Entscheidungsstichwort (Thema)

Erstattungsanspruch des unzuständigen Leistungsträgers (§ 105 SGB 10). Erstattungsanspruch. Beurteilung der Notwendigkeit der Kranken(haus)pflege gerichtliche Nachprüfbarkeit

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Im Erstattungsverfahren, in dem der unzuständige Leistungsträger Sozialleistungen beim zuständigen Leistungsträger geltend macht (§ 105 SGB 10), bedarf es der Feststellung aller Anspruchsvoraussetzungen für die Leistung.

2. Hat ein Unfallversicherungsträger stationäre Behandlung in der irrtümlichen Annahme eines Ursachenzusammenhangs mit Folgen eines Arbeitsunfalles gewährt, dann hat der erstattungspflichtige Krankenversicherungsträger die Behandlungskosten nur insoweit zu erstatten, als die Krankenhauspflege medizinisch notwendig war.

 

Orientierungssatz

1. Bei der Bestimmung von Art und Dauer einer notwendigen Krankenhauspflege ist dem hierzu berufenen behandelnden Arzt kein weiter Beurteilungsspielraum eingeräumt.

2. Für die Erstattungspflicht der Krankenkasse ist maßgebend, ob die gewährte Kranken(haus)pflege nach objektiven Maßstäben notwendig war. Diese Beurteilung unterliegt voller gerichtlicher Nachprüfung. Eine andere Frage ist es, ob die Krankenkasse - oder im Rechtsstreit das Tatsachengericht - im konkreten Falle im Rahmen der Beweiswürdigung häufig der Beurteilung des behandelnden Arztes folgen wird, weil er aufgrund seiner Sachnähe regelmäßig am ehesten in der Lage ist, die Notwendigkeit einer bestimmten Maßnahme zu beurteilen. Dies bedeutet aber nicht, daß der Arzt die Krankenkasse zu Leistungen auch dann verpflichten kann, wenn diese objektiv nicht notwendig sind.

 

Normenkette

RVO § 184 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1973-12-19, § 182 Abs. 2 Fassung: 1930-07-26; SGB 10 § 105 Fassung: 1982-11-04

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 25.11.1983; Aktenzeichen L 4 Kr 234/83)

SG Mannheim (Entscheidung vom 03.01.1983; Aktenzeichen S 4 Kr 853/82)

 

Tatbestand

Der bei der beklagten Betriebskrankenkasse versicherte Chemiearbeiter Werner M (M.), der am 26. November 1980 anläßlich der Heimfahrt von der Arbeit mit dem rechten Fuß umgeknickt war, litt nach dem Bericht des Durchgangsarztes vom 28. November 1980 an einer Distorsion des rechten Kniegelenks und Innenbandzerrung mit beginnendem Gelenkerguß. Bei einer (zweiten) stationären Behandlung vom 5. bis 26. Januar 1981 wurde ihm der Meniskus im rechten Knie operativ entfernt. Ein Ursachenzusammenhang mit dem Ereignis vom 26. November 1980 wurde ärztlicherseits verneint.

Die klagende Berufsgenossenschaft verlangte daraufhin von der Beklagten Erstattung der von ihr insgesamt aufgewendeten Kosten von 6.323,35 DM. Die Beklagte erklärte sich zur Übernahme eines Betrages von 4.869,13 DM bereit und legte hierbei der Abrechnung der stationären Behandlungskosten anläßlich der Meniskusoperation nur einen Zeitraum von 14 Tagen zugrunde, weil dies der üblichen Verweildauer bei einer derartigen Operation entspreche. Auch nach Einholung einer Auskunft von dem behandelnden Krankenhausarzt Prof. Dr. L vom 19. Mai 1981, der die 22tägige Behandlungsdauer für insgesamt erforderlich erachtet hatte, war die Beklagte nicht zur Zahlung des Differenzbetrages bereit.

Mit der beim Sozialgericht (SG) Mannheim erhobenen Klage beantragte die Klägerin, die Beklagte zur Zahlung des Restbetrages von 1.256,40 DM (8 Tage je 157,05 DM) zu verurteilen. Die Klage hatte Erfolg (Urteil des SG Mannheim vom 3. Januar 1983); die Berufung der Beklagten ist zurückgewiesen worden (Urteil des Landessozialgerichts -LSG Baden-Württemberg- vom 25. November 1983). Das LSG hat ausgeführt, die Beklagte sei als zuständiger Leistungsträger verpflichtet, der Klägerin die aufgewendeten Kosten in vollem Umfang zu ersetzen (§ 1509a der Reichsversicherungsordnung -RVO- bzw § 105 des 10. Buches des Sozialgesetzbuches -SGB X-). Eine Verweildauer von 22 Tagen sei nach der Stellungnahme des behandelnden Arztes erforderlich gewesen. Die Einholung des von der Beklagten beantragten Sachverständigengutachtens sei nicht geboten, weil die Bestimmung von Art und Dauer einer - auch stationären - Behandlung grundsätzlich Aufgabe des behandelnden Arztes sei, dem hierbei ein weiter Beurteilungsspielraum einzuräumen sei. Diese Entscheidung könne nicht von einem Sachverständigen, der nicht die Verantwortung für die Gesamtbehandlung trage, getroffen werden.

Mit ihrer - vom Revisionsgericht zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 184 Abs 1 Satz 2 iVm § 182 Abs 2 RVO. Das LSG sei in Abweichung von der - im einzelnen dargelegten - Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) davon ausgegangen, daß die Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit der Krankenhauspflege dem behandelnden Arzt übertragen sei, dem insoweit ein weiter, gerichtlicher Nachprüfung nur beschränkt zugänglicher Beurteilungsspielraum eingeräumt sei. Demgegenüber komme es nach der Rechtsprechung des BSG darauf an, ob die Krankenhauspflege nach objektiven Gesichtspunkten medizinisch notwendig sei. Dies sei ggf durch Anhörung neutraler ärztlicher Sachverständiger festzustellen. Das LSG habe insoweit ihren Beweisantrag ohne hinreichende Begründung abgelehnt und damit gegen § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verstoßen.

Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Baden-Württemberg zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Eine Divergenz zur Rechtsprechung des BSG sei nicht ersichtlich. Auch ein Verfahrensmangel liege nicht vor.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.

Die beklagte Betriebskrankenkasse hat bereits anerkannt, daß sie als der zuständige Leistungsträger verpflichtet ist, der klagenden Berufsgenossenschaft die für die stationäre Behandlung des M. (vom 5. bis 26. Januar 1981) aufgewendeten Kosten für eine Verweildauer von 14 Tagen zu ersetzen. Streitig ist allein, ob M. auch für die weitere Verweildauer von 8 Tagen stationäre Behandlung benötigte. Der Senat kann - wie das LSG - offenlassen, ob die Erstattungspflicht nach altem Recht - hier § 1509a RVO - zu beurteilen ist oder ob § 105 SGB X anzuwenden ist, der den am 30. Juni 1983 außer Kraft getretenen § 1509a RVO ersetzt hat (vgl Art II § 3 Nr 1 und § 21 des Gesetzes vom 4. November 1982, BGBl I 1450; vgl zu Art II § 21 die zur Veröffentlichung vorgesehenen Urteile des BSG vom 1. Dezember 1983 - 4 RJ 91/82 -; 28. März 1984 - 9a RV 50/82 -; 22. Mai 1984 - 8 RK 45/83 - und 24. Mai 1984 - 7 RAr 97/83). Denn nach beiden Vorschriften richtet sich der Umfang der Erstattungspflicht nach den für den zuständigen Leistungsträger - die Krankenkasse - geltenden Rechtsvorschriften, also nach § 184 RVO. Danach war Krankenhauspflege auch für weitere 8 Tage erforderlich, wenn auch in dieser Zeit die notwendige medizinische Versorgung nur mit den Mitteln eines Krankenhauses durchgeführt werden konnte und eine ambulante ärztliche Versorgung nicht ausreichte (vgl BSGE 28, 199 ff = SozR Nr 22 zu § 1531 RVO; SozR Nr 30 zu § 184 RVO; SozR 2200 § 184 Nr 15). Nach dem für die Krankenhauspflege entsprechend geltenden § 182 Abs 2 RVO darf auch deren Dauer nicht das Maß des Notwendigen übersteigen (§ 184 Abs 1 Satz 2 RVO).

Das LSG hat zu Unrecht angenommen, bei der Bestimmung von Art und Dauer der notwendigen Krankenhauspflege sei dem hierzu berufenen behandelnden Arzt ein weiter Beurteilungsspielraum eingeräumt, der nur in beschränktem Umfang gerichtlicher Überprüfung unterliege. Ein anderer Arzt bzw ein medizinischer Sachverständiger, der nicht die Verantwortung für die Gesamtbehandlung trage, könne diese Beurteilung nicht selbst treffen.

Zwar handelt es sich bei dem Begriff der "Notwendigkeit" iS von § 184 Abs 1 Satz 2 iVm § 182 Abs 2 RVO um einen unbestimmten Rechtsbegriff, bei dem die Zuordnung bestimmter Einzelsachverhalte in vielen Fällen unsicher ist. Ob in diesem Bereich hermeneutischer Unsicherheit ein "Beurteilungsspielraum" gesehen werden kann, kann letztlich offenbleiben. Denn ein solcher Beurteilungsspielraum könnte allenfalls der Verwaltung (Krankenkasse), nicht aber dem behandelnden Arzt zustehen. Es trifft insbesondere nicht zu - wie das LSG offenbar meint -, daß die Beurteilung der Notwendigkeit der Kranken(haus)pflege stets dem höchstpersönlichen Fachurteil des behandelnden Arztes - etwa als des gesetzlich zu diesem Zwecke berufenen Sachwalters - überantwortet und deshalb dessen Einschätzung - gerade wegen seiner höchstpersönlichen Zuständigkeit für diese Entscheidung - grundsätzlich unüberprüfbar wäre (vgl dazu allgemein Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl, § 31 Ic S 190 f, 193/194). Entscheidend für die Erstattungspflicht der Krankenkasse ist vielmehr, ob die gewährte Kranken(haus)pflege nach objektiven Maßstäben notwendig war. Diese Beurteilung unterliegt voller gerichtlicher Nachprüfung. Eine andere Frage ist es, ob die Krankenkasse - oder im Rechtsstreit das Tatsachengericht - im konkreten Falle im Rahmen der Beweiswürdigung häufig der Beurteilung des behandelnden Arztes folgen wird, weil er aufgrund seiner Sachnähe regelmäßig am ehesten in der Lage ist, die Notwendigkeit einer bestimmten Maßnahme zu beurteilen. Dies bedeutet aber nicht, daß der Arzt die Krankenkasse zu Leistungen auch dann verpflichten kann, wenn diese objektiv nicht notwendig sind. Ob in Ausnahmefällen etwas anderes gilt - etwa wenn der Arzt in Notfällen von sich aus die Aufnahme in ein Krankenhaus veranlaßt hat (vgl BSGE 55, 37/38) - bedarf hier keiner Entscheidung. Jedenfalls dann, wenn - wie hier - die Krankenkasse Kosten für eine stationäre Behandlung erstatten soll, die nicht sie selbst, sondern ein Dritter - hier die BG - dem Versicherten verschafft hat, bedarf es im Erstattungsverfahren der Feststellung aller Anspruchsvoraussetzungen (vgl zu dem ähnlichen Fall, in dem sich der Versicherte die Leistung selbst verschafft hat, Urteil des erkennenden Senats vom 23. Oktober 1984 - 8 RK 12/84 -). Dem Zusammenhang der vom LSG getroffenen Feststellungen ist insoweit zu entnehmen, daß die hier streitige Krankenhausbehandlung zur Abklärung möglicher Folgen eines Arbeitsunfalles von der klagenden BG veranlaßt worden ist, die auch die hieraus entstandenen Kosten getragen hat. Das Tatsachengericht hat deshalb - abweichend von der Ansicht des LSG - im Rechtsstreit über die Erstattung der von der Klägerin aufgewendeten Kosten die Notwendigkeit der Krankenhauspflege in vollem Umfang nachzuprüfen, ohne daß die gerichtliche Entscheidungsbefugnis insoweit durch einen Beurteilungsspielraum des behandelnden Krankenhausarztes eingeschränkt wäre.

Die vom LSG getroffenen Tatsachenfeststellungen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus. Das LSG wird festzustellen haben, ob die über 14 Tage hinausgehende Behandlung nur mit den Mitteln eines Krankenhauses sachgerecht möglich war, ob also eine ambulante Behandlung nicht ausgereicht hätte. Diese Feststellung wird es treffen müssen, ohne sich an die Beurteilung des behandelnden Arztes gebunden zu fühlen. Dabei kann es von Bedeutung sein, wann die Meniskusoperation erfolgte, welche Zeit vorher für eine herz- und kreislaufmäßige Voruntersuchung erforderlich war, insbesondere ob diese als Teilleistung zur Vorbereitung einer stationären Behandlung selbst notwendig stationär erbracht werden mußte und ob dies auch für die durchgeführte nachoperative Behandlung mit Krankengymnastik gilt.

Der Rechtsstreit war deshalb zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten für das Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1660622

AusR 1990, 14

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