Entscheidungsstichwort (Thema)
Zeitpunkt der Zustellung bei vereinfachtem Empfangsbekenntnis. Zustellung durch nachträgliche Ausstellung des Empfangsbekenntnisses. unvollständige Rechtsmittelbelehrung bei Anspruchshäufung
Leitsatz (redaktionell)
Fälligkeitstermin für die Erstattung von Lehrgangskosten; Nichteingreifen des Berufungsausschusses bei wiederkehrenden Leistungen; zum Inhalt der Rechtsmittelbelehrung
Orientierungssatz
1. Für die Zustellung gemäß § 5 Abs 2 VwZG ist der Zeitpunkt maßgebend, an dem der Empfänger von dem Zugang des zuzustellenden Schriftstückes Kenntnis erlangt und aufgrund dieser Kenntnis den Willen bekundet, die Zustellung entgegenzunehmen (vgl BSG 1966-03-23 9 RV 334/63 = NJW 1966, 1382, BFH 1971-06-23 I B 12/71 = NJW 1972, 552 und BVerwG 1979-05-17 2 C 1/79 = NJW 1979, 1998).
2. Die nachträgliche Ausstellung und Datierung eines Empfangsbekenntnisses, die zulässig ist und auf die Wirksamkeit der Zustellung keinen Einfluß hat, wirkt auf den Zeitpunkt zurück, in dem der Aussteller des Empfangsbekenntnisses das Schriftstück als zugestellt entgegengenommen hat (vgl BFH 1971-06-23 I B 12/71 = NJW 1972, 552).
3. Die einem Urteil beigefügte Rechtsmittelbelehrung ist, soweit sie sich auf mehrere selbständige Ansprüche bzw Streitgegenstände bezieht, nicht insgesamt unrichtig, wenn sie bezüglich eines Teils der streitigen Ansprüche unrichtig bzw unvollständig ist.
Normenkette
VwZG § 5 Abs. 2; SGG § 66 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1953-09-03; AFG § 45; AFuU § 23 Abs. 1 S. 3; SGG § 144 Abs. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 22.03.1979; Aktenzeichen L 1 Ar 419/77) |
SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 14.02.1977; Aktenzeichen S 15/7/14 Ar 144/74) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Förderung der Teilnahme der Klägerin an einem Lehrgang für die Vorbereitung auf die Fremdenprüfung zur Erzieherin in der Zeit vom 4. Mai 1973 bis 30. April 1975.
Für den Lehrgang, an dem die Klägerin teilgenommen hat, waren an Lehrgangsgebühren insgesamt 3.000,-- DM, die in Raten gezahlt werden konnten, aufzubringen, ferner fielen für Lernmittel 23,-- DM monatlich und eine Prüfungsgebühr in Höhe von 80,-- DM an.
Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin auf Förderung der Maßnahme ab (Bescheid vom 19. Dezember 1973, Widerspruchsbescheid vom 29. Mai 1974). Das Sozialgericht (SG) gab mit Urteil vom 14. Februar 1977 der Klage statt und verurteilte die Beklagte, der Klägerin "Förderungsleistungen im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften" zu gewähren. In der dem Urteil angefügten Rechtsmittelbelehrung heißt es, das Urteil könne mit der Berufung angefochten werden.
Das Urteil ist nach dem 21. März 1977 (Montag) von dem Direktor des Arbeitsamtes H unterzeichneten Empfangsbekenntnis am 18. März 1977 dort eingegangen und der Empfang bestätigt worden. Das Empfangsbekenntnis trägt den Eingangsstempel des Arbeitsamtes H vom 17. März 1977. Gegen dieses Urteil legte die Beklagte mit Schriftsatz vom 18. 1pril 1977, eingegangen beim Hessischen Landessozialgericht (LSG) am 20. April 1977 (Mittwoch) Berufung ein.
Mit Urteil vom 22. März 1979 hat das LSG die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen, soweit die Prüfungsgebühr im Streit steht. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Die Berufung der Beklagten sei zulässig. Zwar sei die Monatsfrist des § 151 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von der Beklagten nicht gewahrt worden, weil sie gegen das nach dem hier maßgeblichen Eingangsstempel des Arbeitsamtes H am 17. März 1977 zugestellte Urteil erst am 20. April 1977 Berufung eingelegt habe. Gleichwohl sei die Berufungsfrist nach § 66 Abs 2 SGG gewahrt, da die Rechtsmittelbelehrung des SG, das die Berufung im vollen Umfange für zulässig gehalten habe, insoweit unrichtig sei. Die Fehlerhaftigkeit ergebe sich daraus, daß auch eine einmalige Leistung, nämlich die Prüfungsgebühr, von dem Tenor der sozialgerichtlichen Entscheidung erfaßt gewesen sei. Wenn auch die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Förderungsleistungen im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften nicht den Anforderungen an ein Grundurteil iS von § 130 SGG entsprochen haben möge, so sei doch der Tenor dahin zu verstehen, daß alle in Betracht kommenden Leistungen, somit auch die Prüfungsgebühr, von dem Urteil erfaßt sein sollten. Die Statthaftigkeit der Berufung sei jedoch gesondert für die verschiedenen Streitgegenstände zu prüfen, wobei die Leistungen nach § 45 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) nicht zu einem einheitlichen Streitgegenstand zusammengefaßt werden könnten. Mit der am 20. April 1977 eingegangenen Berufungsschrift sei die Berufungsfrist damit gewahrt.
Die Berufung der Beklagten sei jedoch insoweit als unzulässig zu verwerfen, als die Prüfungsgebühr in Streit stehe; denn hierbei handele es sich um eine einmalige Leistung iS von § 144 Abs 1 Nr 1 SGG. Ungeachtet dieser Bestimmung sei die Berufung auch nicht nach § 150 Nr 1 oder Nr 2 SGG zulässig. Hinsichtlich der weiter geltend gemachten Leistungen sei die Berufung jedoch zulässig und auch begründet.
Mit der Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 158, 66 SGG und bringt hierzu insbesondere vor: Die von der Beklagten am 20. April 1977 eingelegte Berufung hätte insgesamt als unzulässig verworfen werden müssen, denn sie sei verspätet gewesen, weil die Zustellung ausweislich des Empfangsbekenntnisses der Beklagten am 18. März 1977 erfolgt sei. Das Datum der Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses sei ebenso unerheblich wie das Eingangsdatum im Tagesstempel des Arbeitsamtes.
Statt den Prozeß wegen der Versäumung der Berufungsfrist insgesamt durch Prozeßurteil zu beenden, habe das LSG - unter Verkennung des Inhalts einer Rechtsmittelbelehrung - im Rechtsstreit durch Sachurteil entschieden. Die Rechtsmittelbelehrung des SG sei entgegen der Auffassung des LSG nicht unrichtig iS von § 66 Abs 2 SGG gewesen, so daß nicht die Jahresfrist nach dieser Bestimmung, sondern die normale Monatsfrist des § 151 Abs 1 SGG für die Einlegung der Berufung maßgeblich sei. Die Rechtsmittelbelehrung habe alle nach § 66 Abs 1 SGG erforderlichen Angaben enthalten. Daß in ihr nicht zum Ausdruck gebracht worden sei, daß die Berufung nur für einen Teil der geltend gemachten Ansprüche zulässig gewesen sei, begründe keine Unrichtigkeit iS von § 66 SGG; andernfalls würden an die Rechtsmittelbelehrung Anforderungen gestellt, die weder im Text dieser Bestimmung noch in der dazu ergangenen Rechtsprechung eine Stütze fänden. Der Rechtsmittelbelehrung komme nur die Bedeutung zu, die Beteiligten über die ersten Schritte zur Einlegung des Rechtsmittels zu belehren, ohne daß sie einen Gesetzestext zur Hilfe nehmen müßten. Diesem Erfordernis habe die Rechtsmittelbelehrung im sozialgerichtlichen Urteil entsprochen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts
vom 22. März 1979 aufzuheben, soweit der
Berufung der Beklagten stattgegeben und die
Klage abgewiesen worden ist, und die Berufung der
Beklagten auch insoweit als unzulässig zu verwerfen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Sie rügt, das Urteil des LSG gehe zu Unrecht davon aus, daß das erstinstanzliche Urteil dem Arbeitsamt H am 17. März 1977 zugestellt worden sei. Die ihr vorliegende Urteilsausfertigung trage den Eingangsstempel "Arbeitsamt H 21. März 1977". Nach einem handschriftlichen Vermerk auf der Urteilsausfertigung sei dieses Datum auch auf dem Empfangsbekenntnis angegeben worden. Da somit die Berufungsfrist erst am 21. April 1977 abgelaufen sei, sei die am 20. April 1977 beim LSG eingegangene Berufung auf jeden Fall rechtzeitig eingelegt worden. Die Entscheidung des LSG sei daher im Ergebnis richtig. Die materiell-rechtliche Entscheidung des LSG sei zutreffend.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet. Das angefochtene Urteil des LSG war aufzuheben, soweit der Berufung stattgegeben und die Klage abgewiesen worden ist. Die Berufung der Beklagten war auch insoweit als unzulässig zu verwerfen, weil sie die Berufungsfrist des § 151 Abs 1 SGG versäumt hat (§ 158 Abs 1 SGG). Die Zulässigkeit der Berufung hat das Revisionsgericht bei einer zugelassenen Revision als eine von Amts wegen zu beachtende Verfahrensvoraussetzung zu prüfen (vgl für viele BSG SozR 1500 § 150 Nrn 11 und 18 mwN).
Nach § 151 Abs 1 SGG ist die Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Diese Frist war versäumt, weil das angefochtene Urteil der Beklagten am 18. März 1977 zugestellt worden ist, hingegen die Berufungsschrift erst am 20. April 1977, also verspätet, beim LSG eingegangen ist.
Entgegen der Auffassung des LSG ist die Zustellung nicht bereits am 17. März 1977, dem Tag des Eingangs des zuzustellenden Urteils bei der Posteingangsstelle des Arbeitsamtes H und auch nicht, wie die Beklagte meint, erst am 21. März 1977, dem Tag, an dem das Empfangsbekenntnis unterzeichnet worden ist, erfolgt. Maßgebender Zeitpunkt für die Zustellung, die hier gem § 63 Abs 2 SGG in der vereinfachten Form des § 5 Abs 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) durchgeführt worden ist, ist vielmehr der Zeitpunkt, an dem der Empfänger von dem Zugang des zuzustellenden Schriftstückes Kenntnis erlangt und aufgrund dieser Kenntnis den Willen bekundet, die Zustellung entgegenzunehmen (BSG in NJW 1966, 1382 mwN; BFH in NJW 1972, 552; BVerwG in NJW 1979, 1998). Die insoweit erforderlichen Tatsachen kann der Senat im Rahmen der von Amts wegen zu prüfenden Zulässigkeit der Berufung selbst feststellen (Meyer-Ladewig, Komm zum SGG, 1977, § 163 RdNr 5). Nach dem eindeutigen Inhalt des von der Beklagten dem Gericht zurückgesandten Empfangsbekenntnisses ist die Zustellung am 18. März 1977 erfolgt, denn für diesen Tag hat der Direktor des Arbeitsamtes H als Zustellungsempfänger zugleich mit der Bekundung des Eingangs des zuzustellenden Urteils und der Bestätigung des Empfangs seine Bereitschaft bekundet, das Urteil entgegenzunehmen. Das Empfangsbekenntnis liefert insoweit vollen Beweis für die Richtigkeit dieses Datums, sofern der nach § 118 Abs 1 SGG iVm § 418 Abs 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) zulässige Gegenbeweis nichts anderes ergibt (BSG SozR § 103 SGG Nr 29). Zum Nachweis der Unrichtigkeit des Zustellungsdatums - 18. März 1977 - kann sich die Beklagte nicht darauf berufen, daß die ihr vorliegende Urteilsausfertigung den Eingangsstempel "21. März 1977" trägt und nach einem handschriftlichen Vermerk auf der Urteilsausfertigung dieses Datum auch auf dem Empfangsbekenntnis angegeben worden sein soll. Aus dem Empfangsbekenntnis ergibt sich insoweit eindeutig, daß dieses erst am 21. März 1977, also drei Tage nach der bekundeten Empfangnahme, unterschrieben und datiert worden ist. Dieses Datum ist jedoch für den Zeitpunkt der Zustellung unerheblich; denn die nachträgliche Ausstellung und Datierung des Empfangsbekenntnisses, die zulässig ist und auf die Wirksamkeit der Zustellung keinen Einfluß hat, wirkt auf den Zeitpunkt zurück, in dem der Aussteller des Empfangsbekenntnisses das Schriftstück als zugestellt entgegengenommen hat (BFH NJW 1972, 552). Maßgeblich bleibt daher der 18. März 1977, weil der Direktor des Arbeitsamtes für diesen Tag die Entgegennahme des Urteils bescheinigt hat. Mithin ist mit der am 20. April 1977 eingelegten Berufung die Berufungsfrist des § 151 Abs 1 SGG versäumt. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 SGG kam bei dieser Sachlage nicht in Betracht, da die Versäumung der Rechtsmittelfrist auf einem von der Beklagten zu vertretenden Organisationsmangel beruht.
Die Berufung ist entgegen der Auffassung des LSG auch nicht deshalb rechtzeitig eingelegt, weil die normale Rechtsmittelfrist wegen unrichtiger Rechtsmittelbelehrung nicht in Lauf gesetzt und deshalb die Einlegung der Berufung innerhalb der Jahresfrist des § 66 Abs 2 SGG zulässig war. Dies trifft für die mit der Revision verfolgten Ansprüche der Klägerin schon deshalb nicht zu, weil insoweit die Rechtsmittelbelehrung, wovon auch das LSG ausgeht, richtig war. Das LSG hat eine Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung des SG darin gesehen, daß das SG die Berufung in vollem Umfange für zulässig erklärt hat, obwohl sie für einen Teil der von seiner Entscheidung erfaßten Ansprüche - die Prüfungsgebühr - gem § 144 Abs 1 Nr 1 SGG ausgeschlossen war. Damit räumt das LSG selbst ein, daß die Rechtsmittelbelehrung hinsichtlich der übrigen Ansprüche auf Übernahme der Lehrgangsgebühren und Lernmittelkosten richtig war. Diese Ansprüche betreffen wiederkehrende Leistungen für Zeiträume von mehr als 13 Wochen, so daß insoweit die Berufungsausschließungsgründe des § 144 Abs 1 Nr 1 und 2 SGG nicht eingreifen. Kosten für den Lehrgang und für Lernmittel, die nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG von der Klägerin während der Dauer der Maßnahme in mehreren Raten bzw monatlich zu entrichten waren, waren gem § 23 Abs 1 Satz 3 der Anordnung der Bundesanstalt für Arbeit über die individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung in den hier maßgeblichen Fassungen (vom 9. September 1971, ANBA 1971, 797; vom 19. Dezember 1973, ANBA 1974, 490 - ab 1. Januar 1974 - und vom 27. Februar 1971, ANBA 1975, 417 - ab 31. März 1975 -) von der Beklagten jeweils dann zu erstatten, wenn der Klägerin die Kosten entstanden waren; damit handelt es sich - anders als bei einmalig zu entrichtenden Prüfungsgebühren - um wiederkehrende Leistungen im vorgenannten Sinne. Dementsprechend hat das LSG insoweit auch die Berufung als zulässig angesehen und in der Sache entschieden. Nur soweit das LSG in der Sache entschieden hat, greift aber die Klägerin mit ihrer Revision das Urteil des LSG an, wie sich aus ihrem Vorbringen ergibt.
War mithin die Rechtsmittelbelehrung hinsichtlich der im Revisionsverfahren streitigen Ansprüche (Lehrgangsgebühren und Lernmittelkosten) richtig, so bedarf es keiner Erörterung, ob sie hinsichtlich des mit der Revision nicht angegriffenen Teils der Entscheidung des LSG unrichtig war und ob diese Unrichtigkeit bzw Unvollständigkeit die Rechtsfolgen des § 66 SGG auslöst. Jedenfalls ist die einem Urteil beigefügte Rechtsmittelbelehrung, soweit sie sich auf mehrere selbständige Ansprüche bzw Streitgegenstände bezieht, nicht insgesamt unrichtig, wenn sie bezüglich eines Teils der streitigen Ansprüche unrichtig bzw unvollständig ist.
Da mithin die Berufung der Beklagten nicht innerhalb der gesetzlichen Frist des § 151 Abs 1 SGG eingelegt war, ist das Urteil des LSG, soweit es ihr stattgegeben hat, aufzuheben und die Berufung der Beklagten auch insoweit als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen