Leitsatz (redaktionell)
Das Protektorat Böhmen und Mähren war ein dem Deutschen Reich vorübergehend eingegliedertes Gebiet. Die Sozialversicherung des Protektorats war daher eine Versicherung nach Reichsrecht, ihre Träger "deutsche Versicherungsträger" iS des FAG SV § 1 Abs 7. Die Versicherungszeiten in der 1. sowie in der 2. Tschechoslowakischen Republik und im Protektorat sind einheitlich nach der in FAG SV § 3 Abs 2 genannten SudetenV SV zu behandeln.
Normenkette
FRG § 1 Abs. 7 Fassung: 1953-08-07, § 3 Abs. 2 Fassung: 1953-08-07
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Juni 1957 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger war vom 1. Januar 1909 bis zum 31. März 1945 als kaufmännischer Angestellter in einer B Maschinenfabrik beschäftigt und bei der Allgemeinen Pensionsanstalt in P versichert. Von Mai 1945 bis Dezember 1952 war er in Haft. Im Januar 1953 beantragte er die Gewährung von Ruhegeld. Nachdem die Landesversicherungsanstalt Württemberg ihm ein vorläufiges Ruhegeld gewährt hatte, erließ die Beklagte nach Eingang der Versicherungsunterlagen am 12. April 1955 einen neuen Bescheid. In ihm berechnete sie die Steigerungsbeträge bis zum 30. September 1938 nach den tatsächlich entrichteten Beiträgen (§ 3 Abs. 2 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes - FremdRG - in Verbindung mit § 43 Abs. 2 der Sudeten-Verordnung - Sudeten-VO -) und die Steigerungsbeträge für die Zeit vom 1. Oktober 1938 bis zum 31. März 1945 nach § 4 FremdRG in Verbindung mit § 2 der Durchführungsverordnung (DurchfVO) zum FremdRG aus dem Mittelwert der Gehaltsklassen. Auf die Klage, mit der die Berechnung der Steigerungsbeträge nach der Sudeten-VO auch für die Zeit vom 1. Oktober 1938 an begehrt wurde, verurteilte das Sozialgericht die Beklagte antragsgemäß (Urteil vom 27.7.1956). Die Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg (Urteil des Landessozialgerichts vom 25.6. 1957). Das Landessozialgericht führte zur Begründung aus, § 3 Abs. 1 FremdRG komme nicht zum Zuge, weil der Kläger nicht zu dem in Art. 7 Abs. 1 des Abkommens zwischen dem Deutschen Reich und der Regierung des Protektorats Böhmen und Mähren in der Fassung der Verordnung vom 25. April 1940 (RGBl. II S. 107) genannten Personenkreis zähle. Daher sei § 43 der Sudeten-VO über § 3 Abs. 1 FremdRG nicht anwendbar. Dagegen rechtfertige § 3 Abs. 2 FremdRG ihre Anwendung. Zu den hier aufgeführten Ansprüchen und Anwartschaften könnten nicht nur diejenigen gerechnet werden, die bis zum 30. September 1938 erworben worden seien, sondern auch diejenigen, die nachher bei den Versicherungsträgern im ehemaligen Protektorat erworben worden seien. Das Landessozialgericht ließ die Revision zu.
Gegen das am 6. August 1957 zugestellte Urteil legte die Beklagte am 3. September 1957 Revision ein und begründete sie im gleichen Schriftsatz.
Sie ist der Auffassung, das Landessozialgericht habe § 3 Abs. 2 FremdRG rechtsirrtümlich angewandt. Denn die Sudeter VO regele nur die Abgeltung der zum 1. Oktober 1938 auf die deutsche Sozialversicherung übergegangenen tschechoslowakischen Ansprüche und Anwartschaften. § 3 Abs. 1 ordne an, daß diese Verordnung weiter anzuwenden sei, § 3 Abs. 2 erstrecke ihren Anwendungsbereich auf den Protektoratsblock. Der Stichtag des 1. Oktober 1938 gelte allgemein. Daher seien die nach dem 30. September 1938 zurückgelegten Beitragszeiten solche im Sinne des § 4 Abs. 1 FremdRG.
Die Beklagte beantragte,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Juni 1957 und des Sozialgerichts Ulm vom 27. Juli 1956 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Die an sich statthafte, auch form- und fristgerecht eingelegte Revision ist nicht begründet, weil das Landessozialgericht zutreffend der Berechnung der Steigerungsbeträge gemäß § 3 Abs. 2 FremdRG die Vorschriften des § 43 der Sudeten-VO zugrunde gelegt und nicht, wie die Beklagte es wünscht, die Berechnung nach § 2 der Ersten DurchfVO zum FremdRG vorgenommen hat.
Wie der Senat in seinem Urteil vom 26. Juni 1959 - 1 RA 189/58 - (BSG. 10 S. 118) mit ausführlicher Begründung entschieden hat, war das Protektorat Böhmen und Mähren ein dem Deutschen Reich vorübergehend eingegliedertes Gebiet. Es gehörte zum Großdeutschen Reich und stand unter seinem Schutz. Das Protektorat hatte kraft des Führererlasses vom 16. März 1939 eine regionale Autonomie. Nach diesem Erlaß richtete sich seine innere Verfassung, die teilweise Fortgeltung des vorausgegangenen tschechoslowakischen Rechts und die Befugnis der Protektoratsregierung, selbst Recht zu setzen. Das gesamte autonome Recht war damit für die Dauer des Protektorats mittelbares Reichsrecht, auch das auf dem Gebiet der Sozialversicherung fortgeltende frühere und das neu erlassene Recht. Die Sozialversicherung des Protektorats war daher eine Versicherung nach Reichsrecht, ihre Träger "deutsche Versicherungsträger" im Sinne des § 1 Abs. 7 des FremdRG. Die bei ihnen zurückgelegten und die auf sie nach den Abkommen vom 14. März 1940 übergegangenen oder bei ihnen verbliebenen Versicherungszeiten sind im Rahmen des FremdRG Versicherungszeiten, die in einer gesetzlichen Rentenversicherung bei einem nicht mehr bestehenden deutschen Versicherungsträger zurückgelegt sind (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 FremdRG). § 2 DurchfVO zum FremdRG kann daher - entgegen der Auffassung der Beklagten - nicht angewendet werden, weil es sich nicht um Versicherungszeiten bei einem nichtdeutschen Versicherungsträger handelt. Vielmehr ist nach § 1 DurchfVO zum FremdRG zu prüfen, ob sich die Steigerungsbeträge für den Kläger aus den in § 3 FremdRG angeführten Vorschriften berechnen lassen. Das ist der Fall.
Zwar kann § 3 Abs. 1 FremdRG nicht angewendet werden, weil er sich nur auf die Vorschriften über die Einführung des unmittelbaren Reichsrechts bezieht, wie sich aus dem Zusammenhang ergibt. Dieses Recht ist im Protektorat Böhmen und Mähren aber nur für die Dienststellen der unmittelbaren Reichsverwaltung einschließlich der Wehrmacht eingeführt worden (Verordnung vom 30.8.1939, RGBl. I S. 1737). Für alle anderen Beschäftigungsverhältnisse galt Protektoratsrecht. Dagegen ist § 3 Abs. 2 FremdRG anwendbar. Diese Vorschrift schreibt ausdrücklich vor, daß die von den Versicherungsträgern des Protektorats zu übernehmenden oder dort verbliebenen Leistungen und Anwartschaften nach den Vorschriften der Dritten Sudeten-VO zu behandeln sind. Aus dem Sinnzusammenhang dieses Paragraphen gelöst, scheint § 3 Abs. 2 FremdRG die Sudeten-VO nur für die Leistungen und Anwartschaften gelten lassen zu wollen, die bis zum 30. September 1938 festgestellt oder erworben waren, also für die Leistungen und Anwartschaften der ersten Tschechoslowakischen Republik und für die aus der Reichsversicherung übernommenen Leistungen und Anwartschaften, welche die am 1. Oktober 1938 in den sudetendeutschen Gebieten wohnhaften und bis zum 31. Dezember 1939 in das Protektorat übergesiedelten Deutschen und Tschechen erworben hatten. Eine solche Abgrenzung würde aber den rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen jener Zeit nicht gerecht, weil mit der Errichtung des Protektorats bis zu seinem Ende nicht nur zahlreiche Deutsche aus den sudetendeutschen Gebieten dorthin gekommen sind, sondern auch eine große Zahl von Betrieben und Arbeitnehmern aus dem übrigen Reichsgebiet, die sämtlich der Protektoratsversicherung unterlagen. Für einen Teil dieser Personen ist das anzuwendende Recht ausdrücklich in § 3 Abs. 3 FremdRG bezeichnet, und zwar gerade für den Teil, dessen Versicherung von dem Recht der Reichsversicherung ganz erheblich abwich. Dort ist an die Stelle des für die Abkommen vom 14. März 1940 und die Sudeten-VO maßgebenden Stichtages vom 30. September 1938 ein neuer Stichtag festgelegt worden, und zwar der 30. April 1945, das Ende des Protektorats. Es würde dem Zusammenhang der Absätze 1 bis 3 des § 3 FremdRG und dem Sinnzusammenhang des ganzen Gesetzes widersprechen, wollte man nicht für die ganze Protektoratsversicherung den Stichtag vom 30. April 1945 wählen. Der Stichtag vom 30. September 1938 ist nur in dem Zusammenhang von Bedeutung, daß an diesem Tage die Bewohner des Sudetenlandes aus der tschechoslowakischen Versicherung ausgeschieden und in die deutsche Reichsversicherung übernommen wurden; ihnen sollte auf Grund ihrer bisherigen höheren Beitragsleistungen auch eine höhere Rente gesichert bleiben. Für die beim Protektoratsblock verbliebenen Versicherten hatte der genannte Stichtag für die Zukunft keine Bedeutung. Demgemäß müssen die Versicherungszeiten in der ersten sowie in der zweiten Tschechoslowakischen Republik und im Protektorat einheitlich nach der in § 3 Abs. 2 FremdRG genannten Sudeten-VO behandelt werden.
Diese Verordnung unterscheidet (vgl. § 43 und § 45 Abs. 1 Nr. 1) für die Bewertung der ehemaligen tschechoslowakischen Versicherungszeiten und Leistungen zwischen den sudetendeutschen Gebieten, für die nach dem Kurse 1 K = 0.12 RM und den sonstigen ehemaligen tschechoslowakischen Gebieten, für die nach dem Kurs 1 K = 0.10 RM umgerechnet wird. Da das Protektorat nicht zu den im Oktober 1938 dem Deutschen Reich eingegliederten Gebieten gehörte, rechnet es nicht zu den sudetendeutschen Gebieten im Sinne der Sudeten-VO (vgl. § 1 Abs. 1 a), sondern zu den "sonstigen ehemaligen tschechoslowakischen Gebieten" (§ 1 Abs. 1 b). Für die Leistungen und Anwartschaften der Protektoratsversicherung ist daher der Kurs 1 K = 0.10 RM zugrunde zu legen. Dieser Kurs entsprach dem amtlichen Kurs der Protektoratskrone für die ganze Dauer des Protektorats (VO vom 21.3.1939 - RGBl. I S. 555 -). Dieser Umrechnungskurs ist auch maßgeblich nach anderen Gesetzen, die zur Regelung von Kriegsfolgen ergangen sind, so z. B. bei der Schadensberechnung nach § 20 des Gesetzes über die Feststellung von Vermögensschäden und Kriegsnachschäden (Feststellungsgesetz in der Fassung des 4. Änderungsgesetzes zum Lastenausgleichsgesetz vom 12.7.1955 - BGBl. I S. 403 -).
§ 43 Abs. 3 c Sudeten-VO enthält freilich nur die Steigerungsbeträge der Gehaltsklassen 1 - 11 des Pensionsversicherungsgesetzes, und zwar umgerechnet zum Kurse 1 K = 0.10 RM. Die Regierungsverordnung 316/41 der Regierung des Protektorats Böhmen und Mähren hat nun die Gehaltsklassen von 11 auf 14 erweitert und die Steigerungsbeträge dafür um je 5 K erhöht auf 55,60 und 65 K für die Klassen 12, 13 und 14.
Soweit Versicherungszeiten aus diesen Gehaltsklassen schon von Versicherungsträgern des Protektorats bei der Festsetzung von Renten berücksichtigt worden waren, sind die entsprechenden Beträge nach § 45 Abs. 1 Nr. 1 Sudeten-VO ohne weiteres zum Kurse 1 K = 0.10 RM, jetzt DM, weiterzugewähren. Es bestehen daher auch keine Bedenken, bei der Festsetzung der Renten nach § 43 Abs. 3 c für die Klassen 12, 13, 14 die Steigerungsbeträge von 5,50, 6,00 und 6,50 DM zugrunde zu legen, dies um so weniger, als für die Ermittlung des auf die statutarische Mehrversicherung entfallenden Betrages nach § 8 der Ersten DurchfVO zum FremdRG, die in der Regierungsverordnung 316/41 für diese Gehaltsklassen festgesetzten Steigerungsbeträge von 55,60 und 65 K zu berücksichtigen sind.
Die Gewährung der Steigerungsbeträge von 5,50, 6,00 und 6,50 DM für die Klassen 12, 13 und 14 der Protektoratsversicherung bedeutet auch keine unbillige Besserstellung gegenüber den im "Altreich" versicherten Angestellten. Ein Steigerungsbetrag von 6,00 RM wurde in der Klasse J der deutschen Angestelltenversicherung gewährt. Ihm entsprach ein Beitrag von 40,00 RM. In der Protektoratsversicherung entsprach einem Steigerungsbetrag von 60 K ein Versicherungsbeitrag von 414 K und einem Steigerungsbetrag von 65 K ein Versicherungsbeitrag von 446 K, und zwar ohne die Zuschläge zum Versicherungsbeitrag nach § 177 a des PVG. Die Versicherungsbeiträge waren also im Verhältnis noch höher als die entsprechenden Beiträge nach dem unmittelbaren Reichsrecht.
Die im Vorstehenden dargelegte Berechnungsweise der Steigerungsbeträge aus der Pensionsversicherung des Protektorats entspricht der in § 3 Abs. 2 FremdRG vorgeschriebenen Anwendung des § 43 Sudeten-VO. Die Beklagte hat daher das angefochtene Urteil zu Unrecht angegriffen, ihre Revision ist unbegründet und mußte daher zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Fundstellen