Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. absoluter Revisionsgrund. Fehlen einer ordnungsgemäßen Vertretung. Betreuer. Prozessunfähigkeit. Geschäftsunfähigkeit. Zurückverweisung des Rechtsstreits
Orientierungssatz
1. Wird die Betreuung eines nicht iS der § 71 Abs 1 SGG iVm §§ 104 ff BGB prozessfähigen Klägers im Laufe des Berufungsverfahrens aufgehoben, so ist dieser von der Aufhebung der Betreuung bis zur Bestellung eines neuen Betreuers nicht ordnungsgemäß vertreten. Dies stellt einen absoluten Revisionsgrund iS von § 202 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO dar.
2. Von dem Grundsatz, dass bei Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes eine Sachentscheidung ausgeschlossen und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist, ist von vornherein nur dann eine Ausnahme zu machen, wenn ein Erfolg der Klage unter keinem denkbaren Gesichtspunkt in Betracht kommt.
Normenkette
SGG § 71 Abs. 1, 6, § 170 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 2, § 202; ZPO §§ 53, 547 Nr. 4; BGB § 104 Nr. 2
Verfahrensgang
Nachgehend
Tatbestand
Im Streit ist die Erstattung der im Zusammenhang mit einer Abschlussprüfung des Klägers zum Versicherungskaufmann im Jahre 1992 bei der Industrie- und Handelskammer Suhl (IHK) entstandenen Kosten für die Anschaffung eines Pkw in Höhe von 2.400 DM, von Benzinkosten in Höhe von 40 DM sowie von Prüfungsgebühren in Höhe von 140 DM.
Der Kläger wurde im August 1992 von der IHK zur Abschlussprüfung im Ausbildungsberuf des Versicherungskaufmanns zugelassen. Seine Anträge, die von der IHK erhobene Prüfungsgebühr in Höhe von 140 DM sowie die Fahrkosten für die Gesamtstrecke von 129 km zu übernehmen, lehnte die Beklagte ebenso ab (Bescheid vom 4.3.1993; Widerspruchsbescheid vom 30.4.1993; Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Gotha vom 3.3.1994) wie den späteren Antrag des Klägers vom 2.3.1995, Gesamtkosten in Höhe von 2.580 DM, ua für ein Beförderungsmittel (Pkw), zu erstatten (Bescheid vom 30.9.1997; Widerspruchsbescheid vom 12.12.1997) . Klage und Berufung des Klägers hatten keinen Erfolg (Gerichtsbescheid des SG vom 29.2.2000; Urteil des Thüringer Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 28.11.2002) . Bei Klageerhebung und während des gesamten sozialgerichtlichen Verfahrens war die Mutter des Klägers für ihn als Betreuerin mit dem Aufgabenkreis "Vertretung des Betroffenen in allen Rechtsstreitigkeiten in prozessualer Hinsicht" bestellt (Beschluss des Amtsgerichts ≪AG≫ Ilmenau vom 15.7.1998 - XVII 41/97) . Im Laufe des Berufungsverfahrens war durch Beschluss des AG Ilmenau vom 14.11.2000 (XVII 6/97) die Betreuung des Klägers "auf Anregung des Betroffenen" aufgehoben worden.
Mit seiner Revision rügt der Kläger, für den durch weitere Beschlüsse des AG Ilmenau vom 12.7.2005 (XVII 73/2003) der jetzige Betreuer ua für den Aufgabenkreis "Vertretung bei Ämtern und Behörden sowie Versicherungen einschließlich der in § 1902 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) geregelten Vertretung des Betroffenen vor Gericht" bis zum 11.7.2012 bestellt und ein Einwilligungsvorbehalt für alle Rechtsgeschäfte angeordnet worden war, die im Zusammenhang mit Rechtstreitigkeiten des Betroffenen stehen, das Vorliegen eines Verfahrensmangels. Nach der Aufhebung der Betreuung wegen Prozessunfähigkeit sei er nicht ordnungsgemäß vertreten gewesen (§ 202 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫ iVm § 547 Nr 4 Zivilprozessordnung ≪ZPO≫) .
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG vom 28.11.2002 aufzuheben und die Sache zur erneuten
Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Zur Prüfung der Prozessfähigkeit des Klägers in der Zeit vom 15.11.2000 bis 11.7.2005 wurde Beweis erhoben durch Erstellung eines Sachverständigengutachtens.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG) .
Entscheidungsgründe
Die zulässige, durch den Betreuer geführte Revision des Klägers (§ 71 Abs 6 SGG iVm § 53 ZPO) ist begründet. Der Kläger hat zu Recht den absoluten Revisionsgrund gerügt, vor dem LSG nicht nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften vertreten gewesen zu sein (§ 202 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO) . Die Sache ist daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG) .
§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG ist nicht anzuwenden; die Entscheidung des LSG kann also nicht in der Sache bestätigt werden. Von dem Grundsatz, dass bei Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes eine Sachentscheidung ausgeschlossen und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist (BSGE 63, 43, 45 = SozR 2200 § 368a Nr 21 S 75) , ist von vornherein nur dann eine Ausnahme zu machen, wenn ein Erfolg der Klage unter keinem denkbaren Gesichtpunkt in Betracht kommt (BSGE 75, 74, 77 = SozR 3-2500 § 33 Nr 12 S 45; BSG, Urteil vom 6.3.1996 - 9 RVg 3/94 -, juris RdNr 13) . Abgesehen davon, dass der Kläger ohnedies nur die Zurückverweisung der Sache an das LSG beantragt hat, liegt ein derartiger Ausnahmefall nicht vor.
Der Kläger war jedenfalls seit der Aufhebung der Betreuung durch Beschluss des AG Ilmenau vom 14.11.2000 (XVII 6/97) bis zur Bestellung des jetzigen Betreuers nicht ordnungsgemäß vertreten, weil er selbst nicht prozessfähig iS des § 71 Abs 1 SGG iVm §§ 104 ff BGB war. § 71 Abs 1 SGG bestimmt, dass ein Beteiligter prozessfähig ist, soweit er sich durch Verträge verpflichten kann. Prozessunfähig sind natürliche Personen, die geschäftsunfähig sind. Nicht geschäftsfähig und damit nicht prozessfähig sind natürliche Personen, wenn sie sich nicht nur vorübergehend in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befinden (§ 104 Nr 2 BGB) .
Dass dies bei dem Kläger der Fall ist, ergibt sich aus dem Gutachten des vom Senat als Sachverständigen bestellten Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. S vom 4.1.2008, der auf der Grundlage einer Untersuchung des Klägers zu dem Ergebnis gelangt ist, dass der Kläger zumindest in der Zeit ab 15.11.2000 (Beschluss über die Aufhebung der Betreuung vom 14.11.2000) bis 11.7.2005 (Beschluss über die erneute Einrichtung einer Betreuung ab 12.7.2005) wegen einer wahnhaften Störung nicht in der Lage war, im Rahmen eines Gerichtsverfahrens Erklärungen abzugeben, Anträge zu stellen und Rechtsmittel einzulegen. Der Senat folgt dieser Einschätzung des Sachverständigen, weil sie schlüssig unter Berücksichtigung der langjährigen Krankheitsgeschichte des Klägers und in inhaltlicher Übereinstimmung mit den Vorgutachten begründet ist. Der Sachverständige nimmt dabei ua Bezug auf das von Dr. B in einem Gerichtsverfahren (Arbeitsgericht Suhl - 2 Ca 3160/94) erstellte Gutachten vom 18.7.1997. Auf der Grundlage von Untersuchungen des Klägers am 23.10.1996 und 7.7.1997 war Dr. B bereits zum damaligen Zeitpunkt zu dem Ergebnis gelangt, dass bei dem Kläger wegen einer nachweisbaren paranoiden Störung (Wahnerkrankung) eine allgemeine Geschäfts- und Prozessunfähigkeit vorliege. In einem weiteren Gutachten vom 4.5.2000 war dann auch Dr. R in einer Betreuungssache (AG Ilmenau XVII 41/97) zu dem Ergebnis gekommen, dass bei dem Kläger eine chronisch wahnhafte Störung gegeben sei; diese führe dazu, dass er seine Behördenangelegenheiten und Vertretung in allen Rechtsstreitigkeiten nicht selbst besorgen könne. Vor diesem Hintergrund kann die ohne Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens bzw einer medizinischen Stellungnahme erfolgte Aufhebung der angeordneten Betreuung "auf Anregung des Betroffenen" durch Beschluss des AG Ilmenau vom 14.11.2000 (XVII 6/97) mit Bezug ua auf das angespannte Verhältnis zwischen dem Betroffenen und dem Betreuer keine widersprechenden Argumente liefern. Der vom Senat mit der Prüfung der Geschäftsfähigkeit beauftragte Dr. S ist gerade auf Grund seiner Tätigkeit in weiteren Betreuungssachen des Klägers (vgl AG Ilmenau, Gutachten vom 12.2.2003 und 9.5.2005, - I C 133/97- und - XVII 73/03) in der Lage, die Auswirkungen der Erkrankungen des Klägers fundiert - auch in ihrem Verlauf - zu bewerten.
Da die Sache demnach schon wegen des absoluten Revisionsgrundes des Fehlens einer ordnungsgemäßen Vertretung des Klägers an das LSG zurückzuverweisen ist, ist die Nichtbeachtung der - wegen der Prozessunfähigkeit des Klägers mit der Aufhebung der Betreuung eingetretenen - Unterbrechung des Verfahrens bis zur Bestellung des jetzigen Betreuers (vgl § 241 Abs 1 ZPO) ohne weitere Bedeutung.
Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen