Leitsatz (amtlich)

Eine Zeit der Verschleppung während des ersten Weltkrieges kann eine Ersatzzeit nach RVO § 1251 Abs 1 Nr 3 erst von der Vollendung des 16. Lebensjahres an sein.

 

Normenkette

AVG § 28 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 2. Juli 1969 und des Sozialgerichts München vom 30. November 1967 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der Kläger bezog von der Beklagten vom 1. November 1961 an Rente wegen Berufsunfähigkeit. Seit dem 1. Dezember 1965 erhält er Altersruhegeld. Unter den Beteiligten bestand in mehrfacher Hinsicht Streit über die Höhe dieser Leistungen. Jetzt streiten sie jedoch nur noch über die Anrechnung der Zeit von Januar 1915 bis 7. Dezember 1916 als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Dazu steht nunmehr fest, daß der am 7. Dezember 1900 in Ostpreußen geborene Kläger im ersten Weltkrieg in der Zeit vom 9. Januar 1915 bis 10. Juni 1918 nach Rußland verschleppt war. Vom September 1918 bis Januar 1920 hatte er Wehrdienst geleistet.

Die Beklagte hat bei den abschließenden Rentenberechnungen die Wehrdienstzeit als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG angerechnet, außerdem die Zeit der Verschleppung von der Vollendung des 16. Lebensjahres an, der damaligen Grenze für den Beginn der Versicherungspflicht, d. h. also den Zeitraum vom 7. Dezember 1916 bis 10. Juni 1918, als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG.

Das Sozialgericht (SG) München hat die Beklagte unter Abänderung der entgegenstehenden Bescheide verurteilt, auch die Zeit vom Januar 1915 bis zum 7. Dezember 1916 als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG rentensteigernd zu berücksichtigen. Die hiergegen von der Beklagten eingelegte Berufung ist erfolglos geblieben.

Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat in seinem Urteil die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen. Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt mit dem Antrage,

das angefochtene Urteil aufzuheben und unter Abänderung des Urteils des SG München vom 30. November 1967 die Klage abzuweisen.

Gerügt wird unrichtige Anwendung des § 28 AVG.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen,

da das angefochtene Urteil richtig sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II.

Die Revision der Beklagten ist begründet.

Das LSG hat in seinem Urteil vom 2. Juli 1969 (Bayer. Amtsblatt 1969 B 41) die Auffassung vertreten, die gesamte Zeit der Verschleppung erfülle den Tatbestand des hier maßgebenden § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG idF des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG). Zwar könne nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) Ersatzzeit nur eine Zeit sein, in welcher der Versicherte auch die Möglichkeit gehabt habe, Beiträge wirksam zu entrichten. Diese Frage beurteile sich jedoch nicht nach dem Recht zur Zeit der streitigen Zeit, sondern nach neuem Recht. Danach hätte der Kläger aber die Möglichkeit gehabt, schon vor Vollendung des 16. Lebensjahres insbesondere z. B. als Lehrling versicherungspflichtig beschäftigt gewesen zu sein. Deshalb müsse ihm auch der noch streitige Zeitraum als Ersatzzeit angerechnet werden.

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit Recht. Zutreffend ist zwar das LSG davon ausgegangen, daß Ersatzzeiten ihrem Wesen nach Beitragszeiten ersetzen sollen und deshalb die rechtliche Möglichkeit voraussetzen, daß während ihrer Zeit ohne das Vorhandensein der jeweils maßgebenden Tatbestände auch tatsächlich Beiträge wirksam hätten entrichtet werden können, wobei hier dahingestellt bleiben kann, ob es sich dabei um Pflichtbeiträge gehandelt haben muß oder ob die Möglichkeit zur Entrichtung von freiwilligen Beiträgen genügt. Daß eine Ersatzzeit nur demjenigen angerechnet werden kann, der aus bestimmten Gründen eine Zeitlang nicht in der Lage gewesen ist, Beiträge zu leisten, entsprach bereits der Auffassung des früheren Reichsversicherungsamts - RVA - (vgl. die GE. en Nr. 5458 und 5495, AN 1942, 76 und 573); es mußte sich danach bei den Ersatzzeiten immer um Zeiten handeln, für die mit Rücksicht auf einen besonderen, im Gesetz festgelegten Tatbestand die Beitragspflicht ausnahmsweise erlassen war. Hieran hat sich durch die Rentenreform des Jahres 1957 nichts geändert. Was überhaupt nicht als Beitragszeit entgangen sein kann, kann auch nicht ersetzt werden.

Dafür, ob eine Zeit als Beitragszeit entgangen sein kann und entgangen ist, muß, da das geltende Recht nichts abweichendes bestimmt, das Recht maßgebend sein, das zu der Zeit gegolten hat, in die die anzurechnende Ersatzzeit fällt. Der Auffassung des LSG, daß aus allgemeinen Erwägungen auch ohne besondere gesetzliche Regelung die Voraussetzungen für die Möglichkeit einer Beitragsentrichtung sich stets nach neuern Recht richten müßten, kann nicht gefolgt werden. Dagegen sprechen vor allem die in § 16 des Fremdrentengesetzes (FRG) idF des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes vom 25. Februar 1960 und in § 8 Abs. 2 der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) vom 3. März 1960 getroffenen Regelungen. Nach § 16 FRG werden auch bei Vertriebenen nur die nach vollendetem 16. Lebensjahr vor der Vertreibung zurückgelegten Beschäftigungszeiten den Beitragszeiten gleichgestellt. Und nach § 8 Abs. 2 VuVO wird bei Versicherten der Geburtsjahrgänge 1907 und früher, zu denen auch der Kläger gehört, vermutet, daß die Versicherung nicht schon wie bei den späteren Geburtsjahrgängen bereits mit der Vollendung des 14. Lebensjahres, sondern erst mit der Vollendung des 16. Lebensjahres begonnen hat. Besonders diese letzte Regelung trägt den Gesetzesvorschriften des früheren Rechts Rechnung, wonach ua viele Jahre lang eine Versicherung vor dem 16. Lebensjahr nicht begonnen werden konnte (vgl. die Amtliche Begründung zur VuVO, BR-Drucksache 44/60 S. 7).

In der Zeit vom 1. Januar 1891 bis 31. Oktober 1922 konnten Versicherungszeiten erst vom vollendeten 16. Lebensjahr an erworben werden. Denn weder die damaligen Vorschriften über die Versicherungspflicht noch diejenigen über die Selbstversicherung ließen, wie das LSG selbst zugibt, bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres die Begründung eines Versicherungsverhältnisses in der sozialen Rentenversicherung zu. Damit kann der hier streitige Zeitraum nicht Ersatzzeit sein, da der Kläger auch ohne die Verschleppung niemals in der Lage gewesen wäre, ein Versicherungsverhältnis zu begründen. Diese Auffassung entspricht der bisherigen Rechtsprechung des BSG (vgl. insbes. SozR § 1251 RVO Nr. 33). Aus dem Urteil 4 RJ 527/63 vom 26. Mai 1965 (BSG 23, 89) kann nichts gegenteiliges entnommen werden. Hier ging es um die Frage, ob für einen Verfolgten die Jahre 1937 bis 1940, als er 12, 13, 14 und 15 Jahre alt war, Ersatzzeiten nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG sein konnten. In der erwähnten Entscheidung ist ausdrücklich darauf abgestellt worden, daß nach der damaligen Rechtslage eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung des Verfolgten nicht grundsätzlich ausgeschlossen war. Das war indes beim Kläger in der streitigen Zeit, als er während des ersten Weltkriegs nach Rußland verschleppt worden war, gerade nicht der Fall. Soweit B (Ersatzzeiten im Kindesalter, Zentralblatt für SozVers, Sozialhilfe u. Vers. 1970, 4, 7) in diesem Zusammenhange sich noch auf § 150 Abs. 2 RVO beruft, übersieht er, daß diese Vorschrift in erster Linie für die Krankenversicherung von Bedeutung war (vgl. Hanow, Kommentar zur RVO, 1. Buch, 5. Aufl., § 149 RVO Note 1). In § 165 RVO gab es keine Altersgrenze wie in § 1226 RVO (beide idF des Gesetzes vom 19. Juli 1911, RGBl S. 509). In der Zeit vor dem 1. November 1922 konnten daher Kinder unter 16 Jahren durchaus ein "Sozialversicherungsverhältnis" begründen, aber eben nur nicht in der Rentenversicherung.

Aus allen diesen Gründen kann der gegenteiligen Auffassung der Vorinstanzen nicht gefolgt werden, so daß auf die Revision der Beklagten die angefochtenen Urteile aufzuheben sind und die Klage abgewiesen werden muß.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1669026

BSGE, 14

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