Entscheidungsstichwort (Thema)

Folgen der Ablehnung oder des Abbruchs einer Tuberkulose-Heilbehandlung

 

Leitsatz (amtlich)

Ist bei gleichzeitiger Kranken- und Rentenversicherung eines an aktiver Tuberkulose Erkrankten stationäre Heilbehandlung notwendig, so schließt auch die Bereitstellung dieser Heilbehandlung durch den Träger der Rentenversicherung den Anspruch des Versicherten gegen den Träger der gesetzlichen Krankenversicherung auf ambulante Krankenpflege und Krankengeld aus (Ergänzung zu BSG 1969-02-21 3 RK 42/66 = BSGE 29, 149).

 

Leitsatz (redaktionell)

Lehnt ein Versicherter die ihm angebotene Krankenhauspflege ohne rechtlichen Grund ab oder bricht er sie vorzeitig ab, so verliert er für die Dauer seines ablehnenden Verhaltens den Anspruch auf Krankenpflege und Krankengeld; diese Rechtsfolge tritt auch ein, wenn ein an Tuberkulose erkrankter Versicherter die gegenüber den versicherungsrechtlichen Ansprüchen vorrangige stationäre Heilbehandlung des Rentenversicherungsträgers unberechtigt ablehnt oder gegen ärztlichen Rat abbricht.

 

Normenkette

RVO § 184 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1911-07-19, § 183 Fassung: 1961-07-12, § 1244a Fassung: 1959-07-23

 

Tenor

Auf die Revision der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse B werden die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. Mai 1968 und des Sozialgerichts Braunschweig vom 5. Januar 1967 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Anschlußrevision des klagenden Landes wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Auslieferungsfahrer H-J W (W.), der dem Verfahren beigeladen war, jedoch am 22. Januar 1968 verstorben ist, war seit 15. Januar 1960 bei der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) pflichtversichert. Am 5. November 1962 wurde ärztlich seine Arbeitsunfähigkeit wegen Lungentuberkulose festgestellt. Sein Arbeitgeber löste das Beschäftigungsverhältnis zum 31. Dezember 1962. Bis zur Aufnahme in dem Sanatorium H in J am 20. Februar 1963 und nach seiner Entlassung aus diesem Sanatorium am 1. August 1963 erhielt W. von der AOK Krankengeld. Diese stellte jedoch die Zahlung des Krankengeldes zum 11. September 1963 ein, nachdem W., der nach ärztlichem Urteil erneut der Heilstättenbehandlung bedurfte, ohne Angabe von Gründen seine Aufnahme in der Heilstätte Sanatorium S in S verweigert hatte.

Am 31. Oktober 1963 trat W. das - von der Landesversicherungsanstalt (LVA) B gewährte - Heilverfahren in dem vorgenannten Sanatorium an. Daneben zahlte ihm die LVA ein tägliches Übergangsgeld. Am 5. August 1964 wurde W. arbeitsunfähig aus dem Sanatorium entlassen, weil er das Heilverfahren gegen dringenden ärztlichen Rat abgebrochen hatte.

Am 17. November 1964 ließ sich W. von dem Facharzt für Lungenkrankheiten Dr. W in B wegen "Cavernöser Tbc li OL Lunge" ambulant behandeln. Die Rechnung über 31,95 DM legte Dr. W der beklagten AOK und der LVA B vor. Beide Versicherungsträger lehnten die Kostenübernahme ab.

Von Dr. W angegangen, erklärte sich das Sozialamt der Stadt B unter dem 13. April 1965 bereit, für den genannten Betrag wie auch für die weiteren Behandlungskosten aufzukommen.

Den vom Sozialamt geltend gemachten Ersatzanspruch nach §§ 1531 ff der Reichsversicherungsordnung (RVO) lehnten sowohl die AOK als auch die LVA ab.

Unter dem 25. Juni 1965 beantragte das Sozialamt bei der AOK, ein Feststellungsverfahren nach § 1538 RVO durchzuführen. Als Ergebnis dieses Verfahrens teilte die AOK dem Sozialamt mit: Das Krankengeld für W. sei mit dem 11. September 1963 auf Grund des § 184 RVO i.V.m. der Krankenordnung eingestellt worden. Die Krankenhilfe ruhe somit seit 12. September 1963. Auch die Mitgliedschaft nach § 311 RVO habe am 11. September 1963 geendet, so daß W. seit diesem Zeitpunkt keine Leistungsansprüche mehr gegen sie habe.

Durch Bescheid vom 3. September 1965 bewilligte das Sozialamt W. ab 1. August 1965 eine Tuberkulosehilfe von monatlich 97,30 DM. Auf Ersuchen des klagenden Landes - Landessozialhilfeamtes - meldete es mit Schreiben vom 23. September 1965 auch insoweit Anspruch auf Ersatz bei der AOK an. Ab 1. Dezember 1965 wurde die Tuberkulosehilfe auf monatlich 106,30 DM, ab 9. Februar 1966 auf monatlich 136,30 DM und ab 1. April 1967 auf monatlich 161,60 DM festgesetzt.

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) die AOK verurteilt, die dem W. seit 17. November 1964 gewährte Krankenpflege in Höhe von 3/8 des Grundlohnes, nach dem sich das Krankengeld berechne, zu erstatten sowie die Kosten der seit 1. August 1965 geleisteten Tuberkulosehilfe in Höhe des W. für die gleiche Zeit zustehenden Krankengeldes zu ersetzen.

Auf die Berufung der AOK hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG abgeändert und die AOK verurteilt, die vom 17. November 1964 bis 12. Februar 1967 gewährte Krankenpflege in der vorgesehenen Höhe, die Kosten der vom 1. August 1965 bis 14. August 1966 geleisteten Tuberkulosehilfe in Höhe des W. für den gleichen Zeitraum zustehenden Krankengeldes zu ersetzen. Die weitergehende Berufung hat es zurückgewiesen: Nach den §§ 59 und 140 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), § 1531 i.V.m. § 1541 RVO könne das klagende Land als überörtlicher Träger der Sozialhilfe (Tuberkulosehilfe), der nach gesetzlicher Pflicht einen Hilfsbedürftigen für eine Zeit unterstütze, für die dieser einen Anspruch nach der RVO habe, bis zur Höhe dieses Anspruchs Ersatz verlangen. W. sei im Sinne dieser Regelung "hilfsbedürftig" gewesen; denn die AOK habe durch ihr dem Sozialamt bekannt gewordenes Verhalten zu erkennen gegeben, daß W. ihrer Auffassung nach keinen Anspruch auf Kassenleistungen habe. W. habe während der Zeit seiner Unterstützung auch einen Anspruch auf Krankenhilfe nach § 182 RVO gehabt. Daß er die stationäre Behandlung in der Heilstätte S. gegen ärztlichen Rat abgebrochen habe, könne - nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - nur eine Versagung der Krankenhilfe auf Zeit rechtfertigen. Die nach § 311 RVO i.V.m. dem Erlaß des Reichsarbeitsministers betreffend Verbesserungen in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 2. November 1943 - Verbesserungserlaß - (AN 1943, 485) aufrechterhalten gebliebene Kassenmitgliedschaft sei erst mit Ablauf der gesetzlichen Leistungsdauer erloschen, die im vorliegenden Falle wie folgt zu berechnen sei: Werde vom Tage der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit - dem 5. November 1962 - drei Jahre zurückgegangen, ergebe sich der 6. November 1959; werde von diesem Zeitpunkt bis zum Beginn der nächsten Arbeitsunfähigkeit wegen Lungentuberkulose vorgegangen, ergebe sich der 15. Februar 1962. Mit dem Eintritt dieser Arbeitsunfähigkeit habe die erste Dreijahresfrist begonnen, innerhalb der W. für längstens 78 Wochen Krankengeld habe beanspruchen können (§ 183 Abs. 2 Satz 1 RVO). Da am Ende dieser Dreijahresfrist die Höchstdauer von 78 Wochen nicht erreicht, W. jedoch weiterhin ununterbrochen arbeitsunfähig gewesen sei, könne zwischenzeitlich weder eine Unterbrechung noch eine Erschöpfung des Krankengeldanspruchs eingetreten sein. Vielmehr habe W. ab 15. Februar 1965 - dem Tag des Beginns der zweiten Dreijahresfrist - für weitere 78 Wochen bis zum 14. August 1966 Anspruch auf Krankengeld gehabt. Der Anspruch auf Krankenpflege habe nach § 183 Abs. 1 Satz 2 RVO 26 Wochen später - am 12. Februar 1967 - geendet.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision trägt die AOK vor: Wenn ein Versicherter, der in den Fällen des § 184 Abs. 3 RVO eine notwendige Krankenhausbehandlung ablehne oder das Krankenhaus ohne rechtfertigenden Grund verlasse, seinen Anspruch auf Krankenhilfe verliere, müsse das auch im Falle der Verweigerung oder des Abbruchs einer vom Träger der Rentenversicherung gemäß § 1244 a i.V.m. §§ 1236 ff RVO zu gewährenden Heilbehandlung gelten. Eine Verpflichtung zum Ersatz der Krankenpflege bestehe ab 12. Dezember 1965 auch deshalb nicht, weil die gesetzliche Leistungsdauer und damit die Kassenmitgliedschaft des W. gemäß § 311 RVO i.V.m. dem Verbesserungserlaß vom 2. November 1943 bereits am 12. Juni 1965 geendet habe. Die Dreijahresfrist des § 183 Abs. 2 Satz 1 RVO sei nach der Methode der gleitenden Rahmenfrist zu berechnen. Danach beginne mit jeder neuen Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit ein neuer Dreijahreszeitraum. In dem ersten - vom 15. Februar 1962 bis 14. Februar 1965 - habe W. mit 504 Tagen (262 Leistungstagen und 242 Tagen, für die Krankengeld versagt worden ist) die Höchstbezugsdauer von 78 Wochen nicht erreicht. Innerhalb des zweiten - vom 17. August 1962 bis 16. August 1965 - habe er jedoch den Anspruch auf Krankengeld mit 546 Tagen (428 Leistungstragen und 118 Tagen, für die Krankengeld versagt worden ist) am 12. Juni 1965 erschöpft. Ein erneuter Anspruch ab 17. August 1965 - nach Ablauf der zweiten Dreijahresfrist - habe mangels einer mit Anspruch auf Krankengeld ausgestatteten Mitgliedschaft nicht bestehen können.

Die Beklagte beantragt,

die Urteil des LSG Niedersachsen vom 27. Mai 1968 und des SG Braunschweig vom 5. Januar 1967 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Das klagende Land hat sich der Revision der Beklagten angeschlossen und beantragt,

das Urteil des LSG Niedersachsen vom 27. Mai 1968 dahin zu ändern, daß die Beklagte verurteilt werde, die W. vom 17. November 1964 bis 22. Januar 1968 gewährte Krankenpflege in der vorgesehenen Höhe zu ersetzen und die Revision zurückzuweisen.

Es ist der Ansicht, die Kassenmitgliedschaft nach § 311 RVO werde durch das Ende des Leistungsbezuges gemäß § 183 Abs. 2 Satz 1 RVO nicht berührt. Die gegenteilige Auffassung sei mit Sinn und Zweck des § 183 Abs. 2 RVO, bei Dauerkranken die Aussteuerung möglichst abzuschaffen, nicht vereinbar. Sie führe nämlich dazu, daß versicherungspflichtige Kassenmitglieder bei langdauernder Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit eben doch nach 78 Wochen ausgesteuert würden. Die Möglichkeit, einem Tuberkulosekranken das Krankengeld wegen ordnungswidrigen Verhaltens zu versagen, richte sich nicht nach § 184 RVO, sondern nach § 136 Abs. 2 BSHG, dessen Voraussetzungen nicht vorlägen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden.

II

Die Revision der beklagten AOK ist begründet, die Anschlußrevision des klagenden Landes unbegründet.

W. hat während der Zeit seiner Unterstützung durch das Sozialamt keinen Anspruch gegen die AOK gehabt, auf den das Land als überörtlicher Träger der Sozialhilfe (Tuberkulosehilfe) nach § 59 Abs. 2 Satz 2 BSHG aF i.V.m. §§ 1531, 1541 RVO Zugriff nehmen könnte.

Nach § 184 Abs. 1 Satz 1 RVO kann die Krankenkasse "an Stelle der Krankenpflege und des Krankengeldes ... Kur und Verpflegung in einem Krankenhaus (Krankenhauspflege) gewähren". Wie der Senat in seinem Urteil vom 21. Februar 1969 (BSG 29, 149) ausgesprochen hat, entfällt mit der wirksamen Ausübung dieser Ersetzungsbefugnis die Verpflichtung der Kasse zur Gewährung von ambulanter Krankenpflege und Krankengeld. Ein Versicherter, der eine ihm angebotene Krankenhauspflege ohne rechtfertigenden Grund ablehnt, hat also für die Dauer seines ablehnenden Verhaltens keinen Anspruch auf Kassenleistungen (vgl. RVA GE Nr. 2283, AN 1916, 793, 795).

Nichts anderes kann in dem Fall gelten, daß die stationäre Heilbehandlung nicht von einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern im Rahmen der Tuberkulosehilfe (§ 1244 a RVO) von dem zuständigen Träger der Rentenversicherung bereitgestellt wird. Ist nämlich ein an aktiver behandlungsbedürftiger Tuberkulose Erkrankter - wie seinerzeit W. - sowohl kranken - als auch rentenversichert und ist seine stationäre Heilbehandlung notwendig, so hat er nach § 1244 a Abs. 1 und 3 i.V.m. § 1237 Abs. 1 und 2 RVO einen vorrangigen Anspruch gegen den Träger der Rentenversicherung auf Gewährung dieser Heilbehandlung, während für die ambulante Behandlung der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung zuständig bleibt (vgl. BSG in SozR Nr. 11 zu § 1244 a RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 15. August 1969, Bd. III S. 666 d V; Kommentar zur RVO, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Stand Oktober 1968, Bd. I Anm. 12 a.E. und 13 zu § 1244 a; Schewe, BABl 1959, 481, 484 f und WzS 1959, 257, 258 f; Albrecht, ArbVers 1964, 173, 175; Töns, DOK 1965, 296, 302; vgl. auch §§ 1 bis 4 der Vereinbarung zwischen den Trägern der Renten- und Krankenversicherung über die Durchführung von Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit - Gesundheitsmaßnahmen - vom 15. September 1958, DOK 1958, 563 = DAngVers 1959, 194).

Diese Zuständigkeitsverteilung ergibt sich aus den strukturellen Unterschieden der beiden Versicherungszweige. Zu den Aufgaben der Krankenversicherung gehört überwiegend die Leistungsgewährung bei mehr kurzfristigen, akuten Erkrankungen; die Rentenversicherung tritt dagegen im allgemeinen ein, wenn es sich um längerdauernde Krankheiten oder Gebrechen handelt, die eine speziellere oder umfassendere Heilbehandlung erfordern (vgl. Brackmann, aaO S. 666 d I; Albrecht, aaO S. 173 f). Gerade auf dem Gebiet der Tuberkulosebekämpfung verfügen die Träger der Rentenversicherung über langjährige Erfahrungen und besonders geeignete Einrichtungen. Den Trägern der Rentenversicherung obliegt auch insofern die umfassendere Leistungsverpflichtung, als sie stationäre Heilbehandlung für die gesamte Dauer ihrer Notwendigkeit zu gewähren haben, im Gegensatz zu der auf 78 Wochen innerhalb von je drei Jahren begrenzten Krankenhauspflege des § 184 RVO (vgl. Abschn. I Nr. 2 Buchst. b des Verbesserungserlasses vom 2. November 1943 i.V.m. § 183 Abs. 2 Satz 1 RVO).

Diese Verteilung der Aufgaben auf verschiedene Versicherungsträger ändert aber nichts daran, daß die gesamten zur Heilbehandlung eines tuberkulosekranken Versicherten erforderlichen Leistungen aufeinander abgestimmt sind und jedenfalls nicht als beziehungslos nebeneinanderstehende Verpflichtungen einzelner Versicherungsträger aufgefaßt werden dürfen. Dementsprechend ist im Verhältnis zum Versicherten die vom Träger der Rentenversicherung bereitgestellte stationäre Heilbehandlung nicht anders als eine vom Träger der gesetzlichen Krankenversicherung angebotene zu bewerten mit der Folge, daß auch sie weitere Ansprüche des Versicherten auf Krankenhilfe ausschließt.

Demgemäß entfiel für die Dauer der Notwendigkeit stationärer Heilbehandlung bis zum Tode des W. die Verpflichtung der AOK, W. Krankenpflege und Krankengeld zu gewähren. W. hatte demnach während der Zeit seiner Unterstützung durch das Sozialamt keinen Anspruch auf Krankenpflege und Krankengeld gegen die AOK. Der auf § 59 Abs. 2 Satz 2 BSHG aF i.V.m. §§ 1531, 1541 RVO gestützte Ersatzanspruch des klagenden Landes erweist sich mithin als unbegründet. Dementsprechend kann auch die Anschlußrevision des Landes keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1668972

BSGE, 122

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