Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtmäßigkeit der Verjährungseinrede

 

Leitsatz (redaktionell)

Unkenntnis des Versicherten über die Rechtslage steht der Einrede der Verjährung nicht entgegen. Das gilt auch bei Auslandsaufenthalt (hier: Argentinien).

Der Einwand der Klägerin, sie sei auf die Auskünfte der im Sozialversicherungsrecht nicht hinreichend unterrichteten Botschafts- und Konsularbeamten angewiesen gewesen, kann daher einen Ermessensfehlgebrauch der Beklagten nicht begründen. Jedenfalls würde es nach der Entscheidung des GrS dem gesetzgeberischen Zweck der Verjährung widersprechen, wenn man alle die Nachteile, die durch ein jahrelanges Untätigsein den Versicherten entstehen, einseitig dem Versicherungsträger auch dann aufbürden wollte, wenn dieser die Untätigkeit nicht zu vertreten hat.

 

Normenkette

RVO § 29 Abs. 3 Fassung: 1924-12-15

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. November 1969 aufgehoben.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 27. September 1968 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte der Klägerin die Witwenrente nach § 1268 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) auch für die Zeit von Januar 1957 bis August 1963 zu zahlen hat oder ob sie die Leistung insoweit mit Recht wegen Verjährung (§ 29 Abs. 3 RVO) verweigert.

Die 1899 geborene Klägerin war im Jahre 1948 nach Argentinien ausgewandert. Im September 1967 beantragte sie Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres 1954 verstorbenen Ehemannes. Die Beklagte gewährte die Rente vom 1. September 1967 an; für die Zeit davor lehnte sie den Anspruch wegen Verwirkung ab (Bescheid vom 3. April 1968).

Das Sozialgericht (SG) verpflichtete die Beklagte, die Witwenrente auch für die Zeit vom September 1963 bis August 1967 zu zahlen; die Klage auf Zahlung der Rente bereits ab Januar 1957 wurde abgewiesen. Das SG ließ die Berufung zu (Urteil vom 27. September 1968).

Während des Berufungsverfahrens erklärte sich die Beklagte bereit, die Rente vom September 1963 an nachzuzahlen. Hinsichtlich des davor liegenden streitbefangenen Zeitraums erhob sie zusätzlich die Einrede der Verjährung; die Widerspruchsstelle der Beklagten erließ einen für die Klägerin negativen Widerspruchsbescheid.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin einen neuen Bescheid über den Anspruch auf Gewährung von Witwenrente für die Zeit vom 1. Januar 1957 bis 31. August 1963 zu erteilen: Der Lauf der Verjährungsfrist des § 29 Abs. 3 RVO habe nicht erst mit der Antragstellung, sondern bereits mit der Entstehung des Rentenanspruchs begonnen. Die Erhebung der Verjährungseinrede stehe zwar im pflichtgemäßen Ermessen der Beklagten. Die vorgebrachten Gründe rechtfertigten jedoch die Einrede nicht. Da andererseits nicht feststehe, ob die Beklagte sämtliche, für eine solche Ermessensentscheidung zu berücksichtigende Gesichtspunkte beachtet und zutreffend gewertet habe, sei die Sache noch nicht zur Entscheidung über das Leistungsbegehren reif. Die Beklagte habe daher verpflichtet werden müssen, der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid zu erteilen (Urteil vom 5. November 1969).

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt, das LSG habe den Ermessensspielraum des Versicherungsträgers unzulässig eingeengt und überdies das Wesen des verwaltungsmäßigen Ermessens bei der Geltendmachung der Verjährung verkannt, zumal § 29 Abs. 3 RVO keine gesetzlichen Gesichtspunkte für die Ermessensausübung normiere.

Die Beklagte beantragt sinngemäß, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen, soweit die Klägerin die Zahlung der Rente für die Zeit vor dem 1. September 1963 begehrt.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Meinung, daß entgegen den Ausführungen des LSG und "entsprechend der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts" Ansprüche auf Rentenleistungen erst dann fällig und damit auch verjährbar seien, wenn der Berechtigte den zur Einleitung des Rentenverfahrens erforderlichen Rentenantrag gestellt habe. Selbst wenn man aber den Ausführungen des von der Beklagten angefochtenen Urteils zur Fälligkeit eines Rentenanspruchs folgen würde, erscheine die Revision unbegründet. Insofern sei der Auffassung des LSG beizupflichten, die Beklagte habe bei der Erhebung der Verjährungseinrede die für die Ausübung ihres Ermessens in Betracht kommenden Gründe nicht umfassend gegeneinander abgewogen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden.

II

Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist begründet.

Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Witwenrentenansprüche der Klägerin für die Zeit vor dem 1. September 1963 verjährt sind. Der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat durch Beschluß vom 21. Dezember 1971 (GS 4/71) entschieden, daß die Verjährungsfrist des § 29 Abs. 3 RVO bei Rentenansprüchen aus der gesetzlichen Rentenversicherung in der Regel mit der Entstehung des Anspruchs beginnt und vier Jahre danach endet. Im Hinblick auf die die Verjährung unterbrechende Rentenantragstellung im September 1967 sind somit die Einzelansprüche auf Rente, soweit sie vor dem 1. September 1963 entstanden sind, verjährt. Diesem Ergebnis steht auch nicht - wie die Klägerin offenbar meint - die die materielle Ausschlußfrist des § 58 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) aF betreffende Entscheidung in BSG 14, 246 entgegen (so ausdrücklich GS-Beschluß aaO S. 41).

Die Erhebung der Verjährungseinrede steht im pflichtgemäßen Ermessen des Versicherungsträgers (vgl. BSG in SozR Nr. 16 zu § 79 SGG). Allerdings sind Fälle denkbar, in denen für die Ausübung des Ermessens kein Raum ist (vgl. hierzu Urteil des 5. Senats vom 23.3.1972 - Az.: 5 RJ 63/70). Die Einrede der Verjährung wäre eine unzulässige Rechtsausübung aber nur dann, wenn die Beklagte eine Tätigkeit entfaltet oder Maßnahmen getroffen hätte, welche die Klägerin veranlaßt hätten, verjährungsunterbrechende Schritte zu unterlassen (vgl. BVerwG-Urteil vom 26.1.1971 in Samml. BVerwG Nr. 4 zu 232 § 155 BBG). An einem derartigen eigenen Tun der Beklagten fehlt es indes gerade.

War somit die Beklagte nicht gehindert, ihr Ermessen bei der Erhebung der Verjährungseinrede auszuüben, so kann diese Ermessensentscheidung im Rechtswege nur daraufhin geprüft werden, ob die Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Entgegen der Auffassung des LSG hat die Beklagte mit den von ihr für die Erhebung der Verjährungseinrede vorgebrachten Gründen den ihr eingeräumten Ermessensspielraum nicht überschritten.

Wie der Große Senat in seinem Beschluß vom 21. Dezember 1971 (vgl. aaO S. 27, 28) ausgeführt hat, entspricht es dem Zweck der Verjährung von Rentenansprüchen, den Versicherungsträger davor zu bewahren, daß er für eine praktisch unbegrenzte Zeit noch mit verspäteten Anmeldungen rechnen muß. Die Verjährungsvorschrift soll ihm die Möglichkeit geben, sich in seiner Haushaltsgebarung darauf einzurichten, daß Nachzahlungen grundsätzlich nicht für einen längeren Zeitraum als vier Jahre geleistet werden müssen. Es ist daher mit dem Zweck der Verjährung durchaus zu vereinbaren, wenn sich die Beklagte auch bei zweifelsfrei bestehenden Ansprüchen - wie hier geschehen - auf das Finanzierungsverfahren der Rentenversicherung und ihre finanzielle Belastung bei Erfüllung von verjährten Ansprüchen beruft. Der Auffassung des LSG, der Zweck der Verjährungsvorschriften erschöpfe sich im wesentlichen darin, die Versicherungsträger vor unbegründeten Ansprüchen zu schützen, kann daher nicht gefolgt werden. Es ist auch nicht ersichtlich, inwiefern - wie die Klägerin meint - eine derartige und für die Ermessensentscheidung der Beklagten maßgebende Beschränkung der Verjährungseinrede aus der Sozialstaatsklausel des Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) abgeleitet werden kann. Vielmehr entspricht es dem Sozialstaatsprinzip, wenn der Berechtigte seinen Anspruch innerhalb der sehr geräumigen Verjährungsfrist von vier Jahren ohne Rechtsverlust geltend machen kann. Er wird - worauf bereits im Beschluß des Großen Senats aaO S. 28 hingewiesen wird - jedenfalls nicht dadurch unangemessen benachteiligt, daß die Verjährungseinrede eine Renten nach Zahlung für einen Zeitraum von mehr als vier Jahren verhindert. Dies gilt um so mehr, als das in Art. 20 Abs. 1 GG verankerte Sozialstaatsprinzip nicht ausschließt, daß der Versicherungsträger bei der Erhebung der Verjährungseinrede auch die Interessen der Versichertengemeinschaft berücksichtigt.

Die Berufung der Beklagten auf die nach dem Beschluß des Großen Senats aaO dem Zweck der Verjährung entsprechenden Gründe wäre nur dann ermessensfehlerhaft, wenn andere, vorrangige Sachverhalte zu berücksichtigen wären. Dafür sind indes keine Anhaltspunkte gegeben. Auch wenn die Klägerin vor der Antragstellung im September 1967 keine Kenntnis von dem Bestehen des Anspruchs hatte, macht dieser Umstand die Erhebung der Verjährungseinrede nicht zu einer fehlerhaften Ermessensentscheidung der Beklagten. Nach dem Beschluß des Großen Senats aaO (S. 29) ist es nach der geltenden Rechtsordnung gerade ein typischer Fall für eine möglicherweise eintretende Verjährung, wenn dem Berechtigten nicht einmal bewußt ist, daß ihm ein Anspruch zusteht. Danach ist es sogar ein fundamentaler Grundsatz des Verjährungsrechts, daß eine solche Unkenntnis bei der Verjährung in der Regel unbeachtet bleiben muß.

Ein anderes Ergebnis ist auch nicht unter Berücksichtigung des Auslandsaufenthaltes der Klägerin geboten. Es mag zutreffen, daß das im Bundesgebiet geltende Sozialversicherungsrecht von den im Ausland lebenden Berechtigten nicht hinreichend überblickt werden kann. Das muß aber - worauf bereits der Große Senat aaO (S. 30) hinweist - nicht zur Folge haben, daß der Berechtigte jahrelang untätig bleibt. Vielmehr ist ihm zuzumuten, daß er sich auch selbst um die ihm zustehenden Ansprüche kümmert. So hätte die Klägerin auch von ihrem Wohnsitz in Argentinien aus den zuständigen Versicherungsträger direkt um Auskunft bitten oder bei der amtlichen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Argentinien vorsorglich einen Antrag stellen können, der sodann an den zuständigen Versicherungsträger weiterzuleiten gewesen wäre. Der Einwand der Klägerin, sie sei auf die Auskünfte der im Sozialversicherungsrecht nicht hinreichend unterrichteten Botschafts- und Konsularbeamten angewiesen gewesen, kann daher einen Ermessensfehlgebrauch der Beklagten ebenfalls nicht begründen. Jedenfalls würde es nach der Entscheidung des Großen Senats aaO (S. 32) dem gesetzgeberischen Zweck der Verjährung widersprechen, wenn man alle die Nachteile, die durch ein jahrelanges Untätigsein des Versicherten entstehen, einseitig dem Versicherungsträger auch dann aufbürden wollte, wenn dieser - wie hier - die Untätigkeit nicht zu vertreten hat.

Die von der Beklagten im Widerspruchsbescheid und im Berufungsverfahren vorgebrachten Gründe bewegen sich somit innerhalb des der Beklagten bei der getroffenen Entscheidung zustehenden Ermessensspielraums. Weitere Umstände, welche die Verjährungseinrede der Beklagten ermessensfehlerhaft erscheinen ließen, sind nicht ersichtlich. Entgegen der Auffassung des LSG ist kein Grund vorhanden, den Rentenbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheids teilweise aufzuheben. Das angefochtene Urteil war deshalb aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670414

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