3 Nr 2.4 BRTV-Bau das Einvernehmen des Betriebsrats. Dieses Einvernehmen setze eine Beschlußfassung des Betriebsrats nach § 33 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) voraus, und zwar speziell zu einer Verlängerung der regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit für das Maschinenpersonal. Eine solche Beschlußfassung sei nicht erfolgt. Denn nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme könne allenfalls eine Zustimmung des Betriebsrats oder einzelner Betriebsratsmitglieder durch schlüssiges Verhalten zu der von der Unternehmensleitung angeordneten Mehrarbeit für alle Arbeitnehmer auf der Baustelle W. … angenommen werden. Nach den Auskünften der Arbeitgeberin sei von der Möglichkeit der Verlängerung der regelmäßigen Arbeitszeit für das Maschinenpersonal kein Gebrauch gemacht worden; hierüber sei auch eine Vereinbarung mit den Betriebsräten nicht getroffen worden. Der Kläger mache geltend, daß der Bauführer der Baustelle W. … in Anwesenheit des Betriebsratsmitglieds Sch. … gesagt habe, es müsse länger gearbeitet werden. Daraus lasse sich eine Vereinbarung einer längeren regelmäßigen Arbeitszeit für das Maschinenpersonal mit dem Betriebsrat nicht entnehmen. Das sei schon deshalb der Fall, weil sowohl Sch. … als auch der Zeuge P. … nach ihren eigenen Angaben als Mitglieder des Betriebsrats der Niederlassung Bremen für das in W. … eingesetzte Maschinenpersonal nicht zuständig gewesen seien, weil dieses von der Hauptniederlassung in O. … ausgeliehen gewesen sei, und die Bremer Betriebsratsmitglieder lediglich die Anordnung von Überstunden für alle auf der Baustelle beschäftigten Arbeitnehmer zur Kenntnis genommen, aber auch insoweit keine eigenen Beschlüsse gefaßt hätten. Eine besondere Regelung für das Maschinenpersonal, durch die die regelmäßige tarifliche Arbeitszeit für diesen Personenkreis auf 44 Wochenstunden verlängert worden wäre, sei hiernach überhaupt nicht getroffen worden.

Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 112 Abs 2 AFG. Er trägt vor, entgegen der Auffassung des LSG sei die maßgebliche tarifliche regelmäßige Arbeitszeit auf 44 Stunden verlängert worden. Die Arbeitgeberin und der Betriebsrat hätten sich nach § 3 Nr 2.4 BRTV-Bau auf eine Verlängerung für das Maschinenpersonal geeinigt. Das in § 3 Nr 2.4 BRTV-Bau erforderliche Einvernehmen mit dem Betriebsrat erfordere keine formelle Betriebsvereinbarung iS des § 77 BetrVG. Es genüge eine formlose Absprache. Mit der Bezeichnung Einigung, Einverständnis, Übereinstimmung und Einvernehmen würden typischerweise betriebliche Einigungen umschrieben, die im Gegensatz zur formgebundenen Betriebsvereinbarung formlos möglich seien und auch durch schlüssiges Verhalten erklärt werden könnten. Ihr Zustandekommen setze nicht zwingend einen ausdrücklichen Betriebsratsbeschluß nach § 33 BetrVG voraus. Es sei in der Praxis nicht immer möglich, über jede Maßnahme einen Beschluß zu fassen. Je besser die vertrauensvolle Zusammenarbeit funktioniere, desto eher dürften sich Betriebsrat oder Arbeitgeber auf ein zustimmendes Verhalten des anderen verlassen und müßten nicht auf ausdrücklichen Erklärungen bestehen. Ein schlüssiges Verhalten der Betriebsratsmitglieder außerhalb einer Betriebsratssitzung dürfte bereits dann relevant sein, wenn der Wille des Betriebsrats hinreichend dokumentiert werde. Sei nach der Lebenserfahrung auszuschließen, daß vernünftige Einwendungen erhoben würden, so lasse sich ein Einvernehmen annehmen, wie das SG zutreffend angenommen habe. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, daß der Betriebsrat nicht übergangen sei und, wenn dies im Interesse der Arbeitnehmer gelegen hätte, Einwendungen erhoben hätte. Die Zeugen Sch. … und P. … hätten ausdrücklich erklärt, daß sie der Anordnung von Mehrarbeit nicht widersprochen hätten. Hieraus sei zu entnehmen, daß der Betriebsrat mit der verlängerten Arbeitszeit einverstanden gewesen sei. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus § 87 Abs 1 Nr 2 BetrVG. Denn die dort vorgesehene Mitbestimmung des Betriebsrats über Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit betreffe nicht die Bestimmung der Dauer der von den Arbeitnehmern geschuldeten wöchentlichen Arbeitszeit.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des LSG die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie verweist auf die Ausführungen des angefochtenen Urteils, die sie für zutreffend hält.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revison des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Ob dem Kläger höheres Alg zusteht, kann aufgrund der bisher getroffenen Feststellungen nicht entschieden werden.

Nach § 111 Abs 1 AFG, hier gemäß § 242f Abs 3 AFG anwendbar idF des Siebten Gesetzes zur Änderung des AFG (7. AFG-ÄndG) vom 20. Dezember 1985 (BGBl I 2484), beträgt das Alg für Arbeitslose, die mindestens ein Kind iS des § 32 Abs 1, 4 und 5 Einkommensteuergesetz haben, und für Arbeitslose, deren Ehegatte ein solches Kind hat, wenn beide Ehegatten unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind und nicht dauernd getrennt leben, 68 vH und für die übrigen Arbeitslosen 63 vH des um die gesetzlichen Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, verminderten Arbeitsentgelts (§ 112 AFG).

Der Leistungssatz im Einzelfall, der sich nach näherer Maßgabe der jeweiligen Leistungsverordnung ergibt, ist neben dem Arbeitsentgelt und der Nettolohnersatzquote von der Leistungsgruppe des Arbeitslosen abhängig (§ 111 Abs 2 Satz 2 AFG); die in den fünf Leistungsgruppen unterschiedlich hohen Leistungssätze berücksichtigen die unterschiedlich hohen Lohnsteuerabzüge, die je nach Steuerklasse bei Arbeitnehmern vorzunehmen sind. Arbeitsentgelt (§ 112 AFG), Leistungsgruppe (§ 111 Abs 2 Satz 2 AFG) und Nettolohnersatzquote (§ 111 Abs 1 AFG) bestimmen mithin, welcher Alg-Satz im Einzelfall Anwendung findet. Ein Klagebegehren, die Beklagte zu einem höheren Alg-Satz zu verurteilen, erfordert daher, daß alle Leistungsmerkmale daraufhin untersucht werden, ob sie das Klagebegehren zu begründen vermögen. Dies setzt grundsätzlich nicht nur die Kenntnis des bewilligten Alg-Betrages voraus, sondern auch aller Tatsachen, die für die Höhe des Arbeitsentgelts, die richtige Leistungsgruppe und die zutreffende Nettolohnersatzquote nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften von Bedeutung sind.

Hiernach ist aufgrund der vom LSG getroffenen Feststellungen keine abschließende Entscheidung möglich, ob das Klagbegehren begründet ist; denn das angefochtene Urteil enthält Feststellungen nur zu einem Leistungsmerkmal, nämlich dem Arbeitsentgelt (§ 112 AFG), und hier wiederum nur zum Zeitfaktor. Feststellungen hinsichtlich des Lohnfaktors des Arbeitsentgelts und der übrigen Leistungsmerkmale fehlen gänzlich; nicht einmal der dem Kläger bewilligte Leistungssatz ist dem Urteil des LSG zu entnehmen. Schon in Ermangelung dieser tatsächlichen Feststellungen muß das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden; denn ohne die genannten Feststellungen kann das Revisionsgericht nicht entscheiden, ob dem Kläger mehr an Alg zusteht, als ihm tatsächlich bewilligt worden ist.

Das angefochtene Urteil verletzt revisibles Recht aber auch, soweit es den Zeitfaktor des dem Alg zugrunde zu legenden Arbeitsentgelts behandelt hat.

Nach § 112 Abs 2 Satz 1 AFG in der 1984 geltenden, zuletzt durch das Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz (AFKG) vom 22. Dezember 1981 (BGBl I 1497) geänderten Fassung, ist Arbeitsentgelt iS des § 111 Abs 2 AFG das im Bemessungszeitraum in der Arbeitsstunde durchschnittlich erzielte Arbeitsentgelt ohne Mehrarbeitszuschläge, vervielfacht mit der Zahl der Arbeitsstunden, die sich als Durchschnitt der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit der Beschäftigungsverhältnisse im Bemessungszeitraum ergibt. Das dem Alg zugrunde zu legende Bemessungsentgelt ist hiernach das Produkt eines Lohn- und eines Zeitfaktors, die beide aus Lohnbedingungen entwickelt werden, die im Bemessungszeitraum maßgebend waren.

Das LSG hat den von der Beklagten angewendeten Zeitfaktor von 40 Stunden gebilligt, weil dies die tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit des Klägers gewesen sei. Es hat dabei – wie die Beklagte – offenbar die Lohnbedingungen im Oktober 1984 zugrunde gelegt, ohne festzustellen, daß der Oktober 1984 der Bemessungszeitraum war, also der letzte Lohnabrechnungszeitraum, der vor dem Ausscheiden des Klägers aus dem Beschäftigungsverhältnis abgerechnet war und insgesamt 20 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt umfaßte (§ 112 Abs 3 AFG). Aber auch wenn dies der Fall gewesen ist, kann aufgrund der bisher getroffenen Feststellungen noch nicht bestätigt werden, daß die tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit 40 Stunden betrug.

Tariflich regelmäßig iS des § 112 Abs 2 AFG ist nach der ständigen Rechtsprechung des Senats die wöchentliche Arbeitszeit, die der Tarifvertrag als eine regelmäßige vorsieht. Hiernach kann als Zeitfaktor nicht eine Arbeitszeit zugrunde gelegt werden, die (zB unter Einschluß von im Tarifvertrag unter besonderen Voraussetzungen zugelassenen Überstunden) überhaupt zulässig ist; sie muß vielmehr gerade eine regelmäßige sein (BSG SozR 4100 § 69 Nr 2 und § 112 Nrn 2, 14 und 22).

Das LSG hat seiner Entscheidung zutreffend den BRTV-Bau vom 3. Februar 1981 zugrunde gelegt. Dieser Tarifvertrag ist vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung für allgemein verbindlich erklärt worden (vgl Bekanntmachung vom 3. Juni 1981, BAnz Nr 111 vom 23. Juni 1981). Gemäß § 5 Abs 4 Tarifvertragsgesetz erfaßten damit seine Rechtsnormen den Kläger und dessen früheren Arbeitgeber auch dann, wenn Kläger und Arbeitgeber nicht schon als Mitglieder der Tarifvertragsparteien tarifgebunden gewesen sein sollten, was den Feststellungen des LSG nicht zu entnehmen ist.

Nach § 3 Nr 1.1 Satz 1 BRTV-Bau beträgt die regelmäßige werktägliche Arbeitszeit acht Stunden, die wöchentliche 40 Stunden. Diese regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit gilt nach dem BRTV-Bau grundsätzlich für alle von ihm erfaßten Arbeitnehmer, dh auch für die Gruppe des Maschinenpersonals, zu der der Kläger als Kranführer gehört hat; denn für diese Gruppe hat der BRTV-Bau keine andere regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit vorgeschrieben. Indessen darf bzw kann für verschiedene Gruppen von Beschäftigten die regelmäßige Arbeitszeit über die in § 3 Nr 1.1 Satz 1 BRTV-Bau festgelegte Arbeitszeit hinaus verlängert werden, und zwar nach § 3 Nr 1.2 BRTV-Bau für das Maschinenpersonal wöchentlich bis zu vier Stunden. Auch eine nach dieser Vorschrift verlängerte Arbeitszeit ist nach dem Tarifvertrag eine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit. Daß § 3 Nr 2.1 BRTV-Bau die über die regelmäßige werktägliche Arbeitszeit der Nr 1.1 hinaus geleisteten Arbeitsstunden als Überstunden (Mehrarbeit) bezeichnet, steht dem nicht entgegen. Abgesehen davon, daß diese Vorschrift ihrem Wortlaut nach sich nicht auf die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit der Nr 1.1, sondern die regelmäßige werktägliche Arbeitszeit bezieht, geht der Charakter der Regelmäßigkeit einer Arbeitszeit nicht dadurch verloren, daß für einzelne Stunden Zuschläge in Höhe des Überstunden-(Mehrarbeits-)Zuschlags zu zahlen sind. Das hat der Senat schon zu § 69 AFG entschieden (SozR 4100 § 69 Nr 2). Für § 112 Abs 2 AFG, dessen Anwendung hier streitig ist, gilt nichts anderes. Dem steht nicht entgegen, daß seit dem AFKG der Lohnfaktor, dh das im Bemessungszeitraum in der Arbeitsstunde durchschnittlich erzielte Arbeitsentgelt ohne Mehrarbeitszuschläge zu ermitteln ist. Denn Mehrarbeitszuschläge in diesem Sinne sind nur Zuschläge, die vom Arbeitgeber allein deshalb gezahlt werden, weil Arbeit über die Arbeitszeitdauer erbracht wird, die die Arbeitsvertragsparteien als die gewöhnliche und regelmäßige ansehen (BSG SozR 4100 § 112 Nr 29). Zuschläge, die für bestimmte (Spitzen-)Stunden innerhalb einer tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit gezahlt werden, die regelmäßig erbringen zu können der Arbeitnehmer einen Anspruch hat, sind daher iS des § 112 Abs 2 AFG keine Mehrarbeitszuschläge (Gagel in Gagel, Komm zum AFG, Stand Februar 1989, § 112 Rz 155).

Legt der Tarifvertrag die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit nicht abschließend fest, sondern ermöglicht er den Betroffenen, die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit innerhalb eines Rahmens zu bestimmen, wie das nach § 3 Nr 1.2 BRTV-Bau der Fall ist, ist für den Zeitfaktor maßgebend die Arbeitszeit, die nach Maßgabe des Tarifvertrages als die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit bestimmt worden ist, was durch Betriebsvereinbarung und Einzelarbeitsvertrag geschehen kann (BSG SozR 4100 § 69 Nr 2 und § 112 Nr 2). Ist also die Arbeitszeit des gesamten Maschinenpersonals des früheren Arbeitgebers des Klägers, einer Gruppe des Maschinenpersonals (zB der Kranführer), zu der der Kläger gehörte, oder allein die des Klägers gemäß § 3 Nr 1.2 BRTV-Bau wirksam verlängert worden, ist die verlängerte Arbeitszeit die tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit. Der Zeitfaktor für die Berechnung des dem Alg zugrundeliegenden Arbeitsentgelts beträgt dann nicht 40, sondern 41, 42, 43 oder 44 Stunden, je nach Ausmaß der Verlängerung.

Das LSG, das diese Zusammenhänge nicht verkannt hat, hat nun gemeint, ein anderer als der Zeitfaktor von 40 könne im Falle des Klägers nicht zugrunde gelegt werden, weil die tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit nicht wirksam verlängert worden sei. Eine Verlängerung setze nämlich nach § 3 Nr 2.4 BRTV-Bau das Einvernehmen mit dem Betriebsrat voraus, an dem es hier fehle. Diese Auffassung ist unrichtig, und zwar im Ausgangspunkt; denn § 3 Nr 2.4 BRTV-Bau bezieht sich nicht auf die Verlängerung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit, wie sie in § 3 Nr 1.2 BRTV-Bau zugelassen ist. An die gegenteilige Auffassung des LSG ist der Senat nicht gebunden. Der Geltungsbereich des BRTV-Bau umfaßt nach seinem § 1 räumlich das gesamte Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, erstreckt sich damit über den Bezirk des Berufungsgerichts mit der Folge hinaus, daß die Anwendung der Vorschriften des BRTV-Bau gemäß § 162 SGG in vollem Umfange der Überprüfung durch das Revisionsgericht unterliegt.

Nach § 3 Nr 2.4 Satz 1 BRTV-Bau kann unbedingt notwendige Mehr-, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit im Einvernehmen mit dem Betriebsrat angeordnet werden. Im Zusammenhang mit der schon erwähnten Bestimmung des § 3 Nr 2.1 BRTV-Bau, nach der Überstunden (Mehrarbeit) die über die regelmäßige werktägliche Arbeitszeit der Nr 1.1 hinaus geleisteten Arbeitsstunden sind, entsteht zwar der Eindruck, als ob auch die Verlängerung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von § 3 Nr 2.4 Satz 1 BRTV-Bau erfaßt würde. Ein solches Verständnis dieser Tarifvorschrift würde indessen dem Zusammenhang der Regelungen nicht gerecht. Die Bestimmung des § 3 Nr 2.4 Satz 1 BRTV-Bau zielt nämlich auf die Anordnung von Arbeit ab, die der Tarifvertrag nicht als regelmäßig vorsieht, wie etwa vorübergehende Arbeit an Sonn- und Feiertagen und des Nachts für Arbeitnehmer, bei denen keine Besonderheiten vorliegen (vgl § 3 Nr 2.3 BRTV-Bau), und macht die Anordnung der Mehr-, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit deshalb davon abhängig, daß sie „unbedingt notwendig” ist. Diese Klausel soll mit Rücksicht auf die Gegebenheiten des Baugewerbes, das im Gegensatz zu anderen Gewerbezweigen in besonderer Weise von Licht- und Wetterverhältnissen abhängig ist, erweitert die Not- und anderen außergewöhnlichen Fälle umschreiben, in denen auch nach anderen Tarifverträgen Arbeit über das tariflich regelmäßige Maß hinaus verlangt werden kann. Die Richtigkeit dieser Auslegung wird durch die nachfolgenden Sätze bestätigt, nach denen die tägliche Arbeitszeit zehn Stunden nicht überschreiten darf, wenn nicht eine Zustimmung der Gewerbeaufsichtsämter vorliegt, und das Anordnungsrecht nicht mißbräuchlich ausgenutzt werden darf. Auch die Gründe, weshalb an die schon bisher in § 3 Nr 2.4 BRTV-Bau vorgesehene Möglichkeit der Anordnung von Mehrarbeit seit der Neufassung 1978 an das Einvernehmen mit dem Betriebsrat geknüpft worden ist, bestärken den Senat in seiner Auffassung. Wie in der 1978 erschienenen 4. Auflage des gemeinsam von Spitzenfunktionären der Tarifvertragsparteien verfaßten Kommentars zum BRTV-Bau von Blumensaat, Sperner, Unkelbach und Weimer berichtet wird (Anm 27 zu § 3), ist die Bestimmung damit textlich § 87 Abs 1 Nr 3 BetrVG angepaßt worden. Nach dieser Vorschrift hat der Betriebsrat, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht, bei einer vorübergehenden Verkürzung oder Verlängerung der betriebsüblichen Arbeitszeit mitzubestimmen. Es geht also um die Einführung von Kurzarbeit oder, was hier entscheidend ist, um die Anordnung von Überstunden (Mehrarbeit).

Die Anordnung unbedingt notwendiger Mehrarbeit über die tarifliche regelmäßige Arbeitszeit hinaus erfordert hiernach das Einvernehmen mit dem Betriebsrat, die Verlängerung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit des Maschinenpersonals um bis zu vier Stunden dagegen nicht. Entgegen der Auffassung des LSG ist eine Verlängerung der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit des Klägers oder der Gruppe, zu der der Kläger gehört hat, deshalb nicht mit der Begründung zu verneinen, daß es an dem Einvernehmen mit dem Betriebsrat iS des § 3 Nr 2.4 Satz 1 BRTV-Bau gefehlt habe. Es stellt sich daher nicht die vom Kläger in den Vordergrund seines Revisionsangriffs gestellten Frage, wann ein Einvernehmen mit dem Betriebsrat angenommen werden kann.

Ob, was nach § 3 Nr 1.2 BRTV-Bau zulässig gewesen ist, die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit des Klägers auf 41, 42, 43 oder 44 Stunden verlängert worden ist, richtet sich nach den allgemeinen Regeln des Arbeitsvertragsrechts. Da der Tarifvertrag insoweit keine besonderen Vorschriften enthält, insbesondere keine Anordnung des Arbeitgebers genügen läßt, ist eine Betriebsvereinbarung oder eine Einzelabrede erforderlich. Eine Betriebsvereinbarung über die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit des Maschinenpersonals oder einzelner Gruppen des Maschinenpersonals scheidet allerdings schon deshalb aus, weil eine solche Vereinbarung nach § 77 Abs 2 BetrVG schriftlich niederzulegen wäre. Eine schriftliche Niederlegung über die Arbeitszeit des Maschinenpersonals liegt indessen nach den eindeutigen Feststellungen des LSG nicht vor. Eine Regelungsabrede, die keiner schriftlichen Niederlegung bedurfte, genügte nicht; denn im Gegensatz zur Betriebsvereinbarung entfaltet die Regelungsabrede keine normative, die einzelnen Arbeitsverhältnisse unmittelbar gestaltende Rechtswirkung. Es reicht aber, wenn eine von § 3 Nr 1.1 BRTV-Bau abweichende, im Rahmen der Nr 1.2 liegende regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit im Einzelarbeitsvertrag des Klägers vereinbart worden ist. Ob das der Fall gewesen ist, hat das LSG nicht festgestellt, was von seiner Rechtsauffassung her auch nicht geboten war. Es fehlt somit auch in diesem Punkte an einer für eine abschließende Entscheidung erforderlichen Feststellung.

Auch deswegen muß das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.

Für die erneute Entscheidung, die auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu umfassen hat, wird auf folgendes hingewiesen: Treffen die Arbeitsvertragsparteien keine ausdrückliche Vereinbarung über die Arbeitszeit, ist im Zweifel anzunehmen, daß sie die Arbeitszeit vereinbaren wollten, die im Zeitpunkt des Eintritts des Arbeitnehmers in den Betrieb für die Gruppe galt, der der Arbeitnehmer zugehören würde. Dabei ist zu beachten, daß die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit sich nicht nur durch die Regelmäßigkeit, sondern auch dadurch kennzeichnet, daß der Arbeitnehmer einerseits verpflichtet ist, regelmäßig wöchentlich die vereinbarte Stundenzahl zu arbeiten, andererseits auch Anspruch hat, daß der Arbeitgeber die vereinbarte Arbeitsleistung vergütet. Dem Arbeitnehmer steht also – bis zu einer wirksamen Änderung der Arbeitszeitbestimmung durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung, Einzelvereinbarung oder Änderungskündigung – für die vereinbarte Arbeitszeit der Lohn auch dann zu, wenn der Arbeitgeber für die Arbeit keine Verwendung hat. Eine Verlängerung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit des Klägers, etwa im Zusammenhang mit der Abordnung an die Baustelle bei W. …, dürfte daher nur dann in Betracht kommen, wenn diese Rechtsfolge von beiden Arbeitsvertragsparteien gewollt gewesen ist.

Ferner wird darauf hingewiesen, daß der Lohnfaktor des dem Alg zugrunde zu legenden Arbeitsentgelts gemäß § 112 Abs 2 Satz 1 AFG ohne Mehrarbeitszuschläge zu ermitteln ist. Dies dürfte die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid übersehen haben, indem sie die Angaben des Arbeitgebers in der Arbeitsbescheinigung zugrunde gelegt hat, ohne sie einer Plausibilitätsprüfung zu unterziehen. Bei Abzug der Mehrarbeitszuschläge iS des § 112 Abs 2 AFG könnte sich ein geringerer Lohnfaktor ergeben, als die Beklagte angenommen hat, und zwar auch dann, wenn der Zeitfaktor 41, 42, 43 oder 44 Wochenstunden beträgt.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174483

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