Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufhebung eines Verwaltungsakts. wesentliche Änderung der Verhältnisse. Ermessen. Pflicht zur Ausübung des Ermessens. von Anfang an rechtswidriger Verwaltungsakt. Umdeutung eines Verwaltungsakts. gesetzlich gebundene Entscheidung. Ermessensentscheidung
Orientierungssatz
1. Die Aufhebung eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung nach § 48 Abs 1 SGB 10 setzt grundsätzlich den Eintritt einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse nach Erlaß des aufgehobenen Verwaltungsakts voraus. Hiervon macht Abs 1 S 2 Nr 4 dieser Vorschrift keine Ausnahme, wonach der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden soll, soweit der Betroffene wußte oder nicht wußte, weil die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt wurde, daß der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist. Diese Bestimmung regelt lediglich Rechtsfolgen, die unter den dort genannten Voraussetzungen eintreten sollen, sofern eine Änderung iS von Satz 1 des § 48 SGB 10 vorliegt. Sie ist einer der Unterfälle der Aufhebung des Verwaltungsakts für die Vergangenheit, dh für einen Zeitraum vor dem Erlaß des aufhebenden Bescheides. Während Satz 1 die allgemeine Rechtsfolge aufstellt, die im Falle einer wesentlichen Änderung nach Erlaß des bewilligenden Bescheides eintritt, nämlich die Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft, regelt Satz 2 die Ausnahmen von diesem Grundsatz. Beide Regelungen haben jedoch die gemeinsame Voraussetzung, daß sich die Verhältnisse nach Erlaß des aufzuhebenden Verwaltungsakts geändert haben müssen (vgl BSG 12.4.1984 7 RAr 34/83).
2. Bei der Anwendung von § 48 Abs 1 SGB 10 hat die Verwaltung im allgemeinen kein Ermessen auszuüben.
3. Die Rücknahme eines Verwaltungsakts nach § 45 Abs 1 SGB 10 steht im Ermessen der zuständigen Behörde und setzt mithin für ihre Wirksamkeit die Ausübung eines solchen Ermessens voraus.
4. Eine Entscheidung, die die Ausübung des Ermessens voraussetzt, kann überhaupt nur dann rechtmäßig sein, wenn von dem rechtlich zustehenden Ermessen Gebrauch gemacht worden ist. Fehlt es daran, ist der Verwaltungsakt schon aus diesem Grunde rechtswidrig.
5. Zur Umdeutung eines Aufhebungsbescheides nach § 48 Abs 1 SGB 10 in einen Rücknahmebescheid nach § 45 SGB 10.
Normenkette
SGB 1 § 39; SGB 10 § § 39, 43 Abs 3, § 45 Abs 1, § 48 Abs 1 S 1, § 48 Abs 1 S 2 Nr 4
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 30.08.1984; Aktenzeichen L 9 Ar 211/83) |
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 18.08.1983; Aktenzeichen S 22 Ar 42/83) |
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen den Entzug des ihr gewährten Arbeitslosengeldes (Alg) und einen Erstattungsanspruch der Beklagten.
Die Klägerin war vollschichtig von 1966 bis Juni 1982 als Chemielaborantin beschäftigt. Am 19. Oktober 1982 meldete sie sich arbeitslos und beantragte Alg. Sie erklärte, daß sie sich wegen der Versorgung ihres Zweipersonenhaushalts für eine Teilzeittätigkeit von 30 Wochenstunden der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stelle. Sie wurde am 22. Oktober 1982 dahin belehrt, daß ihr Alg wegen dieser Einschränkung der Verfügbarkeit nicht zustehe.
Die Beklagte bewilligte ihr mit Bescheid vom 2. November 1982 ab 19. Oktober 1982 Alg, das sie bis zum 1. November 1982 zahlte. Mit Bescheid vom 3. Dezember 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Februar 1983 hob sie die Bewilligung des Alg mit Wirkung vom 22. Oktober 1982 auf und forderte von der Klägerin das von diesem Zeitpunkt an gezahlte Alg in Höhe von insgesamt 500,40 DM zurück. Zur Begründung gab sie an, die Gewährung des Alg scheitere ab 22. Oktober 1982 an der fehlenden Verfügbarkeit der Klägerin gemäß § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 2 Buchst a Arbeitsförderungsgesetz (AFG). Die Versorgung eines Zweipersonenhaushalts, die von beiden Personen arbeitsteilig erfolgen könne, sei kein objektiver Grund für die Einschränkung der Arbeitsbereitschaft auf eine Teilzeitbeschäftigung. Die Entscheidung über die Bewilligung des Alg sei ab 22. Oktober 1982, dem Tage der Belehrung über die Rechtsfolgen hinsichtlich der Einschränkung der Arbeitsbereitschaft, gemäß § 48 Abs 1 Satz 1 iVm Satz 2 Nr 3 (Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - SGB 10 -) aufzuheben. Die Pflicht zur Erstattung des ab 22. Oktober 1982 gezahlten Alg folge aus § 50 Abs 1 SGB 10.
Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 18. August 1983 die Klage abgewiesen. Es hat sich auf den Standpunkt gestellt, Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Bewilligung sei nicht § 48 SGB 10, sondern § 45 Abs 1 und 2 SGB 10. Der Bewilligungsbescheid sei von Anfang an wegen der fehlenden Verfügbarkeit rechtswidrig gewesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 30. August 1984) und zur Begründung ausgeführt, bei im übrigen unstreitigen Voraussetzungen für einen Leistungsbezug hänge der Anspruch der Klägerin davon ab, ob sie der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehe, obwohl sie ihre Arbeitsbereitschaft auf eine Teilzeitbeschäftigung von sechs Stunden täglich bzw 30 Stunden wöchentlich eingeschränkt habe. Dies sei nicht der Fall. Nach § 7 der Zumutbarkeitsanordnung (ZuAO), die von der Ermächtigung des § 103 Abs 2 AFG gedeckt sei, dürfe sich der Arbeitslose auf das Angebot von Teilzeitarbeit nur dann beschränken, wenn er wenigstens ein aufsichtsbedürftiges Kind unter 16 Jahren oder eine pflegebedürftige Person zu betreuen habe. Das treffe hier nicht zu. Da das Urteil des SG im übrigen auch bei der Klägerin auf keine weiteren Bedenken stoße, brauche auf die sonstigen Voraussetzungen für den sich als fehlerfrei darstellenden angefochtenen Verwaltungsakt nicht eingegangen zu werden.
Mit der Revision macht die Klägerin eine Verletzung des § 103 AFG geltend. Sie ist der Auffassung, daß § 7 der ZuAO mangels einer gesetzlichen Ermächtigung nicht angewendet werden dürfe. Die Bestimmungen des § 103 AFG stünden ihrer Verfügbarkeit nicht entgegen.
Die Klägerin beantragt, die Urteile der Vorinstanzen und die angefochtenen Bescheide aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen sind die angefochtenen Bescheide rechtswidrig. Darüber hinaus trifft die Meinung des LSG, es brauche auf die übrigen Voraussetzungen für den "sich als fehlerfrei darstellenden" angefochtenen Verwaltungsakt nicht eingegangen zu werden, weil das Urteil des SG im übrigen auch bei der Klägerin auf keine weiteren Bedenken stoße, nicht zu. Das Gericht ist von Amts wegen verpflichtet, die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts unter allen rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen. Das folgt aus den im Verfahren vor den Sozialgerichten geltenden Grundsätzen des Amtsbetriebs und der Amtsermittlung. Das LSG hat übersehen, daß selbst dann, wenn die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Alg ab 22. Oktober 1982 nicht vorlagen, die Beklagte nicht befugt war, mit den angefochtenen Bescheiden die Bewilligung des Alg aufzuheben. Damit entfällt auch der von der Beklagten geltend gemachte Erstattungsanspruch (§ 50 Abs 1 SGB 10).
Auf § 48 Abs 1 SGB 10 kann die Beklagte die Aufhebung der Bescheide nicht stützen, wie das SG zutreffend erkannt und die Beklagte im erstinstanzlichen Verfahren auch eingeräumt hat. Die Aufhebung eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung nach dieser Vorschrift setzt grundsätzlich den Eintritt einer wesentlichen Änderung nach Erlaß des aufgehobenen Verwaltungsakts voraus. Hiervon macht Abs 1 Satz 2 Nr 4 dieser Vorschrift keine Ausnahme, wonach der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden soll, soweit der Betroffene wußte oder nicht wußte, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, daß der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen oder ganz oder teilweise weggefallen ist. Diese Bestimmung regelt lediglich Rechtsfolgen, die unter den dort genannten Voraussetzungen eintreten sollen, sofern eine Änderung iS von Satz 1 des § 48 SGB 10 vorliegt. Sie ist einer der Unterfälle der Aufhebung des Verwaltungsakts für die Vergangenheit, dh für einen Zeitraum vor dem Erlaß des aufhebenden Bescheides. Während Satz 1 die allgemeine Rechtsfolge aufstellt, die im Falle einer wesentlichen Änderung nach Erlaß des bewilligenden Bescheides eintritt, nämlich die Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft, regelt Satz 2 die Ausnahmen von diesem Grundsatz. Beide Regelungen haben jedoch die gemeinsame Voraussetzung, daß sich die Verhältnisse nach Erlaß des aufzuhebenden Verwaltungsaktes geändert haben müssen (Urteil des Senats vom 12. April 1984 - 7 RAr 34/83 -, nicht veröffentlicht; BSGE 57, 274, 276 = SozR 1300 § 48 Nr 11). Das ist hier nicht der Fall.
Die Beklagte sieht in den angefochtenen Bescheiden eine Änderung der Verhältnisse darin, daß die Klägerin über die Rechtsfolgen der Einschränkung ihrer Verfügbarkeit belehrt worden ist. Eine solche Belehrung gehört jedoch nicht zu den Voraussetzungen für die Gewährung von Alg, so daß weder aus tatsächlichen noch aus rechtlichen Gründen eine Änderung eintreten kann. Abgesehen davon kann die Belehrung über die Rechtsfolgen auch deshalb nicht zur Aufhebung des Bewilligungsbescheides führen, weil sie bereits vor dessen Erlaß erfolgt ist und § 48 Abs 1 Satz 1 SGB 10 eine Änderung danach voraussetzt. Hiernach scheidet eine Aufhebung des Bewilligungsbescheides nach § 48 SGB 10 aus.
Der angefochtene Bescheid kann entgegen der Auffassung des SG auch nicht in einen Rücknahmebescheid gemäß § 45 SGB 10 umgedeutet werden. Nach dieser Vorschrift darf auch ein von Anfang an rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt - in der Regel innerhalb von zwei Jahren - ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden, sofern dem nicht schutzwürdige Interessen des Betroffenen entgegenstehen. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, kann dahingestellt bleiben. Die Rücknahme eines Verwaltungsakts nach § 45 Abs 1 SGB 10 steht im Ermessen der zuständigen Behörde und setzt mithin für ihre Wirksamkeit die Ausübung eines solchen Ermessens voraus. Hieran fehlt es.
Die Beklagte hat ihre Aufhebungsentscheidung auf § 48 Abs 1 SGB 10 gestützt. Bei der Anwendung dieser Vorschrift hat die Verwaltung im allgemeinen kein Ermessen auszuüben. Das ergibt sich hinsichtlich der Aufhebung für die Zukunft aus dem Gesetzesbefehl in § 48 Abs 1 Satz 1 SGB 10 ("ist...aufzuheben"). Hinsichtlich der Aufhebung für die Vergangenheit gilt es für den Regelfall, was durch das Wort "soll" in § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 zum Ausdruck kommt. Hierdurch wird die Verwaltung lediglich verpflichtet, in besonderen Ausnahmefällen von der rückwirkenden Aufhebung des Verwaltungsaktes abzusehen. Liegt ein solcher Ausnahmefall vor, was eine Tatbestandsvoraussetzung ist, hat sie von ihrem Ermessen einen pflichtgemäßen Gebrauch zu machen (BSG SozR 5870 § 2 Nr 30 und 1300 § 48 Nr 19). Nach dem Inhalt des angefochtenen Verwaltungsakts ist die Beklagte davon ausgegangen, daß dies nicht der Fall ist, dh, sie hat eine Entscheidung treffen wollen, die auch für die Vergangenheit nur als gesetzlich gebundene Entscheidung ergehen konnte. In diesen Fällen verbietet bereits die Regelung des § 43 Abs 3 SGB 10 die Umdeutung in eine Ermessensentscheidung, wie der Senat bereits in seinem oa Urteil entschieden hat. Dies ist eine Folge der Verletzung der der Behörde nach § 39 Abs 1 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB 1) auferlegten Pflicht, ihr Ermessen auch tatsächlich auszuüben, wenn sie ein solches besitzt. Eine Entscheidung, die die Ausübung des Ermessens voraussetzt, kann überhaupt nur dann rechtmäßig sein, wenn von dem rechtlich zustehenden Ermessen Gebrauch gemacht worden ist. Fehlt es daran, wie hier, ist der Verwaltungsakt schon aus diesem Grunde rechtswidrig (Schroeder-Printzen ua, SGB 10 Anm 6 zu § 43 mwN). Ob etwas anderes gilt, wenn unter allen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten in dem streitigen Rechtsverhältnis nur noch eine einzige richtige Entscheidung möglich ist und sich deswegen das Ermessen der Behörde im Ergebnis auf Null reduziert (vgl BVerwG in Buchholz 437.3 § 335a LAG Nr 63 und 66; Stelkens/Bonk/Leonhardt, Komm zum VwVfG, 2. Aufl § 40 RdNr 20, § 47 RdNr 2, § 48 RdNr 11), kann hier dahingestellt bleiben. Angesichts der Tatsache, daß die Beklagte die Bewilligung des Alg rückwirkend aufgehoben hat, kann nicht ausgeschlossen werden, daß pflichtgemäße Ermessensausübung zumindest hinsichtlich der Bestimmung des Aufhebungszeitpunktes zu einem anderen Ergebnis geführt hätte, als er in dem angefochtenen Verwaltungsakt festgelegt worden ist. Für eine Betätigung von Ermessen bestand mithin Veranlassung. Da dies nicht geschehen ist, kann der angefochtene Verwaltungsakt auch nicht gemäß § 45 SGB 10 als rechtmäßig angesehen werden. Er muß bereits aus diesen Gründen aufgehoben werden. Auf die Frage, ob der Bewilligungsbescheid wegen der Einschränkung der Arbeitsbereitschaft der Klägerin rechtswidrig war, kommt es unter diesen Umständen nicht an.
Die Revision der Klägerin muß nach allem Erfolg haben. Die Urteile der Vorinstanzen und die Bescheide der Beklagten sind aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen