Entscheidungsstichwort (Thema)
Verjährung von Rentenansprüchen. Verjährungseinrede als Ermessensentscheidung
Orientierungssatz
1. Die Fälligkeit von Rentenleistungen iS des § 29 Abs 3 RVO tritt in der Regel mit der Entstehung des Rentenanspruchs ein, so daß auch die vierjährige Verjährungsfrist nach dieser Vorschrift mit der Entstehung des Anspruchs beginnt (vgl BSG 1971-12-21 GS 4/71 = BSGE 34, 1).
2. Ist der Versicherungsträger nicht aus vorangegangenem eigenen Tun an der Erhebung der Verjährungseinrede verhindert, so kann diese Ermessensentscheidung im Rechtswege nur darauf geprüft werden, ob die Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist.
Normenkette
RVO § 29 Abs. 3 Fassung: 1924-12-15
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 10.12.1970) |
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 12.02.1970) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Dezember 1970 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Streitig ist, ob die Beklagte die von der Klägerin beanspruchte Witwenrente für die Zeit vom Januar 1957 bis Juni 1964 zu zahlen hat oder ob sie die Leistung insoweit mit Recht wegen Verjährung (§ 29 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) verweigert.
Die im Jahre 1924 aus Deutschland ausgewanderte Klägerin ist die Witwe des 1956 in Argentinien verstorbenen Versicherten Johann K. Dem von ihr erst im Juli 1968 gestellten Witwenrentenantrag gab die Beklagte vom 1. Juli 1964 an statt. Für die vorausgegangene Zeit lehnte sie die Leistung ab, weil insoweit die Rentenansprüche verwirkt seien (Bescheid vom 21. Januar 1969).
Die Klage hatte keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - Düsseldorf vom 12. Februar 1970, in welchem die Berufung zugelassen wurde). Während des Berufungsverfahrens lehnte die Beklagte noch den Widerspruch der Klägerin gegen den Rentenbescheid mit der Begründung ab, die im Klageverfahren zu Recht erhobene Einrede der Verjährung bezüglich der vor dem 1. Juli 1964 entstandenen Rentenansprüche habe ihrem pflichtgemäßen Ermessen entsprochen (Bescheid vom 16. Juni 1970). Das Landessozialgericht (LSG) verpflichtete die Beklagte zur Zahlung der Witwenrente auch für die Zeit vom 1. Januar 1957 bis 30. Juni 1964, weil nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) der Anspruch auf die Rentenleistungen im streitigen Zeitraum weder verwirkt noch verjährt sei (Urteil vom 10. Dezember 1970).
Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte nur noch eine Verletzung des § 29 Abs. 3 RVO. Entgegen der Auffassung des LSG sei die Einrede der Verjährung der vor dem 1. Juli 1964 liegenden Rentenansprüche zu Recht erfolgt, weil ein Leistungsanspruch aus der Rentenversicherung nicht erst mit der Antragstellung, sondern bereits mit der Entstehung des Anspruchs "fällig" werde. Da die Beklagte die Verjährungseinrede bei Rentenantragstellern im Ausland bisher regelmäßig erst erhoben habe, wenn seit Anspruchsentstehung bereits 10 Jahre verstrichen waren, könne auch nicht angenommen werden, daß die Beklagte bei Ausübung ihres Ermessens nicht ausreichend die besonderen Schwierigkeiten der Rentenbewerber im Ausland berücksichtigt habe.
Die Beklagte beantragt sinngemäß, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie macht sich die Rechtsauffassung des LSG zu eigen. Unabhängig davon mißbrauche die Beklagte auch ihr Ermessen, wenn sie gegenüber materiell zweifelsfrei gegebenen Rentenansprüchen die Verjährungseinrede erhebe.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden erklärt.
II
Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden muß. Es kann noch nicht abschließend entschieden werden, ob der Klägerin - wie das LSG angenommen hat die Witwenrente auch für die Zeit vom 1. Januar 1957 bis 30. Juni 1964 zusteht.
Das LSG ist zu Unrecht davon ausgegangen, daß die Rentenansprüche im streitigen Zeitraum - im Hinblick auf den erst im Juli 1968 gestellten Rentenantrag - nicht verjährt sein können. Der Große Senat des BSG hat durch Beschluß vom 21. Dezember 1971 (GS 4/71) entschieden, daß die Verjährungsfrist des § 29 Abs. 3 RVO in der Regel mit der Entstehung des Anspruchs beginnt und vier Jahre danach endet. Da die Verjährung durch die Rentenantragstellung im Juli 1968 unterbrochen worden ist, sind die Einzelansprüche auf Rente, soweit sie vor dem 1. Juli 1964 entstanden sind, verjährt. Diesem Ergebnis steht auch nicht - wie die Klägerin offenbar meint - die die materielle Ausschlußfrist des § 58 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG)aF betreffende Entscheidung in BSG 14, 246 entgegen (so ausdrücklich GS-Beschluß, aaO, S. 41).
Die Erhebung der Verjährungseinrede steht im pflichtgemäßen Ermessen des Versicherungsträgers (vgl. BSG in SozR Nr. 16 zu § 79 SGG). Allerdings sind Fälle denkbar, in denen für die Ausübung des Ermessens kein Raum ist (vgl. hierzu Urteil des 5. Senats vom 23.3.1972 - Az.: 5 RJ 63/70). Gegenüber der Einrede der Verjährung käme eine unzulässige Rechtsausübung aber nur dann in Betracht, wenn die Beklagte eine Tätigkeit entfaltet oder Maßnahmen getroffen hätte, welche die Klägerin veranlaßt hätten, verjährungsunterbrechende Schritte zu unterlassen (vgl. BVerwG-Urteil vom 26.1.1971 in Samml. BVerwG Nr. 4 zu 232 § 155 BBG). An einem derartigen eigenen Tun der Beklagten fehlt es indes gerade.
War somit die Beklagte nicht gehindert, ihr Ermessen bei der Erhebung der Verjährungseinrede auszuüben, so kann diese Ermessensentscheidung im Rechtswege nur darauf geprüft werden, ob die Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Das LSG hat im Hinblick auf seine abweichende Rechtsauffassung nicht geprüft, ob die Beklagte bei der Erhebung der Verjährungseinrede die Grenzen des ihr zustehenden Ermessens überschritten hat. In Ermangelung entsprechender Feststellungen kann das Revisionsgericht nicht selbst entscheiden. Das LSG wird eine Prüfung der Ermessensentscheidung der Beklagten nachzuholen und dabei die im Beschluß des Großen Senats aaO ausgesprochenen Grundsätze zu beachten haben. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen