Entscheidungsstichwort (Thema)
Antrag auf Nachentrichtung
Leitsatz (amtlich)
1. Auch Versicherte, die ihren Wohnsitz im Ausland haben, dürfen bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit oder der Erwerbsunfähigkeit nicht auf Tätigkeiten für Teilzeitarbeit verwiesen werden, wenn ihnen für diese Tätigkeiten der Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik Deutschland (einschließlich West-Berlin) praktisch verschlossen ist.
2. Den im Ausland lebenden Versicherten ist der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen, wenn ihnen weder der Rentenversicherungsträger noch ein ArbA im Bundesgebiet innerhalb eines Jahres seit Stellung des Rentenantrages einen für sie in Betracht kommenden Arbeitsplatz anbieten kann (Bestätigung von BSG 1975-03-18 4 RJ 51/74 = SozR 2200 § 1246 Nr 6, Anschluß an und Fortführung von BSG 1976-12-10 GS 2/75, 3/75, 4/75, 3/76).
Leitsatz (redaktionell)
1. Der tatsächlichen Beitragsnachentrichtung iS des WGSVGÄndG Art 4 § 2 steht in entsprechender Anwendung des AVG § 142 Abs 1 Nr 2 der Antrag auf Nachentrichtung oder die Bereiterklärung zur Nachentrichtung gleich, wenn die Beiträge innerhalb "angemessener Frist" entrichtet werden.
2. Für die Prüfung, ob der Arbeits. markt für einen Versicherten (mit Wohnsitz im Ausland) praktisch offen oder verschlossen ist, kann ein Arbeitsamtsbezirk zugrundegelegt werden, der für die Situation auf dem Teilzeitarbeitsmarkt des Bundesgebietes typisch ist.
Normenkette
AVG § 23 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 24 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23; WGSVGÄndG Art. 4 § 2 Abs. 2 Fassung: 1970-12-22; AVG § 142 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1420 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 10. Februar 1976 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit oder wegen Erwerbsunfähigkeit zusteht (§§ 23, 24 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -).
Die im Jahre 1917 geborene Klägerin gehört zum Personenkreis der politisch und rassisch Verfolgten des Nationalsozialismus. Sie hatte von April 1932 bis April 1937 Beiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet, die ihr aus Anlaß ihrer Eheschließung im August 1937 erstattet wurden. Im selben Jahre wanderte sie verfolgungsbedingt nach Palästina/Israel aus, wo sie auch jetzt noch lebt.
Die Klägerin beantragte im Mai 1972 bei der Beklagten, ihr die Nachentrichtung von Beiträgen nach den Bestimmungen des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) zu gestatten; zugleich begehrte sie die Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit. Mit Bescheid vom 1. März 1973 teilte die Beklagte der Klägerin mit, sie sei berechtigt, Beiträge nachzuentrichten. Daraufhin überwies die Klägerin im April 1973 Geldbeträge für insgesamt 49 Monatsbeiträge (Mai 1933 bis April 1937 und März 1954). Zu ihrem beruflichen Werdegang gab sie an, sie habe von 1932 bis 1935 eine kaufmännische Berufsschule besucht. Von 1932 bis 1934 habe sie den Beruf einer Kontoristin erlernt und anschließend bis 1937 als Kassiererin gearbeitet. Die Beklagte lehnte sodann aufgrund des Ergebnisses der veranlaßten ärztlichen Untersuchung den Rentenantrag ab (Bescheid vom 21. März 1974).
Auf die hiergegen erhobene Klage verpflichtete das Sozialgericht (SG) die Beklagte, Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Juni 1972 zu gewähren (Urteil vom 29. September 1975). Das Landessozialgericht (LSG) gab der Berufung der Beklagten im wesentlichen mit folgender Begründung statt: Die versicherungspflichtigen Voraussetzungen des § 23 Abs. 3 AVG (Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten) seien für die Berufsunfähigkeitsrente seit April 1973 erfüllt, da in diesem Monat die für die Erfüllung der Wartezeit erforderlichen Beiträge nachentrichtet worden seien. Eine Rente könnte allerdings frühestens am 1. Mai 1973 beginnen. Nach den vorliegenden medizinischen Sachverständigengutachten und dem von der Klägerin vorgelegten Attest ihres behandelnden Arztes sei die Klägerin noch imstande, 6 Stunden täglich in ihrem bisherigen Beruf als Kontoristin zu arbeiten. Der Teilzeitarbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland, der auch für die im Ausland wohnende Klägerin allein maßgeblich sei (Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 18.3.1975 - 4 RJ 51/74), sei für Kontoristinnen nicht als verschlossen im Sinne der Beschlüsse des Großen Senats (GS) in BSGE 30, 167 ff, 192 ff anzusehen. Insoweit sei die Feststellung der Bundesanstalt für Arbeit (BA) in der von der Beklagten vorgelegten Auskunft vom 2. Juli 1975 überzeugend, daß die Zahl der Schreib-, Bürofachkräfte und Buchhalterinnen als so groß angenommen werden müsse, daß das Verhältnis von Arbeitsplätzen zu Interessenten günstiger als 75 : 100 sei. Da die Klägerin demnach nicht einmal berufsunfähig sei, stehe ihr auch kein Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu (Urteil vom 10. Februar 1976).
Die Klägerin hat die mit Beschluß des Senats vom 2. Juni 1976 zugelassene Revision eingelegt. Sie beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Berlin vom 29. September 1975 zurückzuweisen; hilfsweise beantragt sie, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist statthaft, weil sie der erkennende Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) zugelassen hat. Gegen die Zulässigkeit der Revision bestehen auch im Hinblick auf die Formvorschrift des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG keine Bedenken, obgleich die Klägerin in ihrer Revisionsbegründung die nach ihrer Auffassung verletzte materielle Rechtsnorm nicht ausdrücklich bezeichnet hat. Jedenfalls insoweit genügt es, daß in der Revisionsbegründung auf das Vorbringen in der Nichtzulassungsbeschwerde Bezug genommen worden ist (ebenso BSG-Urteil vom 24.8.1976 - 8 RU 152/75; vgl. auch BSG-Urteil vom 27.8.1976 - 5 RJ 70/76).
Die sonach formgerecht eingelegte Revision ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht auch begründet.
Das LSG hat seiner Entscheidung, daß die Klägerin weder berufsunfähig (§ 23 Abs. 2 AVG) noch erwerbsunfähig (§ 24 Abs. 2 AVG) sei, die Beschlüsse des GS des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 1969 (BSGE 30, 167 ff, 192 ff) zugrunde gelegt, wonach der noch halbschichtig als Kontoristin einsetzbaren Klägerin der Arbeitsmarkt erst dann praktisch verschlossen sei, wenn im gesamten Bundesgebiet das Verhältnis der vorhandenen, für sie in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger ist als 75 : 100. Diese für die Entscheidung des LSG maßgebliche Rechtsauffassung hat indes der GS des BSG in seinem neuen Beschluß vom 10. Dezember 1976 (Az.: GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75, GS 3/76) aufgegeben. Danach darf ein Versicherter in der Regel nur auf Teilzeitarbeitsplätze verwiesen werden, die er täglich von seiner Wohnung aus erreichen kann. Der Arbeitsmarkt ist ihm praktisch verschlossen, wenn ihm ein derartiger Arbeitsplatz weder vom Rentenversicherungsträger noch vom zuständigen Arbeitsamt innerhalb eines Jahres seit Stellung des Rentenantrags angeboten werden kann.
Dieser vom GS angenommene Regelfall bedarf allerdings bei der im Ausland lebenden Klägerin schon deswegen einer Modifizierung, weil für sie eine Wohnung und ein zuständiges Arbeitsamt in der Bundesrepublik entfällt. Der GS hat im Beschluß vom 10. Dezember 1976 aaO die Beschränkung der Verweisung auf täglich vom Wohnort des Versicherten aus erreichbare Teilzeitarbeitsplätze damit begründet, daß einem in der Leistungsfähigkeit eingeschränkten Versicherten angesichts der bloßen Möglichkeit, nur einen Teillohn verdienen zu können, ein Umzug in der Regel nicht zuzumuten sei und die mit einem Wechsel des Wohnorts verbundenen Erschwernisse und Nachteile infolge der Aufgabe seiner persönlichen Bindungen für ihn zu schwerwiegend seien. Für derartige Zumutbarkeitsgründe bleibt indes bei Versicherten, die ihren Wohnsitz im Ausland haben, kein Raum, weil sie einerseits keinen örtlichen Bezugspunkt im Bundesgebiet mehr haben, andererseits aber für sie bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit oder der Erwerbsunfähigkeit in jedem Fall die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik Deutschland allein rechtserheblich sind und insoweit auch Verfolgten im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes - wie der Klägerin - keine Ausnahmestellung eingeräumt ist (vgl. hierzu eingehend BSG-Urteil vom 18.3.1975 in SozR 2200 § 1246 Nr. 6).
Die vom GS für die Beurteilung der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit bei eingeschränktem Leistungsvermögen aufgestellten Grundsätze sind demnach auf die im Ausland wohnenden Versicherten sinngemäß dahin anzuwenden, daß für sie der Teilzeitarbeitsmarkt praktisch verschlossen ist, wenn ihnen weder vom Rentenversicherungsträger noch von einem Arbeitsamt im gesamten Bundesgebiet ein für sie geeigneter Arbeitsplatz binnen Jahresfrist seit der Antragstellung hätte angeboten werden können, wenn sie im Bundesgebiet ihren Wohnsitz hätten. Aus Gründen der Praktikabilität hat der Senat allerdings keine Bedenken, wenn das LSG bei dieser im Falle der Klägerin gebotenen Prüfung unter Einschaltung der Bundesanstalt einen Arbeitsamtsbezirk zugrunde legt, der für die Situation auf dem Teilzeitarbeitsmarkt im Bundesgebiet typisch ist, also in etwa durchschnittlichen Verhältnissen entspricht.
Da die sonach für die Frage der Berufsunfähigkeit und der Erwerbsunfähigkeit der Klägerin rechtserheblichen Feststellungen fehlen und vom LSG noch zu treffen sind, kann der Senat nicht in der Sache selbst entscheiden. Das angefochtene Urteil muß deswegen aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Bei seiner neuen Entscheidung wird das LSG noch zu beachten haben, daß - wie die Revision zutreffend rügt - die Annahme des LSG, im Hinblick auf die erst im April 1973 erfolgte Beitragsnachentrichtung könne eine Rente frühestens vom 1. Mai 1973 an gezahlt werden, mit der vom erkennenden Senat in den Urteilen vom 6. Februar 1975 (SozR 5070 § 8 Nr. 1) und 1. Oktober 1975 (Az.: 1 RA 7/75) vertretenen Rechtsauffassung nicht im Einklang steht. Danach ist zwar eine Rente, die - wie hier - auf einer Beitragsnachentrichtung gemäß § 8 WGSVG beruht, frühestens vom Ersten des Monats an zu zahlen, der auf die Beitragsnachentrichtung folgt (Art. 4 § 2 Abs. 2 WGSVG). Wie der Senat in der genannten Entscheidung bereits ausgeführt hat, steht dabei indes die Bereiterklärung der tatsächlichen Beitragsnachentrichtung gleich, wenn die Beiträge innerhalb "angemessener Frist" entrichtet werden. Insoweit hat der Senat die entsprechende Anwendung des in § 142 Abs. 1 Nr. 2 AVG zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens aus Billigkeitsgründen für geboten gehalten und dabei insbesondere den Umstand berücksichtigt, daß anderenfalls der Beginn der Rente von der Entscheidung des Versicherungsträgers über die Nachentrichtungsberechtigung abhängig wäre, auf deren alsbaldigen Erlaß der Antragsteller aber keine hinreichenden Einwirkungsmöglichkeiten hat. Eine Beitragsentrichtung binnen angemessener Frist ist hier zu bejahen, weil die Beklagte nach der bereits mit der Rentenantragstellung im Mai 1972 verbundenen Bereiterklärung zur Beitragsnachentrichtung der Klägerin erst im März 1973 mitteilte, in welchem Umfang sie - die Klägerin - berechtigt sei, Beiträge zur Rentenversicherung der Angestellten nachzuentrichten.
Die Entscheidung über die außergerichtliche Kostenerstattung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 1649982 |
BSGE, 20 |