Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachsichtgewährung bei Fristversäumnis für Beitragsnachentrichtung. Interessenabwägung
Orientierungssatz
Spricht in der Person eines Versicherten alles für eine Nachsichtgewährung und stehen dem annähernd gleichwertige Verwaltungsinteressen nicht entgegen, dann hat die Rechtsgemeinschaft ein besonderes Interesse daran, daß der Versicherte wie alle Wiedergutmachungsberechtigten, die die materiellen Voraussetzungen der ihnen vom Gesetzgeber zugedachten Vergünstigungen erfüllen, diese Vergünstigung auch tatsächlich erhält.
Normenkette
WGSVG § 10 Fassung: 1970-12-22, § 10a Fassung: 1975-04-28
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 14.06.1984; Aktenzeichen L 1 J 55/83) |
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 27.09.1983; Aktenzeichen S 12(9,10) J 73/81) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin berechtigt ist, Beiträge nach § 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) nachzuentrichten.
Die 1923 in Berlin geborene Klägerin ist rassisch Verfolgte. Sie wanderte im September 1940 aus Deutschland aus und lebt seit Kriegsende im heutigen Israel. Am 23. Dezember 1975 (bei der Beklagten eingegangen am 31. Dezember 1975) beantragte sie unter Verwendung des Formulars "D" die Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 49a Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) bzw Art 2 § 51a Abs 2 des Arbeiterrenten- versicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) und nach § 10a WGSVG unter Angabe, daß ihr als Verfolgten ein Ausbildungsschaden zuerkannt worden sei. Mit Schreiben vom 11. November 1976 teilte sie der Beklagten durch ihren jetzigen Bevollmächtigten mit, daß sie von Mai 1940 bis zu ihrer Auswanderung zwangsweise zu Arbeiten in den Z herangezogen worden sei. In einem weiteren Schreiben vom 30. November 1976 wies ihr Bevollmächtigter die Beklagte darauf hin, daß sie im Jahre 1975 "die Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen" beantragt habe. Mit Bescheid vom 29. Juni 1978 erkannte die Beklagte die Zeit vom 1. Mai 1940 bis 15. September 1940 als glaubhaft gemachte Beitragszeit und die anschließende Zeit bis Ende 1949 als Ersatzzeit an. Den mit Verrechnungsscheck über 8.496 DM eingezahlten Nachentrichtungsbetrag machte die Klägerin am 11. Juni 1979 als Nachentrichtung "gemäß § 10 des WGSVG" geltend. Dies lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, die Antragsfrist sei insoweit verstrichen. Eine Umdeutung der vor Fristablauf gestellten Anträge nach § 10a WGSVG und Art 2 § 51a Abs 2 ArVNG in einen solchen nach § 10 WGSVG sei nicht möglich, da seinerzeit nicht ersichtlich gewesen sei, daß die Voraussetzungen des § 10 WGSVG erfüllt gewesen bzw in Betracht gekommen seien (Bescheid vom 14. September 1979). Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts -SG Düsseldorf vom 27. September 1983, Urteil des Landessozialgerichts -LSG- für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. Juni 1984). Das LSG hat unter Bezugnahme auf das Urteil des Senats vom 30. Januar 1980 - 12 RK 16/79 - (SozR 5070 § 10a Nr 3) ausgeführt, nach Sachlage könne der vor Fristablauf eingegangene Antrag der Klägerin nicht in dem von ihr gewünschten weitgehenden Sinn ausgelegt werden. Ihre Erklärung sei in jeder Hinsicht so eindeutig gewesen, daß ihr damaliger Antrag nur auf die darin ausdrücklich genannten Bestimmungen habe bezogen werden müssen. Auch aus den von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) entwickelten Grundsätzen der Nachsichtgewährung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben lasse sich eine Berechtigung zur Beitragsnachentrichtung nicht herleiten. Eine Nachsichtgewährung sei regelmäßig nur möglich, wenn die versäumte Rechtshandlung innerhalb eines Jahres nachgeholt worden sei. Die Umstände des Falles gäben keine Veranlassung, ausnahmsweise Nachsicht bei einer Fristüberschreitung von dreieinhalb Jahren zu gewähren.
Mit der - vom Senat durch Beschluß vom 18. Dezember 1984 zugelassenen - Revision macht die Klägerin geltend, daß ihr im Zeitpunkt der Antragstellung die in Betracht kommenden einzelnen Vorschriften nicht hätten bekannt sein können bzw daß sie deren Auswirkung auf den konkreten Fall nicht habe übersehen können. Die Auslegung des von ihrem Vater im Dezember 1975 gestellten Formularantrages dürfe sich nicht an den Wortlaut der dort gewählten Ausdrücke klammern. Vielmehr sei der Sinn des Nachentrichtungsantrags zu erforschen. Selbstverständlich habe ihr Vater auf jeden Fall die günstigsten Nachentrichtungsmöglichkeiten geltend machen wollen. In seinem Schreiben vom 30. November 1976 habe ihr Bevollmächtigter auf den Nachentrichtungsantrag vom Dezember 1975 Bezug genommen in der Annahme, dieser Antrag habe alle hier vorliegenden Nachentrichtungsmöglichkeiten eingeschlossen. Es hätte bei anderer Ansicht der Beklagten im Rahmen ihrer Fürsorge- und Förderungspflicht gelegen, von Anfang an darauf hinzuweisen, daß der Antrag von 1975 sich nur auf § 10a WGSVG in Verbindung mit den allgemeinen Vorschriften beziehe und die gegebenenfalls auch vorhandene Nachentrichtungsmöglichkeit nach § 10 WGSVG nicht mit einbezogen sei.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Beklagte unter Aufhebung aller Vorentscheidungen zu verurteilen, ihr die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG zu gestatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie vertritt weiterhin die Auffassung, innerhalb der am 31. Dezember 1975 abgelaufenen Ausschlußfrist sei ein Antrag auf Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG nicht gestellt worden und der Antrag vom 23. Dezember 1975 sei nicht auslegungsfähig.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet. Die Beklagte ist entgegen der Auffassung des LSG nicht berechtigt, der Klägerin die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG zu verweigern.
Daß die Klägerin die persönlichen und sachlichen Voraussetzungen des § 10 WGSVG erfüllt, steht unstreitig fest. Die Nachentrichtung nach dieser Vorschrift scheitert auch nicht daran, daß die Klägerin in ihrem Antrag vom 23. Dezember 1975 nur die im Formblatt vorgedruckten Vorschriften, ua die des § 10a WGSVG, angekreuzt und dazu vermerkt hat, ihr sei ein Ausbildungsschaden rechtskräftig zuerkannt worden, dagegen den - im Formblatt nicht aufgeführten - § 10 WGSVG nicht genannt hat. Ob die deswegen von der Beklagten und vom LSG vertretene Auffassung zutrifft, hierdurch habe die Klägerin in einer der Auslegung nicht mehr zugänglichen Weise eindeutig erklärt, sie wolle ihren Nachentrichtungsanspruch als Verfolgte ausschließlich auf § 10a WGSVG stützen, läßt der Senat offen. Immerhin erscheint es nicht zwingend, daß sich die Klägerin in dem Antrag vom 23. Dezember 1975 "gezielt" auf die Nachentrichtungsmöglichkeit nach § 10a WGSVG hatte beschränken und damit auf die Nachentrichtung nach der vorrangigen Vorschrift des § 10 WGSVG hatte verzichten wollen. Bei ihrer Rechtsunkundigkeit konnte ihr Wille vielmehr darauf gerichtet gewesen sein, die zustehende Wiedergutmachung durch eine Beitragsnachentrichtung nach allen für sie in Betracht kommenden Vorschriften des WGSVG zu erlangen. Daß dieser Wille nicht auch einen, wenngleich undeutlichen Ausdruck in der Erklärung der Klägerin gefunden hat, kann allein mit dem Hinweis auf die Entscheidung des Senats vom 30. Januar 1980 (SozR 5070 § 10a Nr 3), auf die sich das LSG stützt, nicht verneint werden. Dort ist nur ausgesprochen worden, es gebe keine allgemeine Auslegungsregel, nach der ein Antrag nach Art 2 § 49a AnVNG im Zweifel zugleich als Nachentrichtungsantrag nach § 10a WGSVG anzusehen sei. Die Gründe, die den Senat seinerzeit bewogen haben, insoweit eine eine allgemeine Auslegungsregel abzulehnen, sind auf das Verhältnis der Nachentrichtungsvorschriften des § 10 WGSVG und § 10a WGSVG nicht ohne weiteres übertragbar. Diese - im selben Gesetz enthaltenen und Verfolgte betreffenden - Vorschriften differieren im Nachentrichtungszeitraum weit weniger; sie ergänzen sich zudem und stehen damit in einer inneren Beziehung. Letztlich kann das aber im vorliegenden Fall dahinstehen.
Das Begehren der Klägerin, Beiträge nach § 10 WGSVG nachzuentrichten, ist nämlich schon deshalb begründet, weil nicht nur auf den Antrag vom 23. Dezember 1975 abzustellen ist. Als ein Antrag nach § 10 WGSVG ist jedenfalls auch das Schreiben des Bevollmächtigten der Klägerin vom 30. November 1976 anzusehen, in dem nur noch allgemein von einer "Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen" die Rede ist. Diese Erklärung ist einer Auslegung dahin zugänglich, daß die Nachentrichtung auch auf die mit diesem Schreiben (und auch schon mit dem Schreiben vom 11. November 1976) mitgeteilte Beschäftigung und eine auf ihr beruhende mögliche Beitragszeit im Jahre 1940, also auf den Tatbestand des § 10 WGSVG, gestützt werde. Der damit noch innerhalb eines Jahres nach Ablauf der Antragsfrist (31. Dezember 1975) bei der Beklagten eingegangene Antrag kann nicht wegen Fristversäumnis abgelehnt werden, weil für ihn die Voraussetzungen der Nachsichtgewährung zutreffen (vgl hierzu die Entscheidungen des Senats in BSGE 48, 12; SozR 5070 § 10 Nr 22; SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 49). Der seinerzeit nicht rechtskundig vertretenen Klägerin kann nicht im Sinne eines mitwirkenden Verschuldens vorgeworfen werden, sie habe es im Dezember 1975 versäumt, ihren Antrag ausdrücklich auch auf § 10 WGSVG zu stützen und schon damals mit der erst später vorgetragenen, hinsichtlich der Versicherungspflicht und Beitragsentrichtung zunächst zweifelhaften und weitere Ermittlungen erfordernden Beschäftigung im Jahre 1940 zu begründen. Ihr muß vielmehr zugute gehalten werden, daß sie glauben durfte, mit dem Antrag vom 23. Dezember 1975 das Erforderliche getan zu haben, um zu ihrem Recht zu gelangen. Von der streitigen Nachentrichtung hängt die Höhe der für ihren Lebensunterhalt erforderlichen Rente ab, so daß für sie erhebliche langfristige Interessen auf dem Spiel stehen. Ein beachtliches Interesse der Beklagten an der Fristwahrung kann demgegenüber nicht anerkannt werden. Das Verwaltungsinteresse an einer klaren und einfach zu handhabenden Fristenregelung wird hierbei schon deshalb nicht verletzt, weil die Beklagte bereits mit dem fristgerechten Antrag vom Dezember 1975 von dem Nachentrichtungsbegehren der Klägerin Kenntnis erlangt hatte und bei Eingang des späteren Antrags noch nicht in die Bearbeitung eingetreten war. Spricht somit in der Person der Klägerin alles für eine Nachsichtgewährung und stehen dem annähernd gleichwertige Verwaltungsinteressen nicht entgegen, dann hat die Rechtsgemeinschaft ein besonderes Interesse daran, daß die Klägerin wie alle Wiedergutmachungsberechtigten, die die materiellen Voraussetzungen der ihnen vom Gesetzgeber zugedachten Vergünstigungen erfüllen, diese Vergünstigung auch tatsächlich erhält.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen