Entscheidungsstichwort (Thema)
Familienhilfe. Familienversicherung. Übergangsregelung. Selbstvollzug des Gesetzes. verfassungskonforme Auslegung. Rechtssicherheit. Rechtsklarheit. lückenloser Versicherungsschutz
Leitsatz (amtlich)
- Einen Selbstvollzug des Gesetzes gibt es im Sozialverwaltungsrecht – also auch im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung – grundsätzlich nicht.
- Änderungen durch das am 1.1.1989 in Kraft getretene Gesundheitsreformgesetz lassen den Familienversicherungsschutz nicht automatisch erlöschen; er fällt erst nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes weg, der das Ende des Versicherungsschutzes feststellt.
Normenkette
KVLG 1989 § 32 Abs. 1; RVO § 205; GRG Art. 59 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2; SGB V §§ 9-10, 289; GG Art. 20 Abs. 1, 3
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 25.11.1993; Aktenzeichen L 4 Kr 14/91) |
SG Augsburg (Urteil vom 16.11.1990; Aktenzeichen S 9 Kr 89/90) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. November 1993 aufgehoben und das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 16. November 1990 abgeändert und insoweit wie folgt gefaßt: Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, daß die Klägerin in der Zeit vom 1. Januar 1989 bis 30. April 1990 familienversichert war.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob die Klägerin nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen (Gesundheitsreformgesetz ≪GRG≫) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I S. 2477) über den 31. Dezember 1988 hinaus bis zum 30. April 1990 weiterhin als Ehegatte des Versicherten krankenversicherungsrechtlich – “familienbedingt” – geschützt war.
Die 1919 geborene Klägerin war seit dem Jahre 1972 über ihren Ehemann bei der beklagten Landwirtschaftlichen Krankenkasse (LKK) im Rahmen eines Rechts ihres Ehemannes auf Familienhilfe beitragsfrei mitversichert. Mit Schreiben vom 11. September 1984 bestätigte die Beklagte dem Ehemann der Klägerin den Familienversicherungsschutz, nachdem der Klägerin eine Rente von der Landesversicherungsanstalt Schwaben zuerkannt worden war. Das Schreiben hatte folgenden Wortlaut: “Heute nun können wir Ihnen mitteilen, daß Ihre Ehefrau weiterhin bei Ihnen mitversichert ist und weiterhin Leistungen zu Lasten unserer Krankenkasse beanspruchen kann.”
Im November 1989 gab die Klägerin auf einem ihr von der Beklagten zugesandten Formular an, sie habe ein regelmäßiges Gesamteinkommen von mehr als 450,00 DM monatlich. Das Formular enthielt den Hinweis, daß die Beklagte durch das GRG zur Führung eines Mitgliederverzeichnisses für die nach § 7 des Zweiten Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte (idF des Art 8 GRG ≪KVLG 1989≫) versicherten Familienangehörigen verpflichtet worden sei. Im März 1990 teilte die Beklagte der Klägerin mit, sie sei seit Januar 1989 nicht mehr beitragsfrei familienversichert; nach dem GRG werde nicht mehr wie bisher der Ertragsanteil, sondern der Zahlbetrag ihrer Rente berücksichtigt, so daß ihr Gesamteinkommen 1989 und 1990 die Einkommensgrenze überschritten habe; sie habe die Möglichkeit, sich ab 1. Januar 1989 freiwillig zu versichern; eine Beitrittserklärung werde beigefügt; der Beitritt könne innerhalb von drei Monaten beantragt werden. Hierauf beantragte die Klägerin mit Schreiben vom 3. Mai 1990 die Mitgliedschaft zur freiwilligen Versicherung zum 1. Mai 1990.
Mit Bescheid vom 25. April 1990 und bestätigendem Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 1990 stellte die Beklagte nunmehr fest, die Familienversicherung der Klägerin habe zum 31. Dezember 1988 geendet.
Durch Urteil vom 16. November 1990 hat das Sozialgericht (SG) Augsburg die angefochtenen Bescheide insoweit aufgehoben, als “das Entfallen der Familienversicherung vor Mai 1990” festgestellt worden war. Es hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe gegenüber dem Ehemann der Klägerin mit Bescheid vom 11. September 1984 den Anspruch auf Familienhilfe bejaht. Diese Regelung sei seit dem 1. Januar 1989 im Wege der Rechtsnachfolge im Verhältnis zur Klägerin in Bindung erwachsen und habe daher rückwirkend nur noch nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) aufgehoben werden können. Eine solche rückwirkende Aufhebung nach § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X komme jedoch hier nicht in Betracht, weil eine Änderung nicht der Sphäre der Klägerin zuzuordnen sei; denn das Einkommen der Klägerin sei lediglich vom Gesetzgeber anders bewertet worden.
Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 25. November 1993 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt: Der bis zum 31. Dezember 1988 bestehende Anspruch der Klägerin auf Familienhilfe sei ab 1. Januar 1989 gemäß § 7 KVLG 1989 weggefallen, ohne daß es einer Entscheidung der Beklagten bedurft hätte. Die Beklagte habe infolgedessen auch das Ende des Familienversicherungsschutzes mit Wirkung für die Vergangenheit feststellen können. Aus der Übergangsregelung des Art 59 Abs 1 Nr 2 GRG ergebe sich ebenfalls, daß der Anspruch auf Familienhilfe zum 1. Januar 1989 kraft Gesetzes entfalle. Durch die Übergangsregelung werde den Betroffenen in diesen Fällen lediglich das Recht eingeräumt, sich freiwillig zu versichern. Im übrigen könne das Schreiben der Beklagten vom 11. September 1984 allenfalls als deklaratorischer Verwaltungsakt über das Fortbestehen der Mitgliedschaft gewertet werden; eine Änderung oder Aufhebung eines derartigen Verwaltungsaktes unterliege nicht den §§ 45, 48 SGB X.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von §§ 45, 48 SGB X, § 7 Abs 1 Satz 1 KVLG 1989 sowie von § 10 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) idF des Art 1 GRG und trägt vor:
Der Bescheid vom 11. September 1984 sei materiell und formell bindend geworden. Die Beklagte habe den Anspruch ihres Ehemannes auf Familienhilfe ohne zeitliche Begrenzung festgestellt und damit die Leistungsvoraussetzungen im konkreten Fall bejaht. In diese Rechtsposition sei sie im Wege der Rechtsnachfolge nach Inkrafttreten des GRG, nach Umgestaltung des Anspruchs auf Familienhilfe in einen – selbständigen – Anspruch auf Familienversicherung, eingetreten, so daß der Bescheid auch ihr gegenüber bindend geworden sei. Eine rückwirkende Aufhebung komme nicht in Betracht; denn sie habe die ihr obliegende Mitteilungspflicht nicht verletzt. Bei fortbestehenden gleichen Einkommensverhältnissen habe sie infolgedessen bis zur Aufhebung oder Änderung des Verwaltungsaktes gemäß § 48 SGB X für die Zukunft davon ausgehen können, daß sie weiterhin aus der Familienversicherung leistungsberechtigt sei. Durch das GRG sei zwar der Familienversicherte selbst anspruchsberechtigt geworden. Diese Regelung schaffe aber nicht “etwas rechtlich völlig Neues und Eigenständiges”. Nach wie vor setze die Familienversicherung eine Mitgliedschaft des Stammversicherten voraus. Im übrigen sei die gesetzliche Übergangsregelung unzureichend, da das GRG erst am 29. Dezember 1988 bekanntgemacht und die freiwillige Weiterversicherungsmöglichkeit auf drei Monate nach Wegfall der Voraussetzungen für die Familienversicherung befristet worden sei. Werde nicht auf den Bescheid von 1984 abgestellt, wäre das Recht auf freiwillige Weiterversicherung bereits zu einem Zeitpunkt erloschen gewesen, als die Beklagte sie erstmals über die gesetzlichen Voraussetzungen informiert bzw nach ihren tatsächlichen Einkommensverhältnissen gefragt habe.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. November 1993 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 16. November 1990 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor:
Zutreffend sei das LSG davon ausgegangen, daß die Klägerin seit 1. Januar 1989 nicht mehr familienversichert sei. Entgegen der Auffassung des SG sei das Schreiben vom 11. September 1984 nicht als Verwaltungsakt zu werten. In ihm sei lediglich die bestehende Rechtslage festgestellt worden. Rechte könne die Klägerin hieraus nicht herleiten. Der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Krankenversicherung beginne mit Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen und ende mit deren Wegfall. Einer Entscheidung der Krankenkasse bedürfe es nicht. Selbst wenn man also unterstelle, bei dem Schreiben vom 11. September 1984 habe es sich um einen deklaratorischen Verwaltungsakt gehandelt, so habe sich dieser gemäß § 39 Abs 2 SGB X auf andere Weise, nämlich kraft Gesetzes, erledigt. Die Übergangsregelung in Art 59 GRG sei auch nicht unzureichend. Denn bei Versäumung der Beitrittsfrist habe der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden können.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist begründet.
Das angefochtene Urteil des LSG ist aufzuheben; der Tenor der erstinstanzlichen Entscheidung ist zur Klarstellung abzuändern und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, daß die Klägerin in der Zeit vom 1. Januar 1989 bis 30. April 1990 familienversichert war. Der Bescheid der Beklagten vom 25. April 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 1990 ist insoweit rechtswidrig und aufzuheben. Der Anspruch der Klägerin ergibt sich aus einer verfassungskonformen Auslegung der Übergangsregelung in Art 59 Abs 1 Nr 2 iVm Abs 2 GRG.
I. Das Begehren der Klägerin ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG) zu werten (§ 123 SGG). Es ist auf Erlaß eines ihre Zugehörigkeit zur Familienversicherung ihres Ehemannes in dem fraglichen Zeitraum feststellenden Verwaltungsaktes unter Aufhebung der insoweit entgegenstehenden Bescheide gerichtet.
1. Die Klägerin kann ihr Begehren allein mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, nicht jedoch mit einer lediglich auf Aufhebung des Bescheides gerichteten (Anfechtungs-)Klage durchsetzen. Denn bei einer bloßen Aufhebung des angefochtenen Bescheides würde die Klägerin nicht etwa eine früher durch Verwaltungsakt begründete Rechtsposition wiedererlangen können. Denn sie war nach altem Recht lediglich wirtschaftlich aus der Stammversicherung ihres Ehemanns begünstigt. Er allein war Träger des von der Stammversicherung mitumfaßten Rechts auf Familienhilfe (§ 32 Abs 1 KVLG 1987; BT-Drucks 11/2237 S 161; BSGE 42, 20, 22 = BSG SozR 2200 § 205 Nr 7 S 18). Bis zum 31. Dezember 1988 konnten mithin die das Versicherungsverhältnis auch in Belangen des Familienmitglieds regelnden Verwaltungsakte, sowohl was ihre Dauer als auch ihren Umfang und die Leistungen betraf, grundsätzlich allein gegenüber dem Stammversicherten ergehen. Der Verwaltungsakt vom 11. September 1984, in dem die Beklagte festgestellt hatte, daß die Familienhilfeberechtigung des Ehemannes für die Klägerin fortbestehe, war somit – zutreffend – an den Ehemann der Klägerin gerichtet. Durch ihn hatte die Beklagte zu seinen Gunsten ein Rechtsverhältnis verbindlich mit Außenwirkung unter Beseitigung bestehender Unsicherheiten geregelt (vgl hierzu Wolff, Bachof, Stober, Verwaltungsrecht I, 10. Aufl, S 647; Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl, S 254 f). Der Bescheid vom 11. September 1984 ist gegenüber dem Ehemann der Klägerin bindend geworden (§ 77 SGG) und – soweit erkennbar – geblieben. Eine Rechtsnachfolge der Klägerin in diese Rechtsposition ist schon mangels entsprechender Bestimmung nicht eingetreten.
2. Die Klägerin ist nach Inkrafttreten des GRG, das den Familienversicherten erstmals eine eigene subjektive Rechtsposition eingeräumt hat (vgl § 7 KVLG 1989 iVm § 10 SGB V; BT-Drucks 11/2237 S 161), auch iS von § 54 Abs 1 Satz 2 SGG berechtigt, aus – behauptetem und möglicherweise bestehendem – eigenem Recht mit der Verpflichtungsklage den Erlaß eines ihr Familienversicherungsverhältnis feststellenden Verwaltungsaktes zu begehren. Dieses Recht erstreckt sich nicht nur auf die einzelnen Ansprüche nach § 7 KVLG 1989 iVm § 10 SGB V, sondern auf sämtliche dem Familienversicherten nach dem GRG zustehenden Rechte, also auch auf den Versicherungsstatus selbst und damit auch auf die sich aus der Übergangsregelung des Art 59 Abs 1 Nr 2 und Abs 2 GRG ergebenden subjektiven Rechtspositionen.
II. Die auf das og Begehren der Klägerin gerichtete Verpflichtungsklage ist auch begründet.
Der familienbedingte, dh aus der Stammversicherung des Ehemannes der Klägerin abgeleitete Krankenversicherungsschutz endete nicht zum 1. Januar 1989, sondern erst nach Bekanntgabe des Bescheides vom 25. April 1990 mit Wirkung für die Zukunft. Rechtsgrundlage für den Anspruch auf die begehrte Feststellung ist Art 59 Abs 1 Nr 2 iVm Abs 2 GRG. Dies folgt aus dessen den Gesamtzusammenhang der Übergangsregelung berücksichtigenden verfassungskonformen Auslegung. Die Beklagte kann sich demgegenüber nicht darauf berufen, die “Familienversicherung” sei zum 1. Januar 1989 “kraft Gesetzes” iS eines Selbstvollzuges des Gesetzes erloschen.
1. Zwischen den Beteiligten besteht zwar kein Streit, daß die Klägerin die Anspruchsvoraussetzungen für eine Familienversicherung nach neuem Recht (§ 7 KVLG iVm § 10 Abs 1 Nr 5 SGB V) ab 1. Januar 1989 nicht erfüllt. Denn der nach neuem Recht maßgebliche Zahlbetrag ihrer Rente lag über einem Siebtel der für 1989 und 1990 geltenden monatlichen Bezugsgröße gemäß § 18 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV). Diese Regelung löste das bis 1988 geltende Recht ab, nach dem entsprechend dem damaligen § 22 Nr 1a Einkommenssteuergesetz (EStG) die Rente nur mit einem Ertragsanteil auf das Gesamteinkommen angerechnet wurde (vgl BSGE 48, 206 ff = SozR 2200 § 205 Nr 22; BSG SozR 2200 § 205 Nr 23; BSG SozR 3-2500 § 10 Nr 4 S 18). Der Ertragsanteil der Rente der Klägerin hatte bis 1989 unter einem – damals zu berücksichtigenden – Sechstel der monatlichen Bezugsgröße gelegen (§ 205 Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫ iVm § 32 Abs 1 KVLG 1987).
2. Die Klägerin blieb jedoch dennoch bis zur Bekanntgabe des die Änderung der Rechtslage feststellenden Verwaltungsaktes weiterhin bei ihrem Ehemann entsprechend den ab 1. Januar 1989 geltenden Bestimmungen des GRG (Art 59 Abs 1 Nr 2 iVm Abs 2) iVm den Rechtsfolgen des § 10 SGB V familienversichert.
a) Nach § 59 Abs 1 Nr 2 iVm Abs 2 GRG konnten Personen, für die der Anspruch auf Familienhilfe aufgrund einer Gesetzesänderung durch Inkrafttreten des GRG zum 1. Januar 1989 entfiel, der freiwilligen Versicherung beitreten; der Beitritt war der Krankenkasse bis zum 31. März 1989 schriftlich anzuzeigen; die Mitgliedschaft begann in diesem Fall – rückwirkend – zum 1. Januar 1989, Art 59 Abs 1 Nr 2, Abs 2 aaO regelt nach seinem Wortlaut zwar lediglich Übergang und Voraussetzungen für den Beitritt in die freiwillige Versicherung. Darüber hinaus trifft er jedoch auch eine Aussage über den Versicherungsschutz des Betroffenen in der Übergangsphase, sofern dieser sich innerhalb der Frist entschließt, sich freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung weiter zu versichern. In diesem Fall wirkt der Versicherungsschutz auf den 1. Januar 1989 zurück. Damit wird erkennbar, daß der Gesetzgeber diesen Familienangehörigen in der Übergangsphase nicht schutzlos lassen, sondern ihm vielmehr die Möglichkeit eines nahtlosen Krankenversicherungsschutzes gewähren wollte. Gleichzeitig ermöglicht der Gesetzgeber dem durch die Änderung betroffenen Familienangehörigen, sich – ohne Verlust des Krankenversicherungsschutzes – frei zu entscheiden, wie er sich weiter versichern will, ob er sich privat versichern oder freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung verbleiben will. Hätte der Gesetzgeber diese freie Wahl dem Familienangehörigen nicht einräumen wollen, hätte er die Übergangsregelung mit einer Automatik ausgestattet und den nahtlosen Übergang der Familienversicherung in die gesetzliche Krankenversicherung bei Übersteigen der in § 10 Abs 1 Nr 5 SGB V genannten Einkommensgrenze unter Festlegung weiterer Voraussetzungen bestimmt.
b) Bei der Gestaltung der Übergangsregelung in Art 59 Abs 1 Nr 2 iVm Abs 2 GRG ist der Gesetzgeber von dem (Regel-)Fall ausgegangen, daß der Krankenversicherungsträger unverzüglich seinen gesetzlichen Aufgaben nach Inkrafttreten des GRG nachkommt (§ 17 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil ≪SGB I≫), die entsprechenden Feststellungen über das Fortbestehen und den Wegfall der “Familienversicherung” im Rahmen der Eintragung in das Mitgliederverzeichnis trifft (§ 289 SGB V) und dem Betroffenen gegenüber durch Verwaltungsakt die Änderung der Rechtslage verbindlich bekanntgibt, damit dieser, ohne einen Rechtsverlust zu erleiden, seine Wahl treffen kann.
Der Verwaltungsvollzug des erst am 29. Dezember 1988 verkündeten Gesetzes konnte diesen Anforderungen aber objektiv von vornherein nicht genügen. Für diesen Fall enthält Art 59 GRG keine Regelung. Zwar bestünde bei schuldloser Versäumung der Beitrittsfrist die Möglichkeit, dem Betroffenen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (vgl hierzu entsprechend BSG SozR 3-2200 § 176b Nr 1) mit der Folge eines auf den 1. Januar 1989 zurückwirkenden Versicherungsschutzes in der freiwilligen gesetzlichen Krankenversicherung mit allerdings fraglicher Leistungsverpflichtung des Krankenversicherungsträgers wegen des Naturalleistungsprinzips und fehlender Beitragszahlungen. Ein risikoloses Wahlrecht, wie es dem zuvor “Familienversicherten” jedoch vom Gesetzgeber in Art 59 GRG zugestanden worden ist, hätte der Familienangehörige bei dieser Fallgestaltung nicht, weil ein lückenloser Versicherungsschutz ihm zwar – möglicherweise – durch den Beitritt in die freiwillige gesetzliche Krankenversicherung garantiert würde, der Abschluß eines privaten Krankenversicherungsvertrages für die Vergangenheit jedoch – insbesondere wenn zwischenzeitlich ein Leistungsfall eingetreten wäre – wohl kaum in Betracht käme. Nach Sinn und Zweck der vom Gesetzgeber konzipierten Übergangsregelung kann der Krankenversicherungsschutz daher jedenfalls erst nach Feststellung des Wegfalls des Familienversicherungsschutzes durch den Träger der Gesetzlichen Krankenversicherung mittels Verwaltungsakt enden (§§ 31, 39 SGB X). Erst dann kann nämlich der Betroffene in Kenntnis der Rechtslage seine – freie – Entscheidung treffen.
§ 9 Abs 1 Nr 2 iVm Abs 2 Nr 2 SGB V steht dieser Auslegung nicht entgegen. Er bestätigt – im Gegenteil – dieses Ergebnis. § 9 Abs 1 Nr 2 iVm Abs 2 Nr 2 SGB V sieht vor, daß bei Wegfall der Voraussetzungen der Familienversicherung nach § 10 SGB V der Betroffene ebenfalls – innerhalb von drei Monaten – seinen Beitritt in die freiwillige Versicherung anzeigen kann. Die unterschiedliche Regelung der Rechtsfolgen bei Wegfall der Voraussetzungen der Familienversicherung in § 9 SGB V einerseits und in Art 59 GRG andererseits ist im Hinblick auf das den Bestimmungen zugrundeliegende unterschiedliche Schutzbedürfnis der Familienversicherten konsequent. Von Art 59 Abs 1 Nr 2 GRG werden nämlich nur die Personen erfaßt, die mit einer Änderung der Gesetzgebung grundsätzlich nicht zu rechnen brauchten, während für den in § 9 Abs 1 Nr 2 SGB V beschriebenen Personenkreis ein Wegfall der Anspruchsberechtigung aufgrund der Veränderung von Umständen in seinem Lebensbereich sowie wegen der zeitnahen verwaltungsbehördlichen Feststellung seines Ausscheidens erkennbar ist; dieser Personenkreis kann sich daher rechtzeitig – innerhalb von drei Monaten – auf den Verlust der Familienversicherung einstellen, im Hinblick hierauf seine Wahl über die Art der Weiterversicherung treffen und mithin – sodann – ebenfalls einen lückenlosen Versicherungschutz erreichen (§ 188 Abs 2 SGB V).
3. Im Einklang mit der am Gesetzeszweck orientierten Auslegung der Übergangsregelung steht einmal, daß eine Änderung der materiellen Rechtslage aufgrund des § 10 SGB V, die tatbestandsmäßige Voraussetzung für die Anwendung von Art 59 Abs 2 Nr 2 iVm Abs 2 GRG ist, den Anspruch des Stammversicherten auf Versicherungsschutz für seine Familienangehörigen nicht automatisch hat erlöschen lassen; erst die Umsetzung des Gesetzes gegenüber der Klägerin durch auf den Einzelfall bezogenen Verwaltungsakt, also der Bescheid vom 25. April 1990, hat für sie rechtsverbindlich das Ende des Familienversicherungsschutzes festgestellt (s unten 3a). Daß diese durch Verwaltungsakt umzusetzende Gesetzesänderung Rechtswirkungen erst für die Zukunft, mit Bekanntgabe des Verwaltungsaktes, entfaltet und der Versicherungsschutz der Klägerin mithin erst ab diesem Zeitpunkt entfällt, entspricht zum anderen rechts- und sozialstaatlichen Grundsätzen (vgl hierzu entsprechend BVerfGE 59, 128, 169); s unten 3b).
Zu a) § 10 SGB V enthält keine des Selbstvollzuges fähige Regelung, sondern bedarf der rechtsstaatsgemäßen Umsetzung durch die Verwaltung. Diese wird ermächtigt und verpflichtet, ua die Anspruchsvoraussetzungen der Familienversicherung zu prüfen sowie bei Verneinung einen entsprechenden, die Familienversicherung ablehnenden Verwaltungsakt zu erlassen (vgl hierzu § 289 SGB V). Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, daß der Gesetzgeber insoweit eine vom Normalfall abweichende Ausnahmeregelung hätte schaffen wollen. Denn nicht der Selbstvollzug des Gesetzes, sondern seine Umsetzung durch Verwaltungsakt unter Anwendung des Rechts auf den jeweiligen Einzelfall prägt auch das Sozialverwaltungsrecht als das Recht der sozialen Sicherung und ist aus Gründen der Rechtsklarheit und der damit verbundenen Rechtssicherheit geboten (vgl BSG SozR 3-8560 § 26 Nr 2 S 20 f; BSGE 69, 255, 257 = SozR 3-1300 § 48 Nr 13 S 19; vgl hierzu entsprechend BSG SozR 1300 § 48 Nr 57 S 173 f; Erichsen, aaO, S 244). Das Verwaltungsverfahren dient somit dem wirksamen und rechtsstaatlichen Gesetzesvollzug (vgl hierzu Badura in Erichsen, aaO, S 417) und zugleich der Sicherung der Rechte des Einzelnen, verschafft Klarheit und ist somit Grundlage des Vertrauensschutzes in den Fortbestand einer für den Einzelnen günstigen Regelung. Der Verwaltungsakt bestimmt nämlich auf der Grundlage materiellen Rechts gestaltend oder feststellend, begünstigend oder belastend die individuelle Rechtsposition des Betroffenen. Der rechtmäßige, aufgrund eines förmlichen Verwaltungsverfahrens ergangene, Verwaltungsakt entbindet mithin den Begünstigten von eigener Rechtskenntnis und entlastet ihn (vgl BSG SozR 1300 § 48 Nr 57 S 173). Im Hinblick auf die Vielzahl der das tägliche Leben regelnden Gesetzesvorschriften gewährleistet der Verwaltungsakt infolgedessen die Übersichtlichkeit und Berechenbarkeit der Verwaltung (vgl Erichsen, aaO, S 244 f). Mithin ist es ein Gebot rechtsstaatlichen Verwaltungshandelns (Art 20 Abs 3 Grundgesetz ≪GG≫) und auch Ausdruck der Garantie des effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG), daß das Gesetz bei Änderung der Rechtslage durch einen auf den Einzelnen bezogenen, mit Rechtsbehelfen überprüfbaren, also anfechtbaren Verwaltungsakt vollzogen wird. Schon deswegen ist nicht darzulegen, daß der Selbstvollzug eines ein Verwaltungsrechtsverhältnis regelnden Gesetzes aus Gründen der verfassungsrechtlichen Funktionentrennung (sog Gewaltenteilung – Art 20 Abs 2 Satz 2 GG) wegen Eingriffs in den Kernbereich der Verwaltung nur in seltenen Fällen verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein kann.
Zu b) Eine vom Gesetzgeber als besonders schutzbedürftig gewertete Rechtsposition aus einem Sozial-, hier Krankenversicherungsverhältnis kann darüber hinaus aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit erst nach Bekanntgabe des das Gesetz vollziehenden Verwaltungsaktes mit Wirkung – grundsätzlich nur – für die Zukunft entfallen (Rechts- und Sozialstaatsprinzip – Art 20 Abs 1 und 3 GG). Ein rückwirkender Verwaltungsakt mit der Folge eines rückwirkenden Erlöschens der “Familienversicherung” zum 1. Januar 1989 ohne Kenntnis der Klägerin würde sowohl in den einmal gesetzten Vertrauenstatbestand – Bestehen eines Familienversicherungsschutzes – eingreifen als auch gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Denn diese Folge wäre durch das gesetzgeberische Anliegen, einer Konsolidierung der gesetzlichen Krankenversicherung (BR-Drucks 200/88 S 132; BT-Drucks 11/2237 S 132) nicht gerechtfertigt (vgl hierzu entsprechend BVerfGE 43, 242, 288 f). Der Gesetzgeber ist zwar nicht gehindert, von ihm als änderungsbedürftig angesehene Rechtslagen mit Wirkung für die Zukunft zu ändern (vgl BVerfGE 31, 275, 290; vgl hierzu entsprechend BVerfGE 70, 191, 200; BSG, Urteil vom 31. August 1994 – 4 RK 2/93). Für die Überleitung steht ihm auch ein breiter Gestaltungsspielraum zur Verfügung; er muß jedoch eine nach dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angemessene Übergangsregelung treffen (vgl hierzu BVerfGE 43, 242, 288 f). Im Einklang hiermit hat der Gesetzgeber mit der – verfassungsorientiert ausgelegten – Übergangsregelung des Art 59 Abs 1 Nr 2 und Abs 2 GRG einen lückenlosen Versicherungsschutz gewährleistet und ermöglicht, daß bei einem Wechsel von der gesetzlichen Krankenversicherung in ein privates Krankenversicherungsverhältnis gerade auch wegen der komplizierten Voraussetzungen der Familienversicherung nach neuem Recht (vgl hierzu BSG SozR 3-2200 § 176b Nr 1 S 4 f) keine Unsicherheiten entstehen (vgl hierzu entsprechend BSG SozR 2200 § 205 Nr 59 S 159 f).
Nach alledem endete die Familienversicherung der Klägerin erst nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes vom 25. April 1990; die Beklagte ist somit verpflichtet festzustellen, daß die Klägerin vom 1. Januar 1989 bis 30. April 1990 familienversichert war; infolgedessen hat die Revision der Klägerin Erfolg.
Einer Beiladung des Ehemannes der Klägerin zu diesem Rechtsstreit bedurfte es hier im Hinblick auf den streitigen Zeitraum nicht. Zwar hatte die Beklagte gegenüber dem Ehemann der Klägerin – wie ausgeführt – mit Bescheid vom 11. September 1984 verbindlich festgestellt, daß die Klägerin weiterhin “familienversichert” sei. Dieser Bescheid hat jedenfalls so lange Geltung, bis er gemäß § 48 SGB X abgeändert und der Umfang des Stammversicherungsverhältnisses ggf neu bestimmt wird. Im Hinblick darauf, daß auch nach neuem Recht die Familienversicherung trotz ihrer Ausgestaltung als eigene Versicherung des Familienangehörigen streng akzessorisch zur Versicherung des Stammversicherten und ihr Umfang hier streitig ist, hätte also der Ehemann der Klägerin grundsätzlich beteiligt bzw notwendig zu dem Rechtsstreit beigeladen werden müssen (§ 75 Abs 2 SGG; BSGE 72, 292, 293 f = BSG SozR 3-2500 § 10 Nr 2 S 4). Hiervon konnte jedoch deshalb abgesehen werden, weil die im Bescheid vom 11. September 1984 definierten Rechte des Ehemannes der Klägerin als Stammversicherter durch die Entscheidung des Senats nicht betroffen werden. Weder nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG noch aus Rechtsgründen sind Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß der Umfang der Stammversicherung sich in dem hier streitigen Zeitraum geändert hat (vgl hierzu entsprechend BSGE 66, 144 ff = BSG SozR 3-5795 § 6 Nr 1 S 2 f).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 946322 |
BSGE, 86 |
SozSi 1997, 228 |