Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung der Begünstigungsregel des Art 2 § 55 Abs. 2 S. 1 ArVNG
Leitsatz (amtlich)
Die Begünstigungsregel des Art 2 § 55 Abs 2 S 1 ArVNG bezieht sich auf die persönliche Bemessungsgrundlage und damit auf den Rentenbetrag (Anschluß an BSG vom 27.2.1990 - 5 RJ 59/88 = SozR 3 - 5750 Art 2 § 55 Nr 1).
Normenkette
ArVNG Art 2 § 55 Abs 2 S 1
Verfahrensgang
SG Köln (Entscheidung vom 20.03.1989; Aktenzeichen S 2 An 81/88) |
Tatbestand
Die 1922 geborene Klägerin war bis November 1942 als Hausgehilfin, später als Verkäuferin und Kassiererin beschäftigt. Sie bezog von der beklagten Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) seit 1980 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Auf ihren Antrag, Sachbezüge für die Zeit von Oktober 1936 bis November 1942 gemäß Art 2 § 55 Abs 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) zu berücksichtigen, setzte die Beklagte die Rente mit Bescheid vom 28. September 1981 neu fest; dies ergab einen niedrigeren Rentenbetrag, weil die persönliche Bemessungsgrundlage von ursprünglich 45,12 vH auf 43,08 vH abgefallen war.
Mit Bescheid vom 8. Juli 1987, berichtigt (wegen der bei der Berechnung ausgelassenen freiwilligen Beiträge) durch Bescheid vom 8. März 1988, wandelte die Beklagte die Erwerbsunfähigkeitsrente mit Wirkung vom 1. Juni 1987 in das Altersruhegeld um. Mit ihrem hiergegen erhobenen Widerspruch rügte die Klägerin, daß die Beklagte die sich aus der Anlage 2 zu Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG ergebenden Werte der Berechnung zugrunde gelegt habe. Dies führe in ihrem Fall zu einer Rentenminderung; die Formulierung, "wenn es für den Versicherten günstiger ist", könne aber nur auf das Endergebnis der Rentenberechnung abstellen. Die Beklagte wies den Widerspruch, soweit ihm nicht durch Bescheid vom 8. März 1988 abgeholfen worden war, zurück: Es komme nur darauf an, daß im Vergleichszeitraum die Tabellenwerte höher und damit günstiger seien als die nachgewiesenen Beiträge; das treffe hier zu. Auf diese Höherbewertung der Sachbezugszeiten könne auch dann nicht verzichtet werden, wenn sie durch andere Berechnungsvorschriften (§ 32 Abs 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG) zu einer Rentenminderung führe (Widerspruchsbescheid vom 10. August 1988).
Vor dem Sozialgericht Köln (SG) erklärte sich die Beklagte bereit, die Höhe der Erwerbsunfähigkeitsrente neu festzustellen, wenn im anhängigen Verfahren zugunsten der Klägerin ein rechtskräftiges Urteil ergehe.
Die Klage - gerichtet auf Abänderung der Bescheide vom 8. Juli 1987 und 8. März 1988 idF des Widerspruchsbescheides vom 10. August 1988 und Verurteilung der Beklagten, bei der Berechnung des Altersruhegeldes den Sachbezug vom 1. Oktober 1936 bis zum 30. November 1942 außer Acht zu lassen - hat das SG durch Urteil vom 20. März 1989 abgewiesen: Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG sei eindeutig im Sinne der von der Beklagten vertretenen Auffassung und nicht auslegungsfähig. Zwar werde der Zweck der Vorschrift im Falle der Klägerin in sein Gegenteil verkehrt; es gebe aber keine Möglichkeit, dieses unbillige Ergebnis, wie es bei Anwendung abstrakter Rechtsnormen im Einzelfall vorkommen könne, durch Richterrecht zu korrigieren. Das SG hat die Sprungrevision in seinem Urteil zugelassen.
Die Klägerin hat mit schriftlichem Einverständnis der Beklagten Revision eingelegt. Sie meint, der Wortlaut des Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG lasse offen, ob sich die Formulierung, "wenn es günstiger ist", auf den Vergleich der nachgewiesenen Beiträge mit den Tabellenwerten beziehe oder auf das für den Versicherten insgesamt günstigere Ergebnis bei der Rentenhöhe. Der Normzweck spreche aber für ihre - der Klägerin - Auffassung. Es könne nicht die Anwendung einer anderen, ebenfalls begünstigenden Norm (§ 32 Abs 4 AVG) durch Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG ausgeschlossen werden.
Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 20. März 1989 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 8. Juli 1987 und 8. März 1988 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10. August 1988 zu verurteilen, bei der Berechnung des Altersruhegeldes den Sachbezugszeiten vom 1. Oktober 1936 bis zum 30. November 1942 keine Tabellenwerte zugrundezulegen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend mit dem Hinweis, eine auf den Endwert abhebende Auslegung würde Versicherte mit einer dem tatsächlichen Entgelt entsprechenden Beitragsleistung schlechter stellen als die im Sinne von Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG "Unterversicherten". Das als negativ empfundene Ergebnis beruhe auf § 32a Abs 2 Satz 3 AVG.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG).
Entscheidungsgründe
Die vom SG zugelassene, den Formerfordernissen auch des § 161 SGG genügende sowie fristgerecht eingelegte und damit zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Zu Unrecht haben Vorinstanz und Beklagte den Anspruch der Klägerin verneint, bei der Rentenberechnung (auch) den Sachbezugszeiten die tatsächlich geleisteten Beiträge bzw erzielten Bruttoarbeitsentgelte - und nicht die Tabellenwerte der Anlage 2 zu Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG - zugrunde zu legen.
Nach Art 2 § 55 Abs 2 Satz 1 ArVNG (die nur zum Teil inhaltsgleiche Vorschrift des AnVNG ist hier nicht anwendbar, weil es sich um die Bewertung von Zeiten der Arbeiterrentenversicherung - früher: Invalidenversicherung - handelt) sind, wenn glaubhaft gemacht wird, daß der Versicherte während mindestens fünf Jahren für eine versicherungspflichtige Beschäftigung neben Barbezügen in wesentlichem Umfang Sachbezüge erhalten hat, bei Renten aus Versicherungsfällen nach dem 31. Dezember 1956 für Zeiten vor dem 1. Januar 1957 zur Ermittlung der für den Versicherten maßgebenden Rentenberechnungsgrundlage für jeden Monat einer solchen Beschäftigung nach Maßgabe der Anlage 1 a) für Zeiten bis zum 28. Juni 1942 für jede Woche die Lohn-
oder Beitragsklassen der Tabellen der Anlage 2 und
b) für Zeiten vom 29. Juni 1942 an die Bruttojahresarbeitsentgelte
der Tabellen der Anlage 2
zugrunde zu legen, wenn es für den Versicherten günstiger ist. Für Zeiten der Ausbildung als Lehrling oder Anlernling finden die Tabellen keine Anwendung (Satz 2 aaO).
Der 5. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat bereits in dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 27. Februar 1990 - 5 RJ 59/88 - zu einem im wesentlichen entsprechenden Sachverhalt ausgeführt, ergebe ein Vergleich der Rentenberechnung, die unter Anwendung des Art 2 § 55 ArVNG erfolge, gegenüber der Rentenberechnung, die ohne Anwendung der Regelung vorgenommen werde, daß die erste Berechnungsmethode für den Versicherten "nicht günstiger" ist - also entweder zum gleichen oder sogar zu einem schlechteren Ergebnis führt -, so sei die Berechnung nicht nach Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG vorzunehmen, sondern nach den sonst geltenden allgemeinen Bestimmungen (S 4 des Urteils). An anderer Stelle (S 5 aaO) hat der 5. Senat des BSG aus dem Zweck der Vorschrift abgeleitet, daß die Regelung nur im Zusammenhang mit den anderen für die Rentenberechnung maßgebenden Vorschriften verstanden werden könne und ihre als Begünstigung gemeinte Intention nicht dadurch unterlaufen werden dürfe, daß bei ihrer Anwendung andere für den Versicherten günstige Regelungen in ihrer Bedeutung für die Rentengewährung geschmälert würden; folglich könne sich das gesetzliche Kriterium "günstiger" nur auf das für den Versicherten jeweils daraus resultierende Gesamtergebnis, dh den konkret errechneten endgültigen Zahlbetrag, beziehen.
Der erkennende Senat folgt diesem Ergebnis. Dabei spricht nach seiner Ansicht schon der Gesetzeswortlaut für die Klägerin. Die vom Gesetzgeber gewählte Formel "wenn es für den Versicherten günstiger ist" hebt nicht auf irgendein Zwischenergebnis, sondern auf das Endergebnis, auf die (Höhe der) Leistung ab; nichts anderes kann für den Versicherten, von dessen Rechtsposition das Gesetz ausgeht, günstiger sein, als diejenige von zwei oder mehreren Berechnungsmethoden - insbesondere was die Reihenfolge einzelner Berechnungsstufen angeht -, die zum höchsten Rentenbetrag führt. Mit einer solchen "Begünstigungsregel" verträgt sich keine "isolierte", lediglich auf eine Zwischenstufe, ein Zwischenergebnis abstellende Betrachtungsweise (vgl zur "Begünstigungsregel" Urteile des Senats vom 12. Juli 1988 - 4/11a RA 78/87 = BSGE 63, 293, 296 = SozR 2200 § 1280 Nr 3 und vom 12. Juli 1990 - 4 RA 50/89 -, dort im Zusammenhang damit, daß nach § 1280 Abs 1 Reichsversicherungsordnung - RVO = § 57 Abs 1 AVG von zwei Zurechnungszeiten "nur die für den Berechtigten günstigere angerechnet" wird). Die enge, allein auf den Vergleich der tatsächlichen Werte mit den Tabellenwerten abzielende Rechtsansicht der Beklagten träfe zu, wenn das Gesetz etwa lauten würde ..."wenn sie höher sind" (höher nämlich als die tatsächlichen Lohn- oder Beitragsklassen oder Bruttoarbeitsentgelte). Der Gesetzgeber hat aber eine solche konkret-einengende Fassung, die dann nahegelegen hätte, wenn die von der Beklagten angestrebte Lösung sein Ziel gewesen wäre, gerade nicht gewählt.
Hinzu kommt, daß nach Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG die genannten Tabellenwerte "zur Ermittlung der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage" zugrunde zu legen sind, wenn es für den Versicherten günstiger ist. Es wird also ein Zusammenhang mit dem Vomhundertsatz des § 32 Abs 1 AVG (= § 1255 Abs 1 RVO), der sogenannten persönlichen Bemessungsgrundlage, hergestellt. Dann ist es jedoch nur folgerichtig, § 32 Abs 4 AVG einzubeziehen, der die mit Pflichtbeiträgen belegten Kalendermonate der ersten fünf Kalenderjahre seit Eintritt in die Versicherung einer besonderen Bewertungsregel unterwirft und, sofern diese Jahre vor 1964 enden, anordnet, daß sie "außer Betracht" bleiben, wenn sich dadurch ein höherer Monatsdurchschnitt aus den bis zum 31. Dezember 1964 zurückgelegten Beitragszeiten ergibt (Abs 4 Satz 2 Buchst a, hiervon Satz 1 aaO). Auch hierin liegt eine "Begünstigungsregel", wenn dies auf den ersten Blick auch nicht ohne weiteres ersichtlich sein mag; sie ist sogar durchschlagend insofern, als die Nichtberücksichtigung der ersten fünf Jahre in diesen Fällen schon zu einer höheren Rente führt, dies aber, da die nicht zu berücksichtigenden Beitragszeiten wie Ausfallzeiten zu bewerten sind (aaO Buchst a Satz 2), nicht selten - so auch hier - wegen der Regeln für die Bewertung beitragsloser und (bisher) unbewerteter Zeiten einen weiteren rentensteigernden Effekt nach sich zieht. Sind nämlich - wie im vorliegenden Fall - für die vor 1965 liegenden Zeiten nicht mehr als 60 Kalendermonate mit Beiträgen belegt (als nicht belegt gelten hier auch Monate der ersten fünf Jahre, die gemäß § 32 Abs 4 Buchst a Sätze 1 und 2 AVG bei der Ermittlung der persönlichen Bemessungsgrundlage außer Betracht zu lassen und wie Ausfallzeiten zu bewerten sind, vgl BSG SozR 2200 § 1255a Nr 18 S 47 mwN), wird mindestens der nach Anlage 1 zu § 32a AVG maßgebende Wert zugrunde gelegt (§ 32a Abs 2 Nr 3 AVG). Dieser Wert lag nach der Berechnungserläuterung, welche die Beklagte während des Revisionsverfahrens zur früheren Erwerbsunfähigkeitsrente der Klägerin gegeben hat, noch bei 6,38. Er beträgt jetzt (seit 1983) 7,50.
Wenn sich somit im Ergebnis ohne Berücksichtigung der an sich höheren Tabellenwerte zu Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG ein höherer Rentenbetrag ergibt, weil die Günstigkeitsregel des § 32 Abs 4 Buchst a Sätze 1 und 2 greift, so muß diese Berechnungsweise zugrunde gelegt werden, weil "es für den Versicherten günstiger ist". Auch der Normzweck des Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG gebietet, kein günstiges Zwischenergebnis für die weitere Rentenberechnung festzuschreiben, wenn dadurch die Anwendung einer anderen "Günstigkeitsregel" ausgeschaltet und als Folge dessen ein niedrigerer Endbetrag bewirkt würde.
Die gegen die gefundene Lösung von der Beklagten vorgebrachten Argumente überzeugen nicht. Es kann kein Vergleich gezogen werden zwischen der Klägerin und einem Versicherten, der aufgrund tatsächlich entrichteter Beiträge oder erzielter Bruttoarbeitsentgelte die Werteinheiten erzielt hat, die der Klägerin erst aufgrund der Tabellenwerte zu Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG (zum Bewertungsvergleich) zugeordnet werden können. Zwar mag zutreffen, daß - wie die im Falle der Klägerin durchgeführten Berechnungen zeigen - § 32 Abs 4 AVG in Grenzfällen zu Ungereimtheiten führt, weil ein Mehr an Werteinheiten zu einem Weniger bei der persönlichen Bemessungsgrundlage und damit einer niedrigeren Rente führen kann. Das rechtfertigt aber nicht, eine Verschlechterung durch Anwendung des Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG in Kauf zu nehmen, der nach Wortlaut, Sinn und Zweck des Gesetzes (nur) eine Vergünstigung soll bewirken können. Soweit die Beklagte meint, die Rentenminderung beruhe auf § 32a Abs 2 Satz 3 AVG, ist dies - wie ausgeführt - nicht der Grund für, sondern die Folge der vom Senat für richtig befundenen Berechnungsmethode bei der Anwendung des Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG.
Nach alledem mußte die Revision der Klägerin Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen