Leitsatz (redaktionell)

Zur Frage des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs bei fehlerhafter Beratung des Versicherten.

 

Normenkette

SGB 1 § 14 Fassung: 1975-12-11

 

Tatbestand

Streitig ist, ob ein Kriegsdienst als Ersatzzeit rentensteigernd angerechnet werden kann.

Dem im Juli 1912 geborenen, nie versicherungspflichtig beschäftigt gewesenen Kläger, damals selbständiger Mechaniker und Winzer, gestattete die Beklagte im Jahre 1976, freiwillige Beiträge zur Arbeiterrentenversicherung (ArV) nach Art 2 § 51a Abs 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) in der Fassung des Rentenreformgesetzes (RRG vom 16. Oktober 1972 nachzuentrichten; hiervon machte er für die Zeit von Januar 1956 bis Dezember 1972 Gebrauch und entrichtete 204 freiwillige Beiträge.

Im Juli 1977 - Monat der Vollendung des 65. Lebensjahres - übertrug der Kläger seinen Gewerbebetrieb seiner Frau.

Auf den ebenfalls im Juli 1977 gestellten Antrag bewilligte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 23. November 1977 Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres ab 1. August 1977 im Betrag von damals zuletzt 649,90 DM monatlich. In der Begründung des Bescheides heißt es, der Kriegsdienst des Klägers von August 1939 bis Juni 1945 könne nicht angerechnet werden, weil er im Sinne von Art 2 § 9a ArVNG die selbständige Erwerbstätigkeit nicht aufgegeben habe; er führe die Landwirtschaft noch weiter.

Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers blieben ohne Erfolg. In der angefochtenen Entscheidung vom 8. August 1980 hat das Landessozialgericht (LSG) das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) bestätigt und ausgeführt: Die Voraussetzungen des Art 2 § 9a Abs 2 ArVNG erfülle der Kläger nicht. Es brauche dabei nicht entschieden zu werden, ob der Kläger durch Aufgabe seines Handwerksbetriebes eine selbständige Tätigkeit endgültig eingestellt habe. Jedenfalls übe der Kläger eine selbständige Tätigkeit noch im Rahmen seiner Landwirtschaft - 1977 ua ein Ertrag von 4.000 l Wein auf 1,1 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche - aus; keine Rolle spiele die Größe des landwirtschaftlichen Betriebes. Nach dem Gesetz genüge eine Tätigkeit im geringfügigen Umfang, um Art 2 § 9a Abs 2 aaO auszuschließen. Die vom Kläger begehrte Anrechnung seines Kriegsdienstes sei auch nicht auf Grund eines sogenannten Herstellungsanspruches möglich: Insoweit komme nur ein vom Versicherungsträger rückwirkend korrigierbarer Fehler in Betracht. Die Tatsache, daß der Kläger bis zum Eintritt des Versicherungsfalles selbständiger Unternehmer war, könne durch keine Amtshandlung der Beklagten rückwirkend korrigiert werden. Die Beklagte könne den Kläger daher nicht so behandeln, als habe er seine Landwirtschaft endgültig aufgegeben. Ein Herstellungsanspruch könne nicht begründet sein. Für Fragen der Amtshaftung sei der Zivilrechtsweg gegeben.

Das LSG hat in diesem Urteil die Revision zugelassen.

Mit der Revision bringt der Kläger vor, für die Beklagte sei aus seinem Rentenantrag vom 19. Juli 1977 klar zu erkennen gewesen, daß er den Wehrdienst als Ersatzzeit anzurechnen verlange. Hätte ihn die Beklagte über die Voraussetzungen des Art 2 § 9a Abs 2 ArVNG hingewiesen, hätte er sich "entsprechend verhalten" können. Er hätte den Rentenantrag verlegen und in der Zwischenzeit die selbständige Tätigkeit offiziell aufgeben können. Dadurch, daß ihn die Beklagte rechtzeitig entsprechend zu beraten unterlassen habe, sei er geschädigt worden; sein Kriegsdienst müsse aufgrund der Herstellungsverpflichtung der Beklagten anerkannt werden.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz

vom 8. August 1980 und das Urteil des Sozialgerichts Trier

vom 12. Dezember 1979, weiterhin den Bescheid der Beklagten vom

23. November 1977 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom

24. November 1978 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen,

den in der Zeit vom 26. August 1939 bis 13. Juni 1945

geleisteten Wehrdienst/Kriegsdienst als rentensteigernde Ersatzzeit

anzuerkennen;

die Beklagte zu verpflichten, ihm die außergerichtlichen Kosten

in sämtlichen Rechtszügen zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie führt aus, sie habe die Beratungspflicht nicht verletzen können, weil sie bei Erteilung des Rentenbewilligungsbescheides keine Kenntnis davon gehabt habe, daß der Kläger noch eine selbständige Erwerbstätigkeit im Rahmen seiner Landwirtschaft ausübe. Der Kläger habe im Rentenantrag ausdrücklich auf Art 2 § 9a ArVNG Bezug genommen, eine Bescheinigung der Verbandsgemeindeverwaltung vom 20. Juli 1977 über die Abmeldung seines Gewerbebetriebs vorgelegt und als Rentenbeginn den 1. August 1977 ausdrücklich bestimmt. Sie habe deshalb annehmen müssen, daß der Kläger über die Voraussetzungen einer Anrechnung der Kriegsdienstzeit unterrichtet war. Für sie sei daher nicht erkennbar gewesen, daß der Kläger den Versicherungsfall auf einen späteren Zeitpunkt verlegen und vorher die selbständige landwirtschaftliche Erwerbstätigkeit aufgeben wolle. Selbst wenn eine klar zutage getretene und erkennbare Gestaltungsmöglichkeit vorgelegen hätte, würde die Hinweispflicht der Beklagten nur bis zur Erteilung des Rentenbescheides bestehen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet.

Der Kläger könnte die Zeit seines Wehrdienstes grundsätzlich nur dann nach § 1251 der Reichsversicherungsordnung (RVO) als Ersatzzeit rentensteigernd angerechnet erhalten, wenn er schon vor ihrem Beginn rentenversichert gewesen wäre oder nach dem Ende des Wehrdienstes zeitnah eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen hätte und noch weitere Voraussetzungen vorlägen (Abs 2 aaO). Das ist beim Kläger unstreitig nicht der Fall. Auch die Voraussetzungen der Sondervorschrift für ehemalige Selbständige nach Art 2 § 9a Abs 2 ArVNG idF des 21. Rentenanpassungsgesetzes (21. RAG) vom 25. Juli 1978 (BGBl I 1089 ) - rückwirkend in Kraft ab 19. Oktober 1972 - treffen auf den Kläger nicht zu. Er selbst bekämpft in der Revision zutreffend nicht mehr die Auffassung des LSG, daß er bei Beantragung des Altersruhegeldes nur seine Tätigkeit als selbständiger Mechaniker, nicht die eines selbständigen Landwirts (Winzers) aufgegeben hatte.

Unrichtig ist aber die in der Revision vertretene Auffassung des Klägers, seinen Wehrdienst müsse ihm die Beklagte in Wiederherstellung ihres Versäumnisses anrechnen, ihn bei Beantragung des Altersruhegeldes über die Tragweite des Art 2 § 9a Abs 2 aaO hinreichend zu beraten; wäre dies geschehen, hätte er seinen Rentenantrag hinausgeschoben und Gelegenheit genommen, auch seinen landwirtschaftlichen Betrieb aufzugeben.

Das richterrechtliche Institut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs beruht im wesentlichen auf folgenden Erwägungen: Bereits vor der ausdrücklichen Normierung der Ansprüche auf Beratung und Auskunft durch §§ 14, 15 des am 1. Januar 1976 in Kraft getretenen Allgemeinen Teils des Sozialgesetzbuches (SGB 1) sind mit der Begründung eines Sozialrechtsverhältnisses hieraus insbesondere nach dem Grundsatz von Treu und Glauben für den Versicherungsträger bestimmte Nebenpflichten erwachsen. Dazu zählt ua die Pflicht zur Auskunft und Beratung sowie zur "verständnisvollen Förderung" des Versicherten. Bei Vorliegen eines konkreten Anlasses hat der Versicherungsträger den Versicherten auf solche Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, die klar zutage liegen und deren Wahrnehmung offenbar so zweckmäßig ist, daß jeder verständige Versicherte sie mutmaßlich nutzen würde. Verletzt der Versicherungsträger diese ihm obliegende Nebenpflicht, so kann dem Versicherten daraus ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch erwachsen. Dieser ist auf Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung desjenigen Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Versicherungsträger die ihm aus dem Versicherungsverhältnis erwachsenen Nebenpflichten ordnungsgemäß wahrgenommen hätte. Dabei ist allerdings Voraussetzung, daß die Verletzung der Nebenpflicht ursächlich für einen Schaden des Versicherten gewesen ist (vgl mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung zB den erkennenden Senat in BSGE 50, 88, 91 = SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 39; BSG an letztgenannter Stelle Nr 43, vgl ferner Funk, DAngVers 1981, 26 mit zahlreichen Nachweisen aus Rspr und Schrifttum). Da nach alledem ein Herstellungsanspruch nur bestehen kann, wo zwischen behaupteter Verletzung der Auskunfts- und Beratungspflicht des Versicherungsträgers und dem beim Versicherten eingetretenen Schaden ein ursächlicher Zusammenhang festgestellt werden kann, könnte der Kläger vorliegend nur dann mit seinem Begehren durchdringen, wenn nachträglich überhaupt feststellbar wäre, daß er wegen der vorgeblich unzureichenden Beratung der Beklagten die selbständige landwirtschaftliche Tätigkeit aufzugeben unterlassen habe. Dies ist indessen nicht feststellbar. Zwar ist die Möglichkeit eines solchen ursächlichen Zusammenhangs trotz der Behauptung der Beklagten nicht ausgeschlossen, der Kläger sei nach den Umständen des Falles - ua Abmeldung seines Gewerbebetriebes als selbständiger Mechanikermeister - sehr wohl schon bei seinem Rentenantrag im Juli 1977 über alle Erfordernisse des Art 2 § 9a Abs 2 aaO unterrichtet gewesen und habe gleichwohl die Winzertätigkeit nicht aufgegeben. Jedoch genügt die bloße Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs der bezeichneten Art nicht; es müßte zur Anerkennung eines Anspruchs, wie ihn der Kläger geltend macht, eine hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit bestehen. Die Annahme einer über eine bloße Möglichkeit hinausreichenden Wahrscheinlichkeit ist nach der Art des vom LSG bindend festgestellten Sachverhalts (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) indessen nicht begründbar. Nach den Gegebenheiten des Falles kann der Senat nicht absehen, daß das Tatsachengericht - etwa nach Zurückverweisung an die Vorinstanz - denkbar in der Lage wäre, nachträglich noch festzustellen, ob sich der Kläger für die Weiterführung des Betriebes oder für die Rentenerhöhung entschieden hätte. Eine Entscheidung dieser Art ließe sich als sogenannte innere Tatsache grundsätzlich nur an ihren Auswirkungen, in der Regel also in der tatsächlichen Aufgabe der selbständigen Tätigkeit objektiv feststellen. Dies ist in fällen der vorliegenden Art von vornherein unmöglich; die selbständige Tätigkeit ist - angeblich schadensstiftend - (bis zum Versicherungsfall) gerade nicht aufgegeben. Deshalb kommt ein ursächlicher Zusammenhang zwischen angeblich unterlassener Aufgabe der Tätigkeit und behaupteter Schädigung durch die Beklagte wegen unterlassener Aufklärung nur in Betracht, wo die Umstände des Falles so eindeutig liegen, daß auch ein objektiver, unvoreingenommener und verständiger Betrachter sie in diesem Sinne zu deuten genötigt wäre. Auf die Sicht des Versicherten selbst kommt es also nicht an (vgl BSG SozR 2200 § 182 Nr 57; Funk, aaO, 33).

Im konkreten Fall liegen nach den den Senat bindenden Feststellungen des LSG keine gegenüber der anderen Möglichkeit eindeutigen Umstände für die Annahme vor, daß der Kläger nach entsprechender Aufklärung durch die Beklagte den landwirtschaftlichen Betrieb wahrscheinlich aufgegeben hätte. Dem Kläger mag zur Zeit seines Antrages auf Altersruhegeld die Weiterführung seiner Landwirtschaft, in der er 1977 immerhin allein noch 4000 l Wein erwirtschaftet hatte, wichtiger gewesen sein als die Rentenerhöhung, die sich durch die Anrechnung seines Kriegsdienstes ergeben hätte. Freilich mag es sich auch anders verhalten haben. Keine der beiden in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten ist jedoch geeignet, die andere zu überwiegen; für keine spricht daher eine zu fordernde Wahrscheinlichkeit. Hiervon kann der erkennende Senat nach der Eigenart des von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalts ausgehen, ohne unzulässig selbst Tatsachen festzustellen. Ist nach dem dem Senat unterbreiteten Sachverhalt der erforderliche ursächliche Zusammenhang zwischen behaupteter Verletzung einer Beratungspflicht und unterlassener Aufgabe des landwirtschaftlichen Betriebes mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit nicht mehr nachträglich begründbar, so vermag auch das Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs das Begehren des Klägers nicht zu stützen. Seine Revision gegen das zutreffende Urteil des LSG war daher zurückzuweisen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666480

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