Leitsatz (redaktionell)
Eine Bewertung der Erwerbsfähigkeit nach Prozentsätzen ist der Rentenversicherung fremd. Somit erfüllt in einem Streit über die Bewilligung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit der ärztliche Sachverständige nicht die ihm obliegende Aufgabe, dem Gericht die Unterlagen für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit zu liefern, wenn er die Minderung der Erwerbsfähigkeit nach Prozentsätzen bewertet.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 16. Mai 1958 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Die ... 1910 geborene Klägerin beantragte im Dezember 1952 die Zahlung von Invalidenrente. Nachdem ihr Rentenantrag abgelehnt worden war und auch ihre Klage vor dem Sozialgericht Berlin keinen Erfolg gehabt hatte, beantragte sie in der Berufungsinstanz, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. Juli 1955 und den Bescheid der Beklagten vom 22. Mai 1953 aufzuheben und diese zu verurteilen, ihr Rente vom 1. Januar 1957 an zu zahlen.
Das Landessozialgericht Berlin gab diesem Antrag durch Urteil vom 16. Mai 1958 statt. Zur Begründung führte es aus: Die Klägerin sei wegen einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes seit dem 1. Januar 1957 rentenberechtigt nach § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) n. F. Die Untersuchung durch den Sachverständigen Dr. H habe ergeben, daß sich im Vergleich zu früher ein sehr starkes Druckgefühl, eine Schmerzhaftigkeit unter dem rechten Rippenbogen, eine Blutdruckerhöhung von 170/110 mm HG und eine Erhöhung der Pulsfrequenz auf 88 eingestellt hätten; das Elektrokardiogramm in Ruhe und nach Belastung lasse einen Myocardschaden sowie eine Vorhofshypertrophie erkennen. Der Sachverständige schätze den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) vom 1. Januar 1957 an auf über 50 %. Seinen Standpunkt habe er auch aufrechterhalten, nachdem ihm die gutachtlichen Äußerungen der Beratungsärztin Dr. Z bekanntgegeben worden seien. Er habe die von der Beklagten erhobenen Einwände nach dem Inhalt seines Nachtragsgutachtens in sachlich-objektiver Weise überprüft und sich mit ihnen im einzelnen auseinandergesetzt. Dabei habe er hervorgehoben, daß sich der Herzzustand objektiv verschlechtert und die letzte Röntgenkontrolle ein erhebliches, bis dahin nicht beachtetes Divertikel deutlich gemacht habe; er habe weiter ausgeführt, die Beklagte und die von ihr zu Rate gezogenen Ärzte hätten auch ein röntgenologisch festgestelltes Gallenleiden diagnostisch nicht berücksichtigt. Dr. H habe ferner darauf hingewiesen, daß die Wirkung dieser Gesundheitsschäden durch das Übergewicht der Klägerin und durch Erscheinungen der Wechseljahre besonders ungünstig sei. Diese Ausführungen des Sachverständigen ließen Widersprüche nicht erkennen und widerlegten die auf das Gutachten von Dr. Z gestützten Einwendungen der Beklagten überzeugend. Wenn Dr. H die Klägerin jetzt in dem erwähnten Ausmaß als leistungsgemindert ansehe, dann habe er zugleich deren Ausfall als Arbeitskraft schlechthin zum Ausdruck gebracht und damit auf deren Berufsunfähigkeit ab 1. Januar 1957 erkannt. Hierauf gestützt sei das Berufungsgericht davon überzeugt, daß der Rentenanspruch auf alle Fälle vom 1. Januar 1957 an nach § 1246 Abs. 2 RVO n. F. begründet sei.
Das Landessozialgericht hat die Revision nicht zugelassen. Die Beklagte hat gegen das ihr am 16. Juni 1958 zugestellte Urteil gleichwohl am 9. Juli 1958 Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet. Sie rügt als wesentliche Verfahrensmängel mangelnde Sachaufklärung und unrichtige Ausübung des Rechts der freien Beweiswürdigung (§§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Das angefochtene Urteil stütze sich allein auf die beiden Gutachten des Dr. H, ohne sich mit den Einwendungen über die Lückenhaftigkeit dieser Gutachten auseinanderzusetzen, die im Gegensatz zu den Befunden und den Folgerungen der Gutachten des Prof. Dr. R und der Frau Dr. Z stünden. In seinem letzten Gutachten habe Dr. H überdies selbst darauf hingewiesen, daß bei der Klägerin am Untersuchungstag prämenstruelle Störungen bestanden hätten. Deshalb hätten, zumal bei einer Frau mit überdurchschnittlicher Labilität - wie der Klägerin -, die an jenem Tag erhobenen Befunde nicht der Beurteilung ihrer Erwerbsfähigkeit zugrundegelegt werden dürfen. Vielmehr hätte das Landessozialgericht ein weiteres Gutachten einholen müssen. Das angefochtene Urteil lasse auch nicht erkennen, worauf das Berufungsgericht seine Überzeugung stütze. Das Landessozialgericht gebe nur einen Überblick über die rechtliche Lage und begnüge sich alsdann unter Hinweis auf die Ausführungen des Dr. H mit allgemeinen Redewendungen, ohne auf die von den übrigen Ärzten erhobenen Befunde näher einzugehen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 16. Mai 1958 aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückzuverweisen.
Die Klägerin hat keinen Antrag gestellt.
II.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist auch statthaft, weil das Landessozialgericht bei der Erforschung und Beurteilung des Sachverhalts gegen Vorschriften des Verfahrensrechts verstoßen und die Revision die darin liegenden wesentlichen Mängel wirksam gerügt hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Die Beklagte bemängelt mit Recht, daß aus der Begründung des angefochtenen Urteils nicht zu ersehen ist, ob das Berufungsgericht seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gebildet hat (§ 128 Abs. 1 SGG), und daß es den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt hat (§ 103 Satz 1 SGG).
Die Auffassung des Landessozialgerichts, Dr. H habe sich in seinem Nachtragsgutachten vom 4. April 1958 mit allen von der Beklagten erhobenen Einwendungen auseinandergesetzt und die in dem Gutachten der Beratungsärztin Dr. Z festgestellten Befunde überprüft, trifft, wie die Beklagte mit Recht rügt, nicht zu. Frau Dr. Z hatte nach ihrem Gutachten vom 4. Oktober 1957 am 27. September 1957 u. a. eine Kreislauffunktionsprüfung (Schellong-Test) durchgeführt und bei der Klägerin nach Belastung keine Atemnot (Dyspnoe) festgestellt. Unter Berücksichtigung des Elektrokardiogramms, das auf keine schwerere Schädigung hinwies, und weiterer Einzelbefunde hatte diese Ärztin die Klägerin noch für fähig erachtet, leichte und mittelschwere Arbeiten fortgesetzt in geschlossenen Räumen zu verrichten. Zu diesen Befunden und den daraus gezogenen Folgerungen hat Dr. H in seinem Gutachten vom 4. April 1958 keine Stellung genommen; insbesondere hat er sich nicht zu dem Ergebnis der Kreislauffunktionsprüfung geäußert. Er hat ferner nicht dargelegt, an der Verrichtung welcher Tätigkeiten die Klägerin verhindert sei und auf Grund welcher Umstände sie auch leichte Arbeiten nicht mehr verrichten könne. Sein Gutachten ist daher, wie die Beklagte zutreffend rügt, nicht geeignet, die von Frau Dr. Z erhobenen Befunde und ihre Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Klägerin zu widerlegen. Das angefochtene Urteil ist danach aufzuheben.
In einem Streit über die Bewilligung der Rente wegen Berufsunfähigkeit erfüllt der ärztliche Sachverständige nicht die ihm obliegende Aufgabe, dem Gericht die Unterlagen für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit zu liefern, wenn er die MdE nach Prozentsätzen bewertet. Eine solche Bewertung der Erwerbsfähigkeit ist der Rentenversicherung fremd (vgl. BSG 9 S. 206, 208 f.). Der ärztliche Sachverständige hat in einem Rechtsstreit, in dem die Bewilligung der Rente von der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit des Versicherten abhängt (§ 1246 Abs. 2 RVO), dem Gericht in erster Linie Angaben über den Gesundheitszustand zu machen und sich vom ärztlichen Standpunkt aus zu dem Einfluß der von ihm festgestellten Leiden auf die Fähigkeit zur Ausübung beruflicher Tätigkeiten zu äußern. Es gehört ferner zu seinen Aufgaben, in seinem Gutachten abzugrenzen, welche zumutbaren Tätigkeiten ein Versicherter trotz der festgestellten Leiden noch verrichten kann und von welchen Voraussetzungen dies gegebenenfalls abhängt, und welche Arbeiten er wegen seines Gesundheitszustandes nicht oder nur noch in beschränktem Umfang ausüben kann. Das Gericht, das den Sachverständigen nach Möglichkeit schon bei Einholung des Gutachtens auf den Kreis der nach § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO in Betracht kommenden Tätigkeiten hinweisen soll (vgl. BSG 9, 208), muß sich sodann auf Grund der ärztlichen Stellungnahme selbst ein Urteil darüber bilden, welche Tätigkeiten der Versicherte noch übernehmen kann und ob seine Erwerbsfähigkeit auf weniger als die Hälfte eines vergleichbaren körperlich und geistig gesunden Versicherten herabgesunken ist.
Da das angefochtene Urteil keine näheren Feststellungen über Art und Dauer der früheren Berufstätigkeit der Klägerin sowie über ihre Ausbildung enthält - die Angaben in dem Gutachten des Dr. H vom 10. März 1957 können trotz ihrer Erwähnung im Tatbestand des Urteils nicht als eigene Feststellungen des Gerichts gewertet werden - und zur Beurteilung ihrer Erwerbsfähigkeit noch weitere Ermittlungen notwendig sind, ist der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen. Dieses wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen